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Daniel Kehlmann wird 50: Über sein Vorbild Thomas Mann
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Vor 20 Jahren, 2005, erschien sein weltweiter Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt". Wir gratulieren und hören, was ihm Thomas Mann bedeutet - der in diesem Jahr ebenfalls einen runden Geburtstag hat: den 150. am 6. Juni.
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Was für ein Leben. Emilie Rouanet kommt am 14. November 1824 im brandenburgischen Beeskow nach einer leidenschaftlichen Affäre ihrer Mutter als deren sechstes Kind zur Welt. Sie wird zu einem Onkel, später zur Adoption freigegeben. Vierzehn trostlose Jahre vergehen, bis der Stiefvater in Berlin 1838 Berta Kinne heiratet, die dem Mädchen verständnisvoll zugewandt ist und ihr liebevoll die Mutter ersetzt, ein Leben lang. Erste Begegnung Emilies mit Theodor Fontane in Berlin Im Haus nebenan wohnt der junge Theodor Fontane bei Onkel und Tante. Das erste Mal begegnen sie sich, als Emilie elf, Theodor 15 ist. Ernst aber wird es erst neun Jahre später, als sie sich wiedersehen. Die Verlobung folgt bald, heiraten aber können sie erst 1850, als Fontane endlich ein festes, wenn auch geringes Einkommen hat. Emilie schenkt sieben Kindern das Leben, drei sterben schnell, Sohn George mit 36 an einer Blinddarmentzündung. Vierundfünfzig herzlich zugewandte Jahre lebt und arbeitet die Frau an der Seite Theodor Fontanes. Gotthard Erler, inzwischen 91, der seit vielen Jahrzehnten Leben und Werk des Dichters ergründet und ediert, ist fasziniert von Emilie. Ein Leben als Dichterfrau in ärmlichen Verhältnissen Aus so miesen Verhältnissen stammend wird sie die Frau eines Dichters, der kein Geld verdient, sie hat eine Schwangerschaft nach der anderen, sie haben nie Geld, nur, was er erschreibt, kann man verbrauchen, und sie hat wirklich ein schweres Leben gehabt. Das hat mich fasziniert, dass sie daraus was gemacht hat, mit einer tiefen Zuneigung zu diesem Theodor Fontane verbunden gewesen ist und bei alledem immer wieder die Feder in die Hand genommen hat und immer wieder etwas aufgeschrieben hat. Quelle: Gotthard Erler Hauptsächlich sind es Briefe. 3 bis 4000, schätzt Gotthard Erler. Die meisten davon sind unbekannt, 500 aber hat er gelesen, einige davon bereits im Ehebriefwechsel veröffentlicht und nun 150 ausgewählt und zusammen mit Christine Hehle herausgegeben: Eine Offenbarung. Lernt doch der Leser dieser Briefe eine wahrlich beeindruckende Frau kennen. Sie schreibt sechs Jahrzehnte lang Stiefmutter, Mann und Kindern, Freunden und Bekannten und berichtet über ihr Leben in Berlin oder London, über Sommeraufenthalte in Schlesien oder Reisen nach Karlsbad oder Kissingen. Immer sitzt zwischen ihren couragierten, wohlformulierten Zeilen auch Sorge über die stets prekären Verhältnisse der Familie. Besonders der innig geliebten Stiefmutter Berta vertraut sie ihre Not an, wie am 19. April 1860. Alles trägt sich doch leichter meine Herzensmama, als beständige Nahrungssorgen, zu denen ich bestimmt zu sein scheine; oft wird es mir recht schwer dieselben zu ertragen. Quelle: Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so Geldnöte haben die Fontanes immer – selbst in der wohl produktivsten Phase des Dichters zwischen dessen sechzigstem und siebzigstem Lebensjahr, in der er an „Effi Briest“ oder „Der Stechlin“ arbeitet. Aber nicht nur er allein ist so fleißig. Kopistin und Gesprächspartnerin: eine Frau auf Augenhöhe für den Dichter Sie sei nur noch „Abschreibe-Maschine“, berichtet Emilie einmal ihrem Sohn Theodor. Denn praktisch alles, was Fontane zu Papier bringt, geht sprichwörtlich durch ihre Hände. Nicht nur jetzt, sondern ein ganzes Dichterleben lang. Gut vierzig Bände, tausende dicht beschriebene Blätter voller Korrekturen und Bemerkungen überträgt sie mit kratzenden Federn und schlechter Tinte am Küchentisch unter einer Lichtfunzel. Und greift auch mal inhaltlich ein, wie beim Roman „Graf Petöfy“, zu dem sie am 14.Juni 1883 im Brief an ihren Mann über Figuren und Handlung Stellung nimmt. F. u. E. können doch nicht gleich in Liebe verfallen? Er wirkt außerdem schemenhaft, man würde nicht begreifen, dass er kam, sah u. siegte. Der Schluss des Kapitel’s, wo er seine Stellung zu ihr in Erwägung zieht [ist] doch fast zu zurecht gemacht u. grußlich. Quelle: Gotthard Erler, Christine Hehle (Hg.), Emilie Fontane. Dichterfrauen sind immer so Emilie Fontane war, so legt es diese wunderbare Autobiografie in Briefen nahe, eine Partnerin auf Augenhöhe, eine Frau, die zaghaft lektorierte, frisch und frei berichtete, couragiert austeilte, bildhaft reportierte. Die Ehe- und Dichterfrau war Kopistin und Vorleserin, Gesprächspartnerin, Mutter und Netzwerkerin: rundum potent und patent. Mir fiel irgendwann mal ein, ob sie nicht in gewisser Weise dem Frauenbild vom alten Dubslav von Stechlin entspricht: „Eine Dame und ein Frauenzimmer, so müssen Weiber sein.“ Das ist Emilie! Quelle: Gotthard Erler…
Bettina Stangneth hat ein Buch über das Lesen und die Welt der Bücher geschrieben. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe. Zum Beispiel habe ich nicht herausfinden können, warum und vor allem für wen die Hamburger Philosophin ihren Buchessay eigentlich geschrieben hat. Aber so viel immerhin ist mir durch die Lektüre klargeworden, ein Grund zur Scham ist mein Versagen vor diesem Text nicht: Denn in Sachen Bücher sind wir laut Bettina Stangneth allesamt Dilettanten. Die Vorstellung, das Werk eines Autors „richtig“ zu verstehen, sei eher ein Phantasma aus dem Deutschunterricht, und was immer wir beim Lesen aus einem Buch machen, sei uns überlassen. Und zwar auch und gerade, wenn es um „Club der Dilettanten“ geht, wie Bettina Stangneth ihr neues Buch betitelt. Dieses Buch wurde als philosophisches Buch über das Buch geschrieben. Aber was es wirklich ist und noch alles werden kann, liegt nie im Ermessen der Verfasser. Es liegt ganz bei Ihnen, dem Leser. Quelle: Bettina Stangneth – Club der Dilettanten Lesen als Wiederbelebung Warum das so ist, warum alle Macht über die Bedeutung eines Buchs letztlich bei den Leserinnen und Lesern liegt, darüber entwickelt Bettina Stangneth mit Hilfe verschiedener Metaphern eine Art Theorie schriftlicher Kommunikation. Demnach gießt, wer schreibt, seine Gedanken in Schriftzeichen, ein Vorgang, der zwangsläufig mit Welt- und Komplexitätsverlust einhergeht. Etwas makaber vergleicht Stangneth einen Text mit einem „Skelett“ – das während der Lektüre wieder zurück zum Leben erweckt werde. Mit der Pointe freilich, dass das, was nach dem Lesen – hoffentlich – wieder atmet, ein anderes Lebewesen ist als das, welches vom Verfasser zu Grabe getragen wurde. Schließlich hat jeder seine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen, mit denen er das Text-Skelett wieder ausstattet. Damit der Vorgang nicht ganz aus dem Ruder läuft, gibt es immerhin so etwas wie eine anthropologische Brücke, nämlich unser gemeinsames Mensch- und In-der-Welt-Sein. Eine Brücke, die uns, wenn es sein muss, auch zuverlässig über die Jahrhunderte hinwegträgt, weiß Bettina Stangneth – auch wenn Romane aus früheren Epochen für uns heute meist nur noch von historischem Interesse seien, während noch so alte Sachtexte unvermutetes Licht auf aktuelle Probleme werfen können. Kann man ein Buch überhaupt falsch verstehen? Letzteres mag im Einzelfall so sein, ist aber doch wohl kaum verallgemeinerbar. Überhaupt werfen Stangneths ambitionierte Reflexionen über das Schreiben und Bücherlesen so einige Fragen auf: Wenn es kein richtiges Textverstehen gibt, gibt es also folglich auch kein falsches? Warum bezeichnet die Autorin das Lesen dann an anderer Stelle als „Rekonstruktionsprozess“ oder bezeichnet das Schreiben als Fotografieren von Gedanken? Und was, wenn, um das Bild der Autorin aufzugreifen, am Ende nur ein Zombie aus dem Grab steigt – man also anders gesagt beim Lesen nur Bahnhof versteht? Das ist kein Grund zur Besorgnis. Jeder erlebt das früher oder später. Aber Sie können ziemlich sicher sein, dass es mit den Seiten leichter wird, wenn Sie sich bewusst machen, dass es immer der Leser ist, der das Ding in Ihren Händen überhaupt zum Buch macht. Quelle: Bettina Stangneth – Club der Dilettanten Machen wir uns also unseren eigenen Reim auf das Ganze: Ähnlich wie Kant einst seine Zeitgenossen ermutigte, sich ihres Verstandes zu bedienen, geht es der ausgewiesenen Kant-Expertin Bettina Stangneth darum, ihre Leserschaft zu bestärken, keine Angst vor anspruchsvollen Büchern zu haben. Und sich von keinen Deutschlehrern oder Tugendwächtern vorschreiben zu lassen, was sie zu lesen hätten und was besser nicht. Am besten, so der Ratschlag der Autorin, man liest einen Text einfach so, als hätte man ihn selbst geschrieben und schaut dann, ob etwas Sinnvolles dabei herauskommt. Ein Rat, der, fürchte ich, zumindest bei einem Text von Kant rasch an seine Grenzen stoßen dürfte. Davon abgesehen stellt sich die Frage: Wer so anspruchsvolle Bücher liest wie jenes der Hamburger Philosophin – braucht der wirklich noch Ratschläge oder Ermutigungen, wie man die Welt der Bücher für sich entdeckt?…
Ein schrecklicher Skandal droht: Eine menschliche Rippe wird in einer Skulptur der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman entdeckt. Ist es möglicherweise ein Knochen ihres verschwundenen untreuen Ehemannes, dessen Leiche nie gefunden wurde? Kurator James Becker ist sich sicher: Das kann nicht sein. Deshalb reist er auf die verlassene Insel Eris an der schottischen Küste, auf der Vanessa einst gelebt hat. Dort wohnt die einzige Frau, die die Wahrheit kennt: Vanessas Nachlassverwalterin und enge Freundin Grace Haswell. Die fiktive sturmumtoste Insel Eris ist der Haupthandlungsort von „Die blaue Stunde“, dem neuen Roman der Beststeller-Autorin Paula Hawkins. Der Titel bezieht sich auf die Zeit der Dämmerung. Wem ist hier zu trauen? Das Licht wird schwächer, Schatten sammeln und verdichten sich. Marguerite kennt dafür eine besondere Redewendung: l’heure entre chien et loup, die Stunde zwischen Hund und Wolf. Es ist die Zeit, in der die Dinge anders erscheinen können als sie sind, in der etwas Gutes bedrohlich wirken oder ein Feind in der Gestalt eines Freundes daherkommen kann. Quelle: Paula Hawkins – Die blaue Stunde Etwas, das harmlos sein kann, entpuppt sich als gefährlich – oder etwas Gefährliches ist doch ganz harmlos. Das beschreibt das angestrebte Erzählverfahren: Die beiden personalen Erzählstimmen gehören zu James und Grace. Beide sind verdächtig, verschweigen Dinge, wissen nicht, wem und ob sie einander vertrauen können. Dazu kommen E-Mails, Zeitungsausschnitte und Tagebucheinträge von Vanessa. Ihr künstlerisches Ringen, ihr Kampf um Beachtung, die Frauenverachtung in der Kunstwelt der 1990er Jahre wird so anschaulich gemacht. In ihren Tagebüchern schreibt sie andauernd über Freiheit; auch in Interviews kommt sie häufig darauf zu sprechen. Ihre Freiheit scheint ihr über alles gegangen zu sein, sogar über Liebe, Freundschaft oder nette Gesellschaft. Becker fragt sich, wie weit sie wohl gegangen wäre, um wirkliche Freiheit zu erlangen. Quelle: Paula Hawkins – Die blaue Stunde Ein Künstlerinnenroman – mit einer Toten im Mittelpunkt Noch nach ihrem Tod – sie starb an Krebs – steht Vanessa im Mittelpunkt: Zu Lebzeiten wollten die Menschen um sie herum Beachtung, Geld, Liebe oder Sex. Posthum ringen insbesondere James und Grace um die Deutungshoheit über sie und ihr Werk. Er will sich als Vanessa-Chapman-Experte etablieren. Und Grace hält ein Teil des Vermächtnisses zurück. Sie will Vanessa nicht loslassen und kontrollieren, was öffentlich wird. Insbesondere in den ersten zwei Dritteln des Romans zeigt sich Paula Hawkins‘ erzählerische Stärke: Mit jeder neuen Information verändert sich das Bild von dem Geschehen und den Figuren. Vor allem die rätselhafte Beziehung zwischen Vanessa und Grace treibt die Spannung voran. Doch obwohl am Ende einiges offen bleibt, erklärt die Autorin letztlich zu viel. Moralisch nicht einwandfrei handelnde Frauen Schon in „Girl on the train“ hat Paula Hawkins über widersprüchliche Frauen geschrieben. Das begründete damals teilweise den Erfolg des Buchs – zusammen mit ihrer US-Kollegin Gillian Flynn entfachte sie einen neuen Boom psychologischer Spannungsliteratur. Seither hat nicht nur Hawkins wiederholt darauf hingewiesen, dass bereits vor ihr insbesondere Autorinnen über komplexe, möglicherweise verbrecherische Frauen geschrieben haben. In „Die blaue Stunde“ referenziert sie nun mehrfach Daphne Du Maurier. Die Geschichte eines betrügerischen Ehepartners, der verschwand und möglicherweise im Meer ertrunken ist, erinnert, wie auch die einsame Lage des Hauses, an „Rebecca“. Dieser Roman sowie weitere Kurzgeschichten Du Mauriers werden sogar namentlich genannt. Diese Verweise dokumentieren aber auch die größte Schwäche dieses unterhaltsamen, gut zu lesenden Romans: Wer beispielsweise Du Maurier gelesen hat, weiß von Anfang an, wem hier am wenigsten zu trauen ist. Bei aller psychologischen Komplexität insbesondere ihrer weiblichen Figuren geht Paula Hawkins nicht dorthin, wo zu den üblichen Verletzungen und Demütigungen noch etwas hinzukommen könnte. Etwas, das man noch nicht vielfach gelesen hätte. Und so verpasst der solide Spannungsroman die Gelegenheit, der großen jahrhundertelangen Erzählung von zwielichtigen Frauen etwas hinzuzufügen.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Jonas Lüscher schreibt in „Verzauberte Vorbestimmung“ über das angespannte Verhältnis von Mensch und Maschine 7:02
Der Einstieg in den Roman ist ein literarisches Versprechen, das im Laufe des Textes aber nicht eingelöst wird. Die Geschichte beginnt im Ersten Weltkrieg. Ein junger Mann sieht für sich keine Zukunft mehr im südalgerischen Heimatdorf. Also lässt er sich von der französischen Armee anwerben, um gegen die Deutschen zu kämpfen, über die der Rekrutierungsoffizier sagt, der Feind sei ein „Volk von Unholden“, (…) (…) regiert von einem zwirbelbärtigen, einfältigen Kaiser, brutal, gemein, aber gleichzeitig hasenfüßig, also kein Gegner, vor dem man sich zu fürchten brauche, weshalb auch nur mit einem kurzen Krieg zu rechnen sei und er davon ausgehen könne, spätestens zum Ende des Jahres wieder heimzukehren, als Held mit Orden auf der Brust und Sold in der Tasche. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Einsatz in Frankreich Der Algerier lässt sich auf das zweifelhafte Angebot ein und wird vor dem Einsatz an der Front „für ein paar Wochen in der Kunst des Schießens“ unterrichtet. Aber er hat, was seine Zeit nach dem Krieg betrifft, etwas anderes im Sinn. Orden interessieren ihn nicht, er möchte sein „Glück in Paris versuchen“. Da der Offizier dem Rekruten verspricht, auch das „sei möglich“, landet der Fünfundzwanzigjährige schon kurze Zeit später, nämlich im August 1914, in Frankreich und zieht mit fremden Kameraden in einen Krieg, der nicht der seine ist. Mit dem Zug brachte man sie nach Norden, über Avignon nach Anor an der belgischen Grenze. Von da an mussten sie marschieren, sechzig Kilometer kamen sie weit, bis kurz vor Charleroi, wo das Schlachten und Morden begann. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Soldat, der seinen Eid bricht Dem zunächst namenlose Soldaten würde man in Lüschers Roman „Verzauberte Vorstimmung“ gerne weiter folgen, zumal er seinen Eid bricht, sich an die Vorbestimmung, als Kanonenfutter zu enden, nicht halten will, sondern auf nahezu märchenhafte Weise die eigene Zukunft in die Hand nimmt. Sein Geist sagte: kämpfen, rennen, laufen, flüchten. Sein Leib war ein einziges Zittern. Dann ein einzelner klarer Gedanke: Nicht mit ihm. Nicht Teil dieser Maschinerie sein. Nicht mehr rennen, nicht mehr feuern, nicht mehr töten, nicht mehr kämpfen. Einer musste damit aufhören. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte Die Fahnenflucht scheint gelungen zu sein, die genauen Umstände erfahren wir nicht. Von kriegsbedingen Lungenschäden gequält, wird der ruhmlose Held nach dem Krieg in Frankreich eine Anstellung als Briefträger erhalten. Eine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Geschichte, die teilweise wohl auf wahren Begebenheiten beruht und deren Fiktionalisierung nun erst richtig beginnen könnte! Lüscher aber entscheidet sich, diese Neugier nicht zu befriedigen. Eine differenziertere Figurenpsychologie, die Fortführung dieser Geschichte scheint den Autor kaum zu interessieren. Stattdessen führt er sich als Ich-Erzähler ein, der nach einer schweren Covid-Infektion selbst mit gravierenden Atemproblemen zu kämpfen hat und der sich trotzdem auf strapaziöse Recherchereisen begibt. Ich war ein schlechter Reisender geworden, unsicher, gereizt, verletzlich. In nervöser Erwartung, die Mitreisenden könnten sich einer hygienischen Verfehlung schuldig machen, suchte ich nach freigelegten Nasen, nach unter dem Kinn hängen Masken. Die Essenden strafte ich mit strengen Blicken. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Literarisches Spiegelkabinett Lüschers Spurensuche, die mal Züge einer essayhaften Reportage trägt und mal mit Mitteln der historischen Fiktion arbeitet, führt durch unterschiedlichste Epochen und zu den verschiedensten Schauplätzen. Ein literarisches Spiegelkabinett mit vielen Sackgassen und verwirrenden Verfremdungseffekten. Oft gibt es nur lose Verbindungen von einer Erzählinsel zur nächsten; am späteren Arbeitsort des lungenkranken Briefträgers hat beispielsweise auch der Schriftsteller und Maler Peter Weiss gelebt. „Die Maschinen greifen die Menschen an“ – so heißt eines seiner Gemälde, was den Erzähler ins böhmische Varnsdorf führt, was die Leserinnen und Leser kurzerhand in die Zeit der Weberaufstände katapultiert: So wird von einem fleißigen Handwerker berichtet, der zu seinem Ärger durch einen automatisierten Webstuhl ersetzt werden soll. Erzählstränge von Metareflexionen unterbrochen Der Weber raubt einen Hammer und zertrümmert die bedrohliche Maschine. Eine dramatische Szene, die aber keineswegs linear erzählt wird. Immer wenn es interessant werden könnte, sind wir bei Lüscher schon in einem neuen Setting. Als wäre das nicht komplex genug, werden die verschiedenen Erzählstränge regelmäßig von sprachlichen Metareflexionen unterbrochen – da klingt dann ein aufgebrachter Weber aus dem 19. Jahrhundert auch mal wie ein in Erzähltheorie geschulter Romancier der Gegenwart. Aber was war eigentlich sein Punkt? So genau wusste er das auch nicht, war doch der Sinn seines Erzählens weniger der, seinen Kindern und seiner Frau etwas klarzumachen, ihnen irgendein Faktum einzubläuen oder ihnen ein so ist recht und so ist falsch und so und so sollst du handeln vorzukauen. Eigentlich, so musste er sich eingestehen, erzählte er, um selbst zu verstehen, oder besser noch, um sein eigenes Nachdenken zu formen. Quelle: Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung Ja, was ist eigentlich der Punkt bzw. worin besteht der inhaltliche und sprachliche Kern dieses Romans, der in so viele Einzelteile zerfällt? Es geht zweifelsohne um das Verhältnis von Mensch und Maschine; es werden politische, technische und ökonomische Zwangläufigkeiten geschildert, die zumindest im Roman außer Kraft gesetzt werden. Menschliche Träume oder Wahnsinn virtueller Maschinen? Lüscher gibt den Sprachzauberer, wirbelt mit Erzählperspektiven, mit recherchiertem und erfundenem Material herum. Doch der Erkenntnisgewinn ist gering, die Ästhetik wirkt vor allem: überambitioniert. Paradoxerweise ist das Werk, das auch ein Lehrstück über die Gegenwart sein soll, über alle Epochen und Szenen hinweg in einer antiquierten, betont elaborierten Sprache gehalten. Am Ende reisen wir mit dem Ich-Erzähler durch die noch im Bau befindliche neue Verwaltungshauptstadt Ägyptens. In der Wüste vor den Toren Kairos stehen bereits leere Hotels und eine Oper, in der seit der Eröffnung keine Musik mehr erklungen ist. Eine unwirkliche Welt, in der schließlich die Schatten der Menschen ein Eigenleben entwickeln. Ist das die böse Zukunft der künstlichen Dummheit? Es ist völlig unklar, ob wir uns noch in menschlichen Träumen oder schon im Wahnsinn der virtuellen Maschinen befinden. Romanruine, die ratlos macht Jonas Lüscher zieht alle literarischen Register und überzeugt gerade deshalb nicht. „Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine Romanruine, die ratlos macht. In einem Interview erklärt der Autor, er habe ursprünglich ein anderes Buch schreiben wollen, doch die Pandemie habe auch den Zuschnitt des Textes verändert. Immerhin hätten die medizinischen Maschinen dem Schriftsteller das Leben gerettet. So ist „Verzauberte Vorbestimmung“ möglicherweise als Dokument des literarischen Scheiterns für Germanisten interessant, die eines Tages untersuchen werden, wie sich Corona auf die deutschsprachige Literatur ausgewirkt hat.…
Otto Küsel, ein sogenannter „Berufsverbrecher“, kam als Häftling Nr. 2 nach Auschwitz, um als Kapo andere KZ-Insassen zu beaufsichtigen und zu drangsalieren. Der Mann, der für die Einteilung von sogenannten Arbeitskommandos zuständig war, aber tat das Gegenteil dessen, was von ihm erwartet wurde. Der Berliner Autor Sebastian Christ macht das in seiner Biografie, die Küsel als unbekannten Helden porträtiert und die mit ihrem Protagonisten per Du ist, überzeugend deutlich: „In Auschwitz kümmerte er sich zunächst vor allem darum, dass Häftlinge ein Arbeitskommando bekamen, das ihren Kräften entsprach. Er sorgte dafür, dass vermutlich hunderte Polen nicht von der SS durch Arbeit vernichtet werden konnten." Privilegierte Häftlinge Die ersten 30 Kapos von Auschwitz waren fast ausschließlich sogenannte „Berufsverbrecher“, Menschen also, denen die Nazis attestierten, dass sie aus Gewinnsucht immer wieder Verbrechen begehen würden. Als Funktionshäftlinge, die gegenüber der Mehrzahl der anderen Insassen privilegiert waren, schienen sie geradezu prädestiniert dafür, das KZ-System aufrecht zu erhalten. Die ihnen zugedachte Aufgabe war es, einen Teil der Arbeit der SS-Wachmannschaften zu übernehmen und ihre weit unter ihnen stehenden Schicksalsgenossen zu terrorisieren. Viele Kapos taten dies mit brutaler Energie und sadistischem Einfallsreichtum. Otto Küsel verhielt sich anders. Aber warum? „Er hat in Ausschwitz menschliche Ideale gelebt. Und das ist tatsächlich etwas, was mich sehr fasziniert hat an seiner Geschichte. Trotz der Möglichkeit, die er hatte. Ich meine, wer als Kapo eingeteilt wurde, der hat vom System eine Chance bekommen", so Sebastian Christ. „Der gute Kapo“ Dieses Erstaunen teilt der Leser mit dem Autor. Otto Küsels Geschichte ist so beeindruckend, weil sie so außergewöhnlich und so unwahrscheinlich ist. Der Mann aus einfachen Verhältnissen, der schon 1937 ins KZ Sachsenhausen gesperrt und im Mai 1940 nach Auschwitz gebracht wurde, ist die Ausnahme von der Regel. Während andere Kapos zuweilen noch mehr gefürchtet wurden als die SS, war Küsel als „der gute Kapo“ bekannt. „Ob jemand ein Kapo war oder ob er eine andere Hilfestellung hatte oder ob er ein einfacher Häftling war, das ist alles dieses Prinzip „Teile und herrsche“ – die Leute sollten gegeneinander aufgebracht werden. Und er hat da einfach nicht mitgemacht", meint Christ. Sebastian Christ ist mehr als zwei Jahrzehnte lang den Spuren von Otto Küsel gefolgt. Er hat seine frühen Jahre als Hausierer und Bettler in den Blick genommen und Küsels Konflikte mit dem Gesetz noch während der Jahre der Weimarer Republik. „Die meiste Zeit zwischen 1929 und 1935 hat er wohl im Gefängnis verbracht“, schreibt Christ, der seine Biografie streng chronologisch aufgebaut hat. Er rekapituliert Küsels Zeit in verschiedenen Lagern und schildert die Flucht aus Auschwitz. Christ berichtet von den Monaten im Untergrund in Warschau, von der abermaligen Verhaftung und von der Rückkehr nach Auschwitz – nunmehr als „normaler“ Häftling: „Otto war der allererste Häftling meines Wissens, der nach Auschwitz zurückgekommen ist, der als der frühere Häftling erkannt wurde und der das dann überlebt hat. Dazu haben sehr viele spezielle Umstände beigetragen, aber in jedem einzelnen Moment muss er natürlich befürchtet haben, von der SS umgebracht zu werden." Otto Küsels Zeit als Kapo in Auschwitz vom Mai 1940 bis zu seiner Flucht im Dezember 1942 füllt zwar nur ein Kapitel, aber sie ist der Kern der Biografie. Es sind diese zwei Jahre, die seinen Lebensweg zu einem Besonderen machen. Wie sich sein Protagonist der unerbittlichen Logik der Lagerhierarchie entziehen konnte, das umreißt Sebastian Christ engagiert, lebendig und voller Empathie. Welche Kompromisse Küsel eingehen musste, um sich in einem perfiden System zu behaupten, das Brutalität belohnte und in dem er jederzeit seine Privilegien einbüßen konnte, das bleibt hingegen unterbelichtet.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest 5:07
Kennen Sie das? Sie freuen sich wie ein Schneekönig auf Ihre nächste Reise, aber je näher der Aufbruch rückt, desto spürbarer wird ein leises Grummeln irgendwo im Körper. Ausgerechnet Navid Kermani, den die Recherchen für seine Bücher durch die halbe Welt geführt haben, scheint dieses Gefühl zu kennen. Vielleicht nicht von sich selbst, so doch hinreichend, um daraus eine komische Geschichte zu machen. Eine Geschichte für Kinder, die ebenso zum Vorlesen wie zum Mitsprechen einlädt und nicht zuletzt zum gemeinsamen Betrachten der Illustrationen des Zeichners Mehrdad Zaeri. Sie heißt „Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest“. Und das leise Grummeln im Körper sitzt im Fall des Ich-Erzählers ... genau: in der linken Hand. Einmal wollte ich durch Afrika reisen. Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest So beginnt das Buch des vielfach ausgezeichneten Romanciers und Essayisten, der zurzeit mit dem Ostafrika-Sachbuch „In die andere Richtung jetzt“ auf Lesereise ist. Worauf Augen, Ohren, Bauch und Popo sich freuen Der Erzähler freut sich, und alle Körperteile freuen sich mit, die Augen auf den Anblick des Nils, die Ohren auf Jazz in Addis Abeba, der Bauch freut sich aufs Essen, das Herz auf die Menschen, die Kehle auf die Cocktails, die Füße, die Beine, der Mund, der Kopf, auch der Popo, der sich – ausgerechnet – auf Kamelritte freut. „Nur meine linke Hand, die ... Achtung, jetzt beginnt die Geschichte ... die freute sich nicht. ,Ich will nicht nach Afrika!‘ sagte die linke Hand, gerade, als ich zum Flughafen fahren wollte. ,Jetzt komm schon, linke Hand‘ sagte ich. ,Alle wollen nach Afrika, die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, der Bauch, der Kopf, das Herz, der Popo, die Beine, die Kehle, die Füße, sogar die rechte Hand will nach Afrika – warum du denn nicht?‘ ,Zu Hause ist es schöner‘, sagte die linke Hand. ,Papperlapapp‘, rief ich, ,du kommst jetzt gefälligst mit!‘“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Mit „Papperlapapp“ hat noch niemals jemand irgendetwas besser gemacht. So auch hier. Die grummelige Widerspenstigkeit der linken Hand, die sich an der Heizung festhält und partout nicht loslassen will, setzt eine Kaskade der Hindernisse und Scheinlösungen in Gang, inklusive Klempnereinsatz, Problemen im Taxi und am Checkin-Schalter – und jeder Menge Diskussionen von Händen, Mund, Kopf und so weiter. Wenn die Körperteile miteinander streiten Die anderen Körperteile revoltieren regelrecht gegen die aufmüpfige linke Hand, allen voran die rechte Hand, die ihre Chance wittert, sich der unliebsamen Konkurrentin zu entledigen: Ja, schneid sie ab (...) Die linke Hand wird völlig überschätzt. Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Keine gute Idee für einen Linkshänder-Organismus, weshalb ein anderer Ausweg gefunden werden muss. Und selbstredend findet der Erzähler am Ende einen, mit dem alle zufrieden sind und der Reise durch Afrika nichts mehr im Wege steht. Spoiler: dabei spielen zwei kuschelige Handschuhe mit elektronischem Heizkissen im Futter eine wichtige Rolle. Navid Kermanis Text für dieses Bilderbuch zeigt, dass der Autor, selbst zweifacher Vater, ziemlich gut weiß, was Kinder beim Vorlesen begeistert. Litaneiartige Wiederholungen etwa, die man mitsprechen kann: „Ich zog an der linken Hand und ich ZERRTE und ich FLEHTE und ich BETTELTE und ich SCHIMPFTE und ich SCHRIE die linke Hand an, dass wir das Flugzeug verpassen würden, wenn sie nicht sofort die Taxitür losließe.“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Dazu kommt ein leicht anarchischer Witz. So erinnert die Komik der Interaktion zwischen den Körperteilen an den Sketch „Der menschliche Körper“ von Otto Waalkes mit der unsterblichen Zeile „Milz an Großhirn: Soll ich mich auch ballen?“ Bekloppte Ideen für tausend oder zehntausend Euro All das sorgt dafür, dass erwachsene Vorleser sich bei Lektüre ebenfalls nicht langweilen werden, vor allem bei den leise selbstironischen Stellen: „Da hatte mein Kopf wieder eine seiner bekloppten Ideen, und mein Mund bot dem Fahrer an, die Taxitür zu kaufen, wenn der Fahrer sie schnell ausbaute, worauf der Fahrer einen irren Preis nannte, tausend oder zehntausend Euro.“ Quelle: Navid Kermani – Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest Für kleine und große Selber-Leser hat das Buch auch optisch viel zu bieten. Der Illustrator Mehrdad Zaeri setzt auf Farbflächen in der Art von Gouachen, mit knalligen Kontrasten, Ton-in-Ton-Silhouetten, filigranen Details, starken Konturen. Die kubistisch-zweidimensional angelegte Figur des Ich-Erzählers mit Zwirbelbärtchen, großen Augen, flachem Kreissäge-Hütchen, rotem Jackett, grüner Hose und gelben Schuhen hat etwas von einem Torero in der Sommerfrische, aber auch vom HB-Männchen der Sechziger-Jahre-Reklame. Auf unterhaltsam-poetische Art erzählen Navid Kermani und Mehrdad Zaeri mit der rasanten Geschichte einer reiseunlustigen linken Hand zugleich von der Vorfreude auf das Neue und dem Magnetismus des Altvertrauten und davon, dass das Ganze erst in der Summe seiner Teile entsteht. Und seien es die verselbstständigten Körperteile, von denen jedes mindestens so wichtig ist wie der Kopf.…
Édouard Louis, vom Außenseiter-Teenager zum gefeierten Intellektuellen, hat bereits mehrere Bücher über seine aus dem Arbeitermilieu Nordfrankreichs stammende Familie geschrieben. Louis‘ neuestes Buch „Monique bricht aus“ handelt von seiner Mutter und ihrer Befreiung von ihrem gewalttätigen Partner. Es ist bereits das zweite Buch, das der Autor über seine Mutter schrieb. Erneutes Entkommen der Mutter aus gewaltvoller Beziehung Im ersten Band, „Die Freiheit einer Frau“, erzählt Louis darüber, wie seine Mutter nach einigen Jahren das erste Mal von einem gewalttätigen Mann entkommen kann. Der neue Band berichtet nun darüber, wie sie das zweite Mal aus einer gewaltvollen Beziehung ausbricht. Eine stark autobiografische Geschichte über sozialen Aufstieg und Selbstermächtigung.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Bücher gegen das Vergessen – zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Mit neuen Büchern von Édouard Louis, Michael Köhlmeier, Navid Kermani und Sumit Paul-Choudhry. 54:53
Dieses Mal im lesenwert Magazin Bücher zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz von József Debreczeni, Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Draußen ist es dunkel, nass und kalt. Die Stimmung ist trüb und die Nachrichten sind voller Schreckensmeldungen. Und doch gibt es viele gute Gründe, heute optimistisch zu sein, findet der Wissenschaftsjournalist Sumit Paul-Choudhury. Optimismus ist eine Ressource, die man anzapfen kann, gerade wenn es hart auf hart kommt, sagt er. „Zum Optimisten wurde ich in der Nacht, als meine Frau starb. Wie schwierig es auch sein mochte, sie wollte, dass ich weiter nach vorne schaute. Ich will beileibe nicht einen Trauerfall empfehlen, um die Resettaste zu drücken, aber mir verschaffte er Gelegenheit und die Motivation, mein Leben von Grund auf zu überdenken." Optimismus steckt in unseren Genen Paul-Choudhury nimmt sich vor, die Welt besser zu machen und findet heraus: Wir alle sind viel optimistischer als wir es von uns denken. Der Optimismus ist sogar in unseren Genen angelegt. Ohne ihn hätte die Spezies Mensch im Laufe der Evolution nicht überlebt. „Optimismus schien mir die einzige Haltung zu sein, die einzunehmen sich lohnte. Wenn man mehr vom Leben erwartete, konnte man auch mehr vom Leben haben. Aber wenn ich schon Optimist sein wollte, dann wollte ich eine Art von Optimismus praktizieren, den ich guten Gewissens vertreten konnte, der mehr war als nur Glaube." Also durchsucht Paul-Choudhury Neurowissenschaften, Psychologie und Philosophie, auch die Literatur und findet erstaunliche Studien sowie beinahe unglaubliche historische Beispiele für die Macht der positiven Zukunftserwartung. Die erzählt er nun anregend in seinem Buch „The Bright Side. Eine optimistische Geschichte der Menschheit“. Solang man am Leben ist, kann man Entscheidungen treffen Da ist zum Beispiel die Legende von Ernest Shackletons Expedition. Der britische Polarforscher rettete mit Beharrlichkeit seine Crew nach 635 Tagen im ewigen Eis der Antarktis. Seine Überlebensstrategie: „Die Eigenschaft, nach der ich am meisten suche, ist vor allem Optimismus angesichts von Rückschlägen und vermeintlichen Misserfolgen. Optimismus ist wahre Zivilcourage." Dabei ging es Shackleton nicht um blindes Vertrauen, er erinnerte seine Männer: solange sie am Leben seien, könnten sie Entscheidungen treffen, ihr Schicksal in die Hand nehmen. So sah es vermutlich auch der Schriftsteller und Bürgerrechtler James Baldwin. Er antwortete in einem Interview 1963 auf die Frage, wie er die Lage der Nation sehe, nachdem wieder einmal Aufstände schwarzer Amerikaner blutig niedergeschlagen wurden: „Ich kann kein Pessimist sein, weil ich lebe. Ein Pessimist zu sein bedeutet, dass man der Meinung ist, das menschliche Leben sei eine akademische Angelegenheit. Also ich bin gezwungen, Optimist zu sein. Ich bin gezwungen, zu glauben, dass wir überleben können, was auch immer wir überleben müssen.“ Was vom Leben erwarten? Wie die Zukunft gestalten? Die Antworten liegen nicht in der Vernunft, so Paul-Choudhury, sondern in Überzeugungen und Entschlossenheit. Allerdings verändere sich die Welt so rasant, dass die Zukunft immer unvorhersehbarer geworden ist. Seit Beginn der industriellen Revolution haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, dass wir in einer Art von Welt aufwachsen und in einer anderen Art von Welt sterben. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Optimismus hat heute einen schlechten Ruf Da bleibt der Optimismus auf der Strecke. Noch nie scheint er einen so schlechten Ruf gehabt zu haben wie im Moment, beklagen der Autor und sein deutscher Verleger, Lars Claßen, vom Kjona Verlag: „Was ich sehr sympathisch fand, er wollte sich den Optimismus eigentlich austreiben und hat es nur nicht geschafft. Das liegt mir total nah. Ich finde, man darf auch optimistisch aus Notwehr sein.“ Noch so ein Optimist, der Lars Claßen. Veränderung beginne im Kopf, sagt er und gründete einen Verlag mit optimistischer Vision: konsequent nachhaltige Bücher produzieren und nur in Teilzeit arbeiten: „… und der Verlag ist sehr erfolgreich und damit will ich nicht sagen, wow, guck mal, wie toll wir sind, sondern ich will sagen, wenn wir Zwei sowas können, dann können alle anderen das auch.“ Claßen war so begeistert von „The Bright Side“, dass der Verlag das Buch bereits im Sommer 2021 eingekauft hat: „… als es Kjona offiziell noch gar nicht gab, also in der Planungsphase sozusagen, weil wir uns so angesprochen davon gefühlt haben, weil Sumit Paul-Choudhury ein bisschen versucht, den Optimismus vom Kopf auf die Füße zu stellen.“ Der Autor wünscht sich neue Mythen gegen die Optimusmuslücke Stimmt. Was wie ein Lebensratgeber beginnt, entwickelt sich schnell zu einer hoffnungsstiftenden Analyse. Statistisch gesehen gab es noch nie so wenig Gewalt, waren wir nie gesünder, klüger oder älter. Da erstaunt eine aktuelle Umfrage unter Europäern: Die Mehrheit blickt optimistischer in ihre eigene Zukunft als auf die ihres Landes. Zwischen Individuum und Kollektiv klafft eine Optimismuslücke. Und um die zu schließen, wünscht sich Paul-Choudhury neue Mythen. Heute wie damals stirbt eine alte Welt. Unsere Aufgabe ist es, der neuen Welt zur Geburt zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass sie nicht von Monstern zur Welt gebracht wird. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Die Ideen und Technologien für positive Veränderungen sind eigentlich auch schon da: er nennt Geoengineering oder künstliche Intelligenz. Auch die Literatur kann helfen. Die ist meist ein Spiegelbild ihrer Zeit und reagiert auf Ereignisse – auf schlimme mit Dystopien, denkt man nur an Mary Shelleys „Frankenstein“, das sie im Jahr 1816 schrieb, nach dem größten Vulkanausbruch der Geschichte, als sich der Himmel derart verdunkelte, dass es in Europa ein Jahr ohne Sommer gab. Als das Tempo des Wandels jedoch irritierend wurde, widmeten sich die Autoren zunehmend fiktionalen Erzählungen über Reisen in die Zukunft. […] Heute scheint die krasse Dystopie zurück zu sein. Quelle: Sumit Paul-Choudhury – The Bright Side Naive Trottel überall? Nein! Das würde auch Verleger Lars Claßen unterschreiben. Doch immer mehr Autor:innen würden beginnen, neue Gesellschaftsentwürfe zu konzipieren: „Wenn man den Möglichkeitsraum im Kopf erweitert, dann erweitert man auch die Grenzen, die man überhaupt beschreiten kann, deswegen sind Optimist:innen auch resilienter und gesünder und spannenderweise auch überall auf der Welt in jeder Altersstufe.“ Wenn man ein Buch „The Bright Side“ nennt, denkt man natürlich an „Das Leben des Brian“ – der gesungene Optimismus der Gekreuzigten. Alles naive Trottel? Durchaus nicht. Sumit Paul-Choudhurys Version von Optimismus ist eine Lebenseinstellung, eine Tugend. Wenn man so will, hat er ganz im Sinne der Aufklärung einen inspirierenden Langessay vorgelegt, kompetent ins Deutsche übertragen von Andreas Wirthensohn, ganz ohne esoterisches Zuversichtsgeschwafel.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Das sogenannte „Album von Auschwitz“ zeigt die Ankunft von Jüdinnen und Juden aus Ungarn im Vernichtungslager. Die Fotos haben das Bild vom Holocaust entscheidend geprägt. Doch man sollte die Aufnahmen differenziert betrachten, erklärt der Historiker Stefan Hördler im lesenswert Magazin, denn es ist der Blick der Täter auf die Opfer. Stefan Hördler im Interview SWR Kultur: Das sogenannte „Album aus Auschwitz“, das ist keine Neuerscheinung, das Album und die Fotos darin sind der Öffentlichkeit lange bekannt, aber jetzt gibt es diese Neuauflage des Wallstein Verlags. Klären wir doch erst mal die Geschichte dahinter: Was hat es mit diesem „Album aus Auschwitz“ auf sich? Hördler: Das Album hat eine extrem spannende Überlieferungsgeschichte, die wir zum einen natürlich mit der Finderin selbst, Lilly Jacob, eine Überlebende des sogenannten „Ungarn-Programms“, dieser Mordaktion, verbinden und natürlich mit den Fotografen. Vielleicht darf ich mit den beiden SS-Fotografen beginnen, denn das Album ist ja nicht heimlich entstanden und im Verborgenen, sondern dadurch, dass das Fotografieren im Konzentrationslager verboten war, brauchte es natürlich die Erlaubnis und somit auch das Einverständnis von Heinrich Himmler selbst, dem SS-Chef. Es sind zwei Männer, die fotografieren: Bernhard Walter, ein Stuckateur aus Fürth und Ernst Hofmann, ein Lehrer aus Thüringen. Beide Männer fotografieren und Bernhard Walter lässt verschiedene Fassungen anfertigen, nach der Überlieferung etwa 15, die dann an Prominenz wie Heinrich Himmler, Adolf Eichmann, der ja die Deportationen mit organisiert, Rudolf Höß, dem vormaligen Kommandanten von Auschwitz, der extra für diese Mordaktion wieder nach Auschwitz reist und viele andere mehr. Aber eine Kopie behält er privat. Bernhard Walter wird nach der Auflösung von Auschwitz in das KZ Mittelbau versetzt und er nimmt sein Album mit. Mit der Befreiung und dem überhasteten Abzug der SS lässt er es offenbar zurück und das KZ Mittelbau und auch das Hauptlager Dora wird durch die US-Amerikaner befreit. Auch Lilly Jacob, die nach Auschwitz und dann über Groß-Rosen ebenfalls nach Dora deportiert wurde, wird im April 1945 befreit und wird in eine SS-Unterkunft verlegt. Nach ihren eigenen Erinnerungen ist ihr kalt, sie sucht eine Decke, macht einen Schrank auf, findet einen Pyjama und in dem Pyjama findet sie dieses Album, macht dieses Album auf und entdeckt ihren eigenen Transport nach Auschwitz, ihre Großeltern, ihren Rabbi, macht das Album zu und nimmt es mit. Es ist am Ende Serge Klarsfeld, der Lilly Jacob ausfindig macht und sie überredet, das Album an die Gedenkstätte Yad Vashem in Israel zu geben, was 1980 passiert. Damit steht das Album einer breiteren Öffentlichkeit und vor allen Dingen auch der Wissenschaft für die Erforschung zu Verfügung und wir, also Tal Bruttmann, Christoph Kreutzmüller und ich, haben entschieden, dass es Dinge hat, die übersehen wurden. Uns war es wichtig, diesen Täterblick zu dekonstruieren und letztendlich die eigentlichen Bildfolgen zu rekonstruieren und zu erklären, was wir dort sehen. SWR Kultur: Wie haben diese Fotos, diese fast 200 Fotos des Albums, unser Bild vom Holocaust geprägt? Hördler: Das ist eine wichtige Frage, weil natürlich eine gewisse visuelle Vorstellung des Holocaust besteht und diese Fotografien, dadurch dass sie ja reproduziert wurden, über und über reproduziert wurden und oft als Illustrationen gebraucht, sind sie sozusagen zu fast schon „Ikonen“ verkommen. Es sind Fotografien, die nahezu in jedem Schulbuch, in jeder Dokumentation, in jedem Artikel, in jedem Presseartikel zur Geschichte des Holocaust abgebildet sind. Verbunden mit einem empathischen Blick, auf dem Frauen, Kinder und Männer, die für die Gaskammern selektiert werden, aber wir müssen vorsichtig sein, denn das ist der Blick der SS, das heißt, es ist nicht der Blick auf die Opfer durch die Brille der Opfer und es ist damit auch nicht der Blick der Opfer selbst, sondern es ist der Blick der Täter auf die Opfer und wir haben uns die Mühe gemacht, nahezu jeden Standpunkt des Fotografen in Auschwitz mit zu rekonstruieren. Das heißt: Wo genau stand der Fotograf und aus welcher Perspektive hat er fotografiert? Wir können feststellen, dass teilweise direkt aus den Türen der Gaskammern heraus fotografiert wurde, das ist ja die Perspektive der SS, die Perspektive der Überlegenheit. Sie wissen, was jetzt kommt: nämlich der Massenmord. Sie fotografieren die Menschen, die dann als nächstes in diese Gaskammern eintreten werden. Darum dreht sich auch einer der vielen Ansätze des Buches, nämlich genau diese Perspektive zu entschlüsseln und auch die Perspektive zurück mit in den Blick zu nehmen, bis hin zu den verschiedenen Phasen und Kapiteln in diesem Album, die alle eine bestimmt Perspektive auf Menschen haben. Eine sehr stark rassistische Perspektive, die erklärt werden muss. SWR Kultur: Herr Hördler, können Sie vielleicht dafür auch diese neuen Details, die Sie in den Fotos entdeckt habe, die Sie in dem Buch zusammengefasst haben, ein Beispiel für machen, was Ihnen besonders aufgefallen ist? Hördler: Vielleicht ist es ein Umstand, der sofort ins Auge fällt: Dass die SS versucht, diesen Ablauf sozusagen als mustergültigen Ablauf der sogenannten „Abfertigung“ eines Deportationstransportes zu sehen. Das heißt, sie fotografieren in gewissen Kapiteln die Ankunft, die sogenannte Selektion, den Weg in die Gaskammern für die einen Menschen, den Weg in das Lager und in die Registrierung für die anderen, bis hin zu den sogenannten Effekten, das heißt, auch der Raub des Eigentums wird mitfotografiert und dadurch entsteht der Eindruck, als wenn das ein Transport ist, aber letztendlich mixt die SS Dutzende Transporte in diese Inszenierung des Albums über einen längeren Zeitraum. Wir konnten feststellen, dass die ersten Fotos ja am Tag des ersten Transports entstehen und die letzten Fotos im August 1944, also deutlich später, bis hin zum letzten Umstand, dass wir einen SS-Zahnarzt auf der Rampe identifizieren konnten, Schatz heißt dieser Mann, der im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess angeklagt wurde und aus Mangeln an Beweisen freigesprochen wurde, obwohl das Album als Beweismittel im Prozess vorlag und er deutlich auf mehreren Fotos auf der Rampe zu sehen ist bei der Selektion. Das heißt, auch dieser neue Blick zeigt, dass das Thema nicht ausgeforscht ist, sondern, dass wenn wir wirklich genau hinschauen, wir auch erklären und erkennen können, wer genau da steht. Wir können wirklich bis zur einzelnen Person hineinzoomen. Das betrifft auch die Deportieren, auch die Opfer.…
Schon 1950 erschien József Debreczenis „Kaltes Krematorium“. 1944 wurde der ungarische Journalist deportiert und hat die alltägliche Hölle der Lager und die von den Nazis erzwungene Entmenschlichung der Gefangenen, präzise beschrieben. Carolin Emcke im Gespräch Die Publizistin Carolin Emcke hat das Nachwort geschrieben und erklärt im Lesenswert Gespräch, was sie an dem Buch so beeindruckt hat. Nach über 70 Jahren endlich auch auf Deutsch erhältlich - besser spät als nie.…
Im August 1939 begibt sich der Autor Witold Gombrowicz auf einem Transatlantikliner auf die Reise nach Buenos Aires. Die Rückfahrkarte, ausgestellt auf den 1. September, lässt er allerdings verfallen. An diesem Tag begann bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Nazideutschlands auf Polen. Gombrowicz bleibt für die nächsten 24 Jahre in Argentinien. Mit dieser autobiographischen Episode beginnt sein dritter Roman „Trans-Atlantik“, 1953 im Original und 1963 auch auf Deutsch erschienen. Der Roman „Ferdydurke“ aus dem Jahr 1938 hatte Gombrowicz bekannt gemacht, ein „Geniestreich“, wie der Übersetzer und Herausgeber Rolf Fieguth schreibt, aber eben kein einmaliger. Denn mit „Trans-Atlantik“, hochliterarisch wie der Vorgänger, habe er seinen Ruhm in der polnischen Literatur endgültig gefestigt. Rolf Fieguth: „Schlüsselroman, skandalisierende Satire, moral-humoristischer Traktat, doch zugleich und vor allem ist es das unbedingtere und auch geschlossenere Sprachkunstwerk, in welchem die artistische Fantasie, der Rausch, der Traum und die Schönheitssehnsucht inmitten aller Ekelhaftigkeit triumphieren.“ Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen Aber wie es mit solch epochemachenden, dem Realismus nicht zugeneigten Werken zuweilen ist: Sie müssen ihren Weg auch zu nachgeborenen Lesern finden. Mit der Wiederveröffentlichung der 37 Jahre alten Hanser-Ausgabe im Kampa Verlag ist ein erster Schritt getan. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass es einem der Text selbst ganz einfach macht, denn was Fieguth als hochliterarisch bezeichnet, deutet schon hin auf den Anspielungsreichtum, die sprachspielerische Lust, das Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen. Die angesprochene moralisch-humoristische Dimension aber lässt sich leicht erkennen. Als der Titelheld, der den Namen des Autors trägt, in seinem Exil in Geldnöte gerät und seine polnischen Landsleute inklusive Minister anpumpt, ist das nicht ohne bitterernsten Witz. Gut gut, hier hast du 70 Pesos, (…).« Ich sehe also, dass er mich mit Geld abspeist; und nicht einfach mit Geld, sondern mit Kleingeld! Nach einer so schweren Beleidigung steigt mir das Blut in den Kopf, ich sage aber nichts. Ich sage erst: »Ich sehe, ich muss dem Hochwohlgeborenen Herrn sehr klein sein, denn Ihr speist mich auch mit Kleingeld ab, und sicher zählt Ihr mich unter die Zehntausend Literaten; aber ich bin nicht nur Literat, sondern auch Gombrowicz! Er fragt: »Was für ein Gombrowicz?« Ich spreche: »Gombrowicz, Gombrowicz.« Er rollt das Auge und spricht: »Wohlan, wenn du Gombrowicz bist, so hast du hier 80 Pesos (…).“ Quelle: Witold Gombrowicz – Trans-Atlantik Schelmische Naivität Das Spiel mit Paradoxien, Übertreibungen, Wiederholungen, Absurditäten und den umgangssprachlichen Plauderton, der diesen Roman prägt, kann man hier schon bemerken. Damit sollen einerseits der Gestus des mündlichen Erzählens, andererseits die primitivistischen Sprachdeformationen der historischen Avantgarden nachvollzogen werden. Auch der Rückgriff auf vormoderne Erzählungen wie den „Simplicissimus“ liegt Gombrowicz nicht fern. Das hat freilich einen höheren Zweck: Mit einer schelmischen, demaskierenden Naivität schlägt sich sein Held nicht nur mit seinen polnischen Landsleuten, sondern auch dem polnischen Nationalstolz herum, der hier satirisch verunstaltet wird. Wie Gombrowicz in einem der zahlreichen Vorworte zu seinem Buch schreibt, stellt er dem gängigen idyllischen Menschenbild sein eigenes gegenüber: Die Welt sei geprägt von Fiktion und Lüge. Von Wahrhaftigkeit keine Spur. Stattdessen sind wir konfrontiert mit der Leere des Menschen – das Wort „leer“ fällt häufig in diesem Roman. Sie steht der Tiefe entgegen, die man dem menschlichen Wesen gerne zubilligen würde. Tragisch und albern ist er stattdessen. Zum bösen Scherz oder heiteren Ernst des Buches gehört dementsprechend sein Schluss: „Da wummt das Lachen!“, heißt es auf der letzten Seite. Mit befreiendem, wummerndem Lachen endet dieser Roman einer Katastrophe, der den Autor Witold Gombrowicz auf die weltliterarische Landkarte gesetzt hat.…
Was rettet uns in Zeiten, in denen uns eine geliebte Person abhandenkommt? Wo finden unsere Gefühle und Gedanken Resonanz? Wie finden wir in unserem eigenen Leben Halt und wohin können wir unsere Energie richten, wenn jemand plötzlich fehlt? Das sind im Grunde die Ausgangsfragen, die Sarah Sands in ihrem Igel-Tagebuch erörtert. Explizit widmet sie ihr Werk ihrem Vater und „allen, die Igel lieben“. »Komme ich wieder nach Hause?«, fragte mein Vater. Ich hatte keine klaren Antworten, keine Versprechungen. Wir unterhielten uns über den Frühling, als Metapher für Hoffnung. Und um das ehrliche Schweigen zu füllen, erzählte ich von Peggys erstaunlicher Genesung. (…) Manchmal ist es einfach leichter, über Igel zu reden. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Wie Mensch und Tier mit den Kräften haushalten. Des alten Vaters Herz ist so schwach, dass er nicht mehr den Tätigkeiten nachgehen kann und möchte, die er liebt, nicht in der Natur sein und nicht mehr lesen, und schließlich palliativ in einem Pflegeheim liegt. Quasi gleichzeitig findet die Autorin in ihrem Garten einen sehr schwachen Igel. Angesichts der Befürchtung, der Igel könnte schnell wegsterben, taufen die Erzählerin und ihr Mann ihn mit dem sprechenden Namen Horace. Sie bringen ihn auf eine Igelpflegestation, wo sich herausstellt, dass der Igel weiblich und also besser eine Peggy ist. Es geht also ums Überleben. Vom Vater und Peggy. Mit den eigenen Kräften haushalten: Damit kennt sich der Igel aus, in seinem Bett aus Blättern und voller Insekten. (…) Der Igel rollt sich zusammen, und sein Herzschlag verlangsamt sich. Seine Körpertemperatur fällt von 34 °C auf 2 °C, und er atmet kaum noch. Er fühlt sich kalt an. Ich weiß, worauf ich bei meinem Vater achten muss. Sein Puls darf nicht zu schnell hämmern, sein Blutdruck nicht zu stark absinken, (…) jede Anstrengung würde ihn umbringen. So sieht sein Gleichgewicht aus – ganz knapp zu überleben. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Der Trauerprozess Die Eng- und Parallelführung von Igel und Vater gelingt über weite Strecken des Buches gut. Man erspürt im Text die Kraft, die es braucht, um gegen das befürchtete Ende eines Lebens anzuschreiben. Und es zeigt sich, dass Literatur, Natur und Recherche helfen. Man erfährt von nachlassenden Kräften beim Vater, vom Verlust von Möglichkeiten in der Krankheit, von der Grausamkeit, der Endlichkeit ins Auge schauen zu müssen. Und gleichzeitig wird man anhand des Igelfindlings Peggy zu einer igelkundigen Leserin. Das ist wohltuend. Wenn die Erzählung dabei manchmal hin und her mäandert zwischen Literatur über Tod und Igel oder auch mal zu Vogel- und Igelstatistiken während Corona abdriftet, nimmt man das hin. Solange man im Trauerprozess um den Vater bleiben darf, den nur des Igels Rettung erleichtern kann. Leider verliert sich der Text zunehmend in viele Richtungen. Mal landen wir in der britischen Politik, mal bei Nato-Symbolen oder in der Religion, mal bei CO2-Zielen. Dann blättert man und hofft, die Autorin findet den Faden wieder, aber so recht gelingt das erst ganz am Schluss: Wenn ich meinen Vater vor meinem inneren Auge sehe, hält er ein Fernglas hoch. Er nahm die Natur in sich auf, und jetzt nimmt die Natur ihn in sich auf. (…) Ich trauere nicht mehr, sondern beobachte (…) Neben dem Teich ist ein dunkler, rundlicher Umriss zu erkennen. Ein Igel. Für den Augenblick ist mit der Welt alles in Ordnung. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Uff, denkt man da, nochmals geschafft, aber mit der Ordnung der Erzählung hätte es ein Lektor genauer nehmen können.…
Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür. Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden. Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder? Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster Horror und Realität – kaum zu unterscheiden Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent. Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen. Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will. So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle. Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich. Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern. Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock. Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar. Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin. Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint.…
Der Soziologieprofessor Andreas Reckwitz hat vor allem die Gesellschaft der westlichen Moderne bis in unsere Tage im Blick. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ lautet der Titel seiner neuesten Publikation. Die Moderne beginnt bei Reckwitz ganz klassisch mit den 30er- und 40er- Jahren des 19. Jahrhunderts. Gewaltige Technisierungsschübe und naturwissenschaftliche Errungenschaften sind prägend, ebenso das Bürgertum und ein breiter werdender Wohlstand. Fortschritt und stetiges Wachstum versprechen ein zukünftiges Paradies – was allerdings in der Hölle endet, nämlich im Ersten Weltkrieg. Das Fortschrittsnarrativ wie es insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik und Lebensführung verankert worden ist, basiert auf einem einfachen Plot: Erzählt wird die Geschichte eines Prozesses der permanenten Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die Verlusterzählung in der Moderne und die Kunst Natürlich gibt es auch in der frühen Moderne Verlusterzählungen – etwa die Marginalisierung des Landlebens und der Agrarwirtschaft. Doch nach Reckwitz ist die Fortschrittsgläubigkeit bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu bremsen. Das alte Paris – es ist nicht mehr (ach, die Form der Stadt / wandelt sich viel schneller als das Herz des Sterblichen) Quelle: Charles Baudelaire: Le Cygne / Der Schwan Das Gedicht „Der Schwan“ hat Charles Baudelaire in etwa um 1850 verfasst. Mit dem Bau des Boulevard Hausmann verschwindet das alte Paris. Der Dichter formuliert also klar eine existentielle Verlustangst. Andreas Reckwitz bringt zwar einige Beispiele aus der Belletristik und der Kunst, aber er nennt nicht Künstlergruppen, die jenseits allen Fortschrittsglaubens den Verlust in der Moderne klar markiert haben: Die Symbolisten, später dann die Dadaisten und Surrealisten. Die Künstler des Surrealismus versuchten sich sogar an einem Gegenmodell zum rationalen Fortschritt – nämlich indem sie das Unbewusste und den Traumbereich des Menschen erforschten. Verlustverdrängung versus Verlustpotenzierung Von unschätzbarem Wert ist bei Reckwitz die genaue und breitgefächerte Darstellung der Verlusterfahrungen in der Moderne. Dabei kommt es auch zu Formen der Verlustverdrängung: Das so genannte Wirtschaftswunder nach 1945, das bis in die 1970er Jahre reicht. Oder die 1990er Jahre, in denen man mit dem Zerfall kommunistischer Staaten eine Art kapitalistisch organisierten Weltfrieden zu erkennen meinte. Das Fazit von Reckwitz lautet: Im Arrangement der modernen Gesellschaft ergibt sich eine prekäre Balance zwischen Fortschrittsorientierung, Verlustreduktion, Verlustpotenzierung, Verlustvisibilisierung und Verlustbearbeitung. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Und genau diese „prekäre Balance“ von Verlusterkennung und Verlustvergessenheit ist nach Reckwitz entscheidend, um die „Spätmoderne“, also unsere Zeit zu begreifen. Denn die positive Fortschrittserzählung kommt an ein klares Ende. Dass die katastrophische Zukunft eintreten kann, wird im spätmodernen Zeitregime zur neuen Gewissheit. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die vermeintliche Katastrophe und die „Reparatur der Moderne“ Diese negative Gewissheit äußert sich in drei Hauptsegmenten: Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis. Wie aber aus dem Sumpf der Skepsis wieder herauskommen? Andreas Reckwitz bietet drei Szenarien an: Erstens, wir machen weiter so wie bisher – wird schon gut gehen! Zweitens, die Moderne endet in der Katastrophe. Und drittens? Reckwitz nennt es die „Reparatur der Moderne“. Dabei richten wir unser zukunftsorientiertes Tun auf die Reduktion und Vermeidung von Verlusten. Wer allerdings die „Ingenieure“ dieses dritten Wegs sein sollen, sagt Reckwitz nicht. Denn sein Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ sollten alle die lesen, denen die Zukunft etwas wert ist und die nicht in einer Verlustphobie erstarren wollen.…
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