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Das Frailty-Syndrom - mit Prof. Christian Grüneberg * Physiotherapie

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Frailty: was bedeutet dieses geriatrische Syndrom für unsere Patienten? Wie kann es diagnostiziert, quantifiziert und günstig beeinflusst werden?

"Frailty"- ein Podcast-Beitrag von Prof. Christian Grüneberg

Stand: 06.01.2021

Jeder fünfte ältere Mensch in Deutschland ist von Frailty betroffen, einem geriatrischen Syndrom, das mit einem erhöhten Risiko für negative Gesundheitsereignisse assoziiert ist. Im Podcast beschreibe ich, wie Frailty nach aktuellen Leitlinien erhoben, quantifiziert und behandelt werden kann. Körperliches Training gilt dabei als Kernkomponente einer multimodalen Behandlung im interdisziplinären Team.

Einführung

Einem gängigen Konzept zufolge befindet sich ein älterer Mensch auf einem sogenannten Fitness-Frailty-Kontinuum zwischen den beiden Extremen fit /Fitness (körperlich und geistig leistungsfähig) und frail /Frailty (gebrechlich). Das Fitness-Frailty-Kontinuum ermöglicht vermutlich eine bessere Risikoeinstufung als das chronologische Alter. Frailty ist definiert als ein physiologisches Syndrom, das durch eine reduzierte Reserve und eine verminderte Abwehrfähigkeit von Stressoren charakterisiert ist. Menschen mit Frailty haben gegenüber nicht gebrechlichen Menschen ein erhöhtes Risiko, negative Gesundheitsereignisse zu erleiden. Zu diesen Ereignissen gehören unter anderem Stürze, Krankenhauseinweisungen, Aktivitäts¬einschränkungen und Mortalität. Laut einer Meta-Analyse ist bei Menschen mit Frailty das Risiko zu stürzen um 84 Prozent beziehungsweise 24 Prozent erhöht. Das Mortalitätsrisiko ist doppelt so hoch. Abhängig von Erhebungsmethode, Population und Nationalität liegt die Frailty-Prävalenz bei 14 bis 24 Prozent in der Bevölke-rungsgruppe der über 65-Jährigen. Diese steigt mit zunehmendem Alter an und ist bei Frauen höher als bei Männern. Clegg et al. beschreiben die pathophysiologischen Prozesse der Frailty und gehen dabei grundsätzlich von einem kumulativen Schaden an mehreren physiologischen Systemen und Organen aus. Die Autoren schreiben aber auch der körperlichen Inaktivität und einem ungünstigen Ernährungsverhalten eine zentrale Rolle zu. Zur Entstehung von Frailty trägt in diesem Zusammenhang auch die Sarkopenie bei, eine über¬mäßige Atrophie der Skelettmuskulatur einherge-hend mit Kraftverlust und /oder funktionellen Einschränkungen.

**Zwei konzeptionelle Frailty-Modelle **

Die zwei gängigsten konzeptuellen Modelle der Frailty sind der Frailty-Phänotyp und das Defizit-Akkumulations-Modell. Der Phä¬notyp wird auch als „physische Frailty“ oder „Fried-Modell“ bezeichnet und geht von einem physiologischen Syndrom aus (biologisches Modell: Veränderungen von Energieaufnahme und -umsatz ursächlich für funktionellen Niedergang). Das Defizit-Akkumulations-Modell oder „Rockwood-Modell“ basiert auf der Annahme, dass eine Ansammlung von Einschränkungen physischer, sozialer, kognitiver und anderer Funktionen ursäch¬lich für die Entwicklung des Frailty-Syndroms ist. Die Ausprägung der Frailty wird anhand eines sogenannten Frailty Index (FI) bemessen. Beide Frailty-Modelle sind klinisch gut operationalisierbar und weisen eine gute prognostische Validität bezüglich relevanter Ergebnisse wie Überlebensrate, Pflegebedürf-tigkeit und Stürze auf. Je nach Modell kommen unterschiedliche Messinstrumente zum Einsatz.

Erhebung des physischen Frailty- Phänotyps

Zur Erhebung des physischen Frailty-Phänotyps werden fünf Parameter herangezogen: Erschöpfung, Gewichtsverlust, geringe körperliche Aktivität, Mobili¬tät (langsame Gehgeschwindigkeit) und Muskelkraft (geringe Handkraft). Je nach Ausprägung werden die untersuchten Personen als robust (kein Kriterium erfüllt), pre-frail /intermediär (ein oder zwei Kriterien erfüllt) oder als frail (drei oder mehr Kriterien erfüllt) eingestuft.

**Erhebung von Frailty als Akkumulation von Defiziten mittels FI **

Anhand des Defizit-Akkumulations-Modells kann Frailty als Index ausgedrückt werden. Dabei werden mindestens 30 verschiedene Variablen mit bestimmten Kriterien erfasst. Hierzu eignen sich unter anderem Krankheitssymptome (zum Beispiel Stimmung), Krankheitszeichen, abnormale Laborwerte, radiologische Untersuchungen und Funktionseinschränkungen. Der FI ist eine einfache Berechnung der Erfüllung oder Nichterfüllung der einzelnen Kriterien als Pro¬portion zur Gesamtsumme. So errechnet sich für eine Person, bei der zehn von 50 Defiziten vorliegen, ein FI von 10 /50 = 0,20. Der FI kann so theoretisch einen Wert zwischen null und eins annehmen. Beim Defizit-Akkumulations-Modell wird davon ausge¬gangen, dass Personen entlang des Fitness-Frailty-Kontinuums umso fragiler sind, je höher der FI ist. Der empirisch ermittelte Grenzwert, ab dem eine Person vom robusten Stadium in ein Frailty-Stadium übertritt, liegt bei ≥ 0,25.

Assessments und Screening

Wenngleich Frailty progressiv verläuft, sind Veränderungen des Frailty-Status möglich. Best-Practice-Leitlinien zur Behandlung von Frailty empfeh¬len folgendes Vorgehen: Bei Verdacht auf Frailty erfolgt eine eingehende Diagnos¬tik mittels Geriatrischem Assessment, das physische, emotionale, psycho-logisch-kognitive und soziale Ressourcen und Einschränkungen erfasst. Das Geri¬atrische Assessment sollte die fünf Para¬meter des Frailty-Phänotyps enthalten und kann als Grundlage für die Berech¬nung eines FI dienen. Einschränkun¬gen sollten gezielt mit interdisziplinär abgestimmten Maßnahmen behandelt werden, die an die Ziele, Belastbarkeit und Kontextfaktoren der betroffenen Personen angepasst sind. Angehörige, Betreuer und Pflegende sollten intensiv und frühzeitig eingebunden werden. Dent et al. publizierten sieben Handlungsempfehlungen bei Patienten mit Frailty. Um betroffene Patienten gezielt zu versorgen oder rechtzeitig auf risikoreiche Interventionen (z. B. chirurgischen Eingriffen) vorzubereiten gilt es, Frailty frühzeitig zu erkennen. Die Notwendigkeit, Frailty in der medizinischen Versorgung aller älteren Menschenroutinemäßig zu berücksichtigen, wird zurzeit kontroversdiskutiert.

Eine internationale Konsensusgruppe empfiehlt ein Screening auf physische Frailty bei • Personen ≥70 Jahren und • Personen, die im letzten Jahr ≥5% ihres Gewichtes verloren haben Hierzu stehen kurze Fragebogen, wie PRISMA-7 oder die FRAIL-Scale, sowie einfache Tests der Mobilität zur Verfügung.

Leitliniengestützte Versorgung

Best-Practice-Leitlinien zur Behandlung von Frailty empfehlen bei Verdacht auf Frailty eine eingehende Diagnostik mittels Geriatrischem Assessment, das physische, emotionale, psychologisch-kognitive und soziale Ressourcen und Einschränkungen erfasst. Das Geriatrische Assessment sollte die fünf Parameter des Frailty-Phänotyps enthalten und kann als Grundlage für die Berechnung eines FI dienen. Einschränkungen sollten gezielt mit interdisziplinär abgestimmten Maßnahmen behandelt werden, die an die Ziele, Belastbarkeit und Kontextfaktoren der betroffenen Personen angepasst sind (18). Angehörige, Betreuer und Pflegende sollten intensiv und frühzeitig eingebunden werden.

**Auswahl der Maßnahmen **

Neben den Ergebnissen des geriatrischen Assessments kann der Frailty-Phänotyp genutzt werden, um die Interventionen auszuwählen, zu priorisieren und zu steuern. Folgende Interventionen gelten–alleine oder in Kombination–als grundsätzlich wirksam: • Trainingsinterventionen zur Verbesserung von Kraft und zum Muskelaufbau • Körperliches Training und körperliche Aktivität • Ernährungstherapie und -supplementierung • kognitives Training • Überprüfung der Medikamente und Reduktion der Polypharmazie, • interprofessionelle Betreuung

Körperliches Training

Körperliches Training wirkt sich auf alle Teilsysteme des Körpers aus, deren Funktion bei Frailty beeinträchtigt sein kann. Neben Skelettmuskulatur, Nerven- und Herz-Kreislauf-System zählen dazu auch das Hormon- und Immunsystem. Trainingsinterventionen sollten vor allem Muskelkraft, Ausdauer und Gleichgewicht verbessern, sowie die körperliche Funktion bei Aktivitäten des täglichen Lebens. Erprobte Programme werden eingangs von geschulten Therapeuten angeleitet und sollten dann von den betroffenen Personen zunehmend selbstständig im Umfang von >2h/Woche durchgeführt werden. Sie sind auf längere Zeit (≥6 Monate) angelegt.

Körperliche Aktivität

Über das strukturierte, geplante Training hinaus sollten ältere Menschen ermutigt und befähigt werden, sich regelmäßig körperlich zu betätigen. Dabei hilft der Abbau von Barrieren, wie beispielsweise muskuloskelettalen Schmerzen, Depressionen und finanziellen Einschränkungen. Die körperliche Aktivität sollte angenehm, bedeutsam, sicher und realistisch sein. Empfohlen werden 150-180 Minuten moderate körperliche Aktivität pro Woche.

Ernährung

Unter- und Mangelernährung beeinträchtigen die Muskelmasse und -funktion und damit zwei wichtige Konstituenten der Sarkopenie und physischen Frailty. Die Evidenz für die Effekte solitärer Ernährungsintervention auf das Frailty-Syndrom ist unklar. Spezifische und individualisierte Ernährungsinterventionen können jedoch zu einer verbesserten Muskelmasse und –funktion führen, insbesondere in Kombination mit körperlichem Training.

Proteinbedarf

Der zum Erhalt der Muskelmasse nötige Proteinbedarf liegt bei älteren Menschen zwischen 1,0 und 1,2g/kg Körpergewicht pro Tag. Er steigt auf bis zu 1,5 g/kg Körpergewicht bei Menschen mit Frailty und bei körperlichem Training.

Ausblick

Multimodale Konzepte Die komplexe Gesundheitssituation älterer, multifaktoriell betroffener, multimorbiderund mitunter auch kognitiv beeinträchtigter Patienten erfordert ein professionelles Management. Die monomodale Therapie einer (Einweisungs-)Diagnose wird zunehmend einer interprofessionellen Versorgung weichen, die individuelle Ressourcen und Risikofaktoren berücksichtigt und sich auf Selbstständigkeit und Lebensqualität der Patienten konzentriert.

Heterogene Personengruppe Das Risiko älterer Menschen alleine aufgrund des kalendarischen Alters einzustufen, ist aufgrund der großen Heterogenität in dieser Bevölkerungsgruppe hinsichtlich der funktionellen Leistungsfähigkeit und des individuellen Gesundheitszustandes nicht empfehlenswert.

Perspektivwechsel nötig Der Umgang mit Patienten mit Frailty erfordert, die klinische Perspektive zu verändern, weg von einem stellenweise immer noch subjektiven, emotional besetzen und unscharfen Verständnis hin zu einem quantifizierbaren Syndrom. Die Sicherung der Versorgungsqualität, Neu- und Weiterentwicklung, Evidenzbasierung und Kommunikation diagnostischer und therapeutischer Konzepte stellt hohe Anforderungen an die multimodalen Konzepte und die Kooperation der Experten aus unterschiedlichen Berufsgruppen.

Zusammenfassende Kernaussagen

Frailty ist ein physiologisches Syndrom, charakterisiert durch eine reduzierte Reserve, verminderte Abwehrfähigkeit gegenüber Stressoren und Anfälligkeit für negative Gesundheitsereignisse.

Frailty entsteht aus einem kumulierenden Niedergang multipler physiologischer Systeme.

Der Frailty-Phänotyp ist ein diagnostisches Instrument, welches die physische Frailty älterer Personen anhand von drei Graduierungen („fit“,„pre-frail“,„frail“) beurteilt.

Vor präventiven und therapeutischen Maßnahmen sollte ein geriatrisches Assessment erfolgen.

Die Versorgung älterer Menschen mit Frailty ist komplex und aufwändig. Die Hauptkomponenten gegen Frailty sind ein bedarfsgerechtes und individuelles körperliches Training und Ernährungsinterventionen.

Literatur: • Braun T, Thiel C, Schulz R-J, Grüneberg C. 2017. Diagnostik und Behandlung physischer Frailty. Dtsch. Med. Wochenschr. 142, 2:117–22 • Fried LP, Tangen CM, Walston J, Newman AB, Hirsch C, et al. 2001. Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J. Gerontol. A. Biol. Sci. Med. Sci. 56, 3:146–56 • Clegg A, Rogers L, Young J. 2015. Diagnostic test accuracy of simple instruments for identifying frailty in communi¬ty-dwelling older people: a systematic review. Age Ageing 44, 1:148–52 • De Vries NM, Staal JB, van Ravensberg CD, Hobbelen JSM, Olde Rikkert MGM, et al. 2011. Outcome instruments to mea¬sure frailty: a systematic review. Ageing Res. Rev. 10, 1:104 • Grüneberg C, Braun T, Bahns C, Thiel C. 2018. Diagnostik und Intervention bei älteren Menschen mit Frailty Ein Fallbericht (2018). pt Zeitschrift für Physiotherapeuten, 33-43 • Mitnitski AB, Mogilner AJ, Rockwood K. 2001. Accumulation of deficits as a proxy measure of aging. Scientific World Jour¬nal 1:323–36 • Morley J, Abbatecola A, Argiles J, Baracos V, Bauer J, et al. 2011. Sarcopenia with limited mobility: an international con¬sensus. J. Am. Med. Dir. Assoc. 12, 6:403–9 • Romero-Ortuno R, O’Shea D. 2013. Fitness and frailty: oppo¬site ends of a challenging continuum! Will the end of age discrimination make frailty assessments an imperative? Age Ageing 42, 3:279–80 • Rockwood K, Mitnitski A. 2007. Frailty in relation to the accumulation of deficits. J. Gerontol. A. Biol. Sci. Med. Sci. 62, 7:722–7 • Rockwood K, Song X, MacKnight C, Bergman H, Hogan DB, et al. 2005. A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people. CMAJ 173, 5:489–95

––– Prof. Dr. Christian Grüneberg Leiter Studienbereich Physiotherapie| Head of the Physiotherapy Division P +49 234 77727 - 620 · F +49 234 77727 - 820 christian.grueneberg@hs-gesundheit.de 2nd Floor, Room B-2433 ––– hsg Bochum · Hochschule für Gesundheit University of Applied Sciences Gesundheitscampus 6 – 8 · 44801 Bochum | Germany www.hs-gesundheit.de · hsg-magazin

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Frailty: was bedeutet dieses geriatrische Syndrom für unsere Patienten? Wie kann es diagnostiziert, quantifiziert und günstig beeinflusst werden?

"Frailty"- ein Podcast-Beitrag von Prof. Christian Grüneberg

Stand: 06.01.2021

Jeder fünfte ältere Mensch in Deutschland ist von Frailty betroffen, einem geriatrischen Syndrom, das mit einem erhöhten Risiko für negative Gesundheitsereignisse assoziiert ist. Im Podcast beschreibe ich, wie Frailty nach aktuellen Leitlinien erhoben, quantifiziert und behandelt werden kann. Körperliches Training gilt dabei als Kernkomponente einer multimodalen Behandlung im interdisziplinären Team.

Einführung

Einem gängigen Konzept zufolge befindet sich ein älterer Mensch auf einem sogenannten Fitness-Frailty-Kontinuum zwischen den beiden Extremen fit /Fitness (körperlich und geistig leistungsfähig) und frail /Frailty (gebrechlich). Das Fitness-Frailty-Kontinuum ermöglicht vermutlich eine bessere Risikoeinstufung als das chronologische Alter. Frailty ist definiert als ein physiologisches Syndrom, das durch eine reduzierte Reserve und eine verminderte Abwehrfähigkeit von Stressoren charakterisiert ist. Menschen mit Frailty haben gegenüber nicht gebrechlichen Menschen ein erhöhtes Risiko, negative Gesundheitsereignisse zu erleiden. Zu diesen Ereignissen gehören unter anderem Stürze, Krankenhauseinweisungen, Aktivitäts¬einschränkungen und Mortalität. Laut einer Meta-Analyse ist bei Menschen mit Frailty das Risiko zu stürzen um 84 Prozent beziehungsweise 24 Prozent erhöht. Das Mortalitätsrisiko ist doppelt so hoch. Abhängig von Erhebungsmethode, Population und Nationalität liegt die Frailty-Prävalenz bei 14 bis 24 Prozent in der Bevölke-rungsgruppe der über 65-Jährigen. Diese steigt mit zunehmendem Alter an und ist bei Frauen höher als bei Männern. Clegg et al. beschreiben die pathophysiologischen Prozesse der Frailty und gehen dabei grundsätzlich von einem kumulativen Schaden an mehreren physiologischen Systemen und Organen aus. Die Autoren schreiben aber auch der körperlichen Inaktivität und einem ungünstigen Ernährungsverhalten eine zentrale Rolle zu. Zur Entstehung von Frailty trägt in diesem Zusammenhang auch die Sarkopenie bei, eine über¬mäßige Atrophie der Skelettmuskulatur einherge-hend mit Kraftverlust und /oder funktionellen Einschränkungen.

**Zwei konzeptionelle Frailty-Modelle **

Die zwei gängigsten konzeptuellen Modelle der Frailty sind der Frailty-Phänotyp und das Defizit-Akkumulations-Modell. Der Phä¬notyp wird auch als „physische Frailty“ oder „Fried-Modell“ bezeichnet und geht von einem physiologischen Syndrom aus (biologisches Modell: Veränderungen von Energieaufnahme und -umsatz ursächlich für funktionellen Niedergang). Das Defizit-Akkumulations-Modell oder „Rockwood-Modell“ basiert auf der Annahme, dass eine Ansammlung von Einschränkungen physischer, sozialer, kognitiver und anderer Funktionen ursäch¬lich für die Entwicklung des Frailty-Syndroms ist. Die Ausprägung der Frailty wird anhand eines sogenannten Frailty Index (FI) bemessen. Beide Frailty-Modelle sind klinisch gut operationalisierbar und weisen eine gute prognostische Validität bezüglich relevanter Ergebnisse wie Überlebensrate, Pflegebedürf-tigkeit und Stürze auf. Je nach Modell kommen unterschiedliche Messinstrumente zum Einsatz.

Erhebung des physischen Frailty- Phänotyps

Zur Erhebung des physischen Frailty-Phänotyps werden fünf Parameter herangezogen: Erschöpfung, Gewichtsverlust, geringe körperliche Aktivität, Mobili¬tät (langsame Gehgeschwindigkeit) und Muskelkraft (geringe Handkraft). Je nach Ausprägung werden die untersuchten Personen als robust (kein Kriterium erfüllt), pre-frail /intermediär (ein oder zwei Kriterien erfüllt) oder als frail (drei oder mehr Kriterien erfüllt) eingestuft.

**Erhebung von Frailty als Akkumulation von Defiziten mittels FI **

Anhand des Defizit-Akkumulations-Modells kann Frailty als Index ausgedrückt werden. Dabei werden mindestens 30 verschiedene Variablen mit bestimmten Kriterien erfasst. Hierzu eignen sich unter anderem Krankheitssymptome (zum Beispiel Stimmung), Krankheitszeichen, abnormale Laborwerte, radiologische Untersuchungen und Funktionseinschränkungen. Der FI ist eine einfache Berechnung der Erfüllung oder Nichterfüllung der einzelnen Kriterien als Pro¬portion zur Gesamtsumme. So errechnet sich für eine Person, bei der zehn von 50 Defiziten vorliegen, ein FI von 10 /50 = 0,20. Der FI kann so theoretisch einen Wert zwischen null und eins annehmen. Beim Defizit-Akkumulations-Modell wird davon ausge¬gangen, dass Personen entlang des Fitness-Frailty-Kontinuums umso fragiler sind, je höher der FI ist. Der empirisch ermittelte Grenzwert, ab dem eine Person vom robusten Stadium in ein Frailty-Stadium übertritt, liegt bei ≥ 0,25.

Assessments und Screening

Wenngleich Frailty progressiv verläuft, sind Veränderungen des Frailty-Status möglich. Best-Practice-Leitlinien zur Behandlung von Frailty empfeh¬len folgendes Vorgehen: Bei Verdacht auf Frailty erfolgt eine eingehende Diagnos¬tik mittels Geriatrischem Assessment, das physische, emotionale, psycho-logisch-kognitive und soziale Ressourcen und Einschränkungen erfasst. Das Geri¬atrische Assessment sollte die fünf Para¬meter des Frailty-Phänotyps enthalten und kann als Grundlage für die Berech¬nung eines FI dienen. Einschränkun¬gen sollten gezielt mit interdisziplinär abgestimmten Maßnahmen behandelt werden, die an die Ziele, Belastbarkeit und Kontextfaktoren der betroffenen Personen angepasst sind. Angehörige, Betreuer und Pflegende sollten intensiv und frühzeitig eingebunden werden. Dent et al. publizierten sieben Handlungsempfehlungen bei Patienten mit Frailty. Um betroffene Patienten gezielt zu versorgen oder rechtzeitig auf risikoreiche Interventionen (z. B. chirurgischen Eingriffen) vorzubereiten gilt es, Frailty frühzeitig zu erkennen. Die Notwendigkeit, Frailty in der medizinischen Versorgung aller älteren Menschenroutinemäßig zu berücksichtigen, wird zurzeit kontroversdiskutiert.

Eine internationale Konsensusgruppe empfiehlt ein Screening auf physische Frailty bei • Personen ≥70 Jahren und • Personen, die im letzten Jahr ≥5% ihres Gewichtes verloren haben Hierzu stehen kurze Fragebogen, wie PRISMA-7 oder die FRAIL-Scale, sowie einfache Tests der Mobilität zur Verfügung.

Leitliniengestützte Versorgung

Best-Practice-Leitlinien zur Behandlung von Frailty empfehlen bei Verdacht auf Frailty eine eingehende Diagnostik mittels Geriatrischem Assessment, das physische, emotionale, psychologisch-kognitive und soziale Ressourcen und Einschränkungen erfasst. Das Geriatrische Assessment sollte die fünf Parameter des Frailty-Phänotyps enthalten und kann als Grundlage für die Berechnung eines FI dienen. Einschränkungen sollten gezielt mit interdisziplinär abgestimmten Maßnahmen behandelt werden, die an die Ziele, Belastbarkeit und Kontextfaktoren der betroffenen Personen angepasst sind (18). Angehörige, Betreuer und Pflegende sollten intensiv und frühzeitig eingebunden werden.

**Auswahl der Maßnahmen **

Neben den Ergebnissen des geriatrischen Assessments kann der Frailty-Phänotyp genutzt werden, um die Interventionen auszuwählen, zu priorisieren und zu steuern. Folgende Interventionen gelten–alleine oder in Kombination–als grundsätzlich wirksam: • Trainingsinterventionen zur Verbesserung von Kraft und zum Muskelaufbau • Körperliches Training und körperliche Aktivität • Ernährungstherapie und -supplementierung • kognitives Training • Überprüfung der Medikamente und Reduktion der Polypharmazie, • interprofessionelle Betreuung

Körperliches Training

Körperliches Training wirkt sich auf alle Teilsysteme des Körpers aus, deren Funktion bei Frailty beeinträchtigt sein kann. Neben Skelettmuskulatur, Nerven- und Herz-Kreislauf-System zählen dazu auch das Hormon- und Immunsystem. Trainingsinterventionen sollten vor allem Muskelkraft, Ausdauer und Gleichgewicht verbessern, sowie die körperliche Funktion bei Aktivitäten des täglichen Lebens. Erprobte Programme werden eingangs von geschulten Therapeuten angeleitet und sollten dann von den betroffenen Personen zunehmend selbstständig im Umfang von >2h/Woche durchgeführt werden. Sie sind auf längere Zeit (≥6 Monate) angelegt.

Körperliche Aktivität

Über das strukturierte, geplante Training hinaus sollten ältere Menschen ermutigt und befähigt werden, sich regelmäßig körperlich zu betätigen. Dabei hilft der Abbau von Barrieren, wie beispielsweise muskuloskelettalen Schmerzen, Depressionen und finanziellen Einschränkungen. Die körperliche Aktivität sollte angenehm, bedeutsam, sicher und realistisch sein. Empfohlen werden 150-180 Minuten moderate körperliche Aktivität pro Woche.

Ernährung

Unter- und Mangelernährung beeinträchtigen die Muskelmasse und -funktion und damit zwei wichtige Konstituenten der Sarkopenie und physischen Frailty. Die Evidenz für die Effekte solitärer Ernährungsintervention auf das Frailty-Syndrom ist unklar. Spezifische und individualisierte Ernährungsinterventionen können jedoch zu einer verbesserten Muskelmasse und –funktion führen, insbesondere in Kombination mit körperlichem Training.

Proteinbedarf

Der zum Erhalt der Muskelmasse nötige Proteinbedarf liegt bei älteren Menschen zwischen 1,0 und 1,2g/kg Körpergewicht pro Tag. Er steigt auf bis zu 1,5 g/kg Körpergewicht bei Menschen mit Frailty und bei körperlichem Training.

Ausblick

Multimodale Konzepte Die komplexe Gesundheitssituation älterer, multifaktoriell betroffener, multimorbiderund mitunter auch kognitiv beeinträchtigter Patienten erfordert ein professionelles Management. Die monomodale Therapie einer (Einweisungs-)Diagnose wird zunehmend einer interprofessionellen Versorgung weichen, die individuelle Ressourcen und Risikofaktoren berücksichtigt und sich auf Selbstständigkeit und Lebensqualität der Patienten konzentriert.

Heterogene Personengruppe Das Risiko älterer Menschen alleine aufgrund des kalendarischen Alters einzustufen, ist aufgrund der großen Heterogenität in dieser Bevölkerungsgruppe hinsichtlich der funktionellen Leistungsfähigkeit und des individuellen Gesundheitszustandes nicht empfehlenswert.

Perspektivwechsel nötig Der Umgang mit Patienten mit Frailty erfordert, die klinische Perspektive zu verändern, weg von einem stellenweise immer noch subjektiven, emotional besetzen und unscharfen Verständnis hin zu einem quantifizierbaren Syndrom. Die Sicherung der Versorgungsqualität, Neu- und Weiterentwicklung, Evidenzbasierung und Kommunikation diagnostischer und therapeutischer Konzepte stellt hohe Anforderungen an die multimodalen Konzepte und die Kooperation der Experten aus unterschiedlichen Berufsgruppen.

Zusammenfassende Kernaussagen

Frailty ist ein physiologisches Syndrom, charakterisiert durch eine reduzierte Reserve, verminderte Abwehrfähigkeit gegenüber Stressoren und Anfälligkeit für negative Gesundheitsereignisse.

Frailty entsteht aus einem kumulierenden Niedergang multipler physiologischer Systeme.

Der Frailty-Phänotyp ist ein diagnostisches Instrument, welches die physische Frailty älterer Personen anhand von drei Graduierungen („fit“,„pre-frail“,„frail“) beurteilt.

Vor präventiven und therapeutischen Maßnahmen sollte ein geriatrisches Assessment erfolgen.

Die Versorgung älterer Menschen mit Frailty ist komplex und aufwändig. Die Hauptkomponenten gegen Frailty sind ein bedarfsgerechtes und individuelles körperliches Training und Ernährungsinterventionen.

Literatur: • Braun T, Thiel C, Schulz R-J, Grüneberg C. 2017. Diagnostik und Behandlung physischer Frailty. Dtsch. Med. Wochenschr. 142, 2:117–22 • Fried LP, Tangen CM, Walston J, Newman AB, Hirsch C, et al. 2001. Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J. Gerontol. A. Biol. Sci. Med. Sci. 56, 3:146–56 • Clegg A, Rogers L, Young J. 2015. Diagnostic test accuracy of simple instruments for identifying frailty in communi¬ty-dwelling older people: a systematic review. Age Ageing 44, 1:148–52 • De Vries NM, Staal JB, van Ravensberg CD, Hobbelen JSM, Olde Rikkert MGM, et al. 2011. Outcome instruments to mea¬sure frailty: a systematic review. Ageing Res. Rev. 10, 1:104 • Grüneberg C, Braun T, Bahns C, Thiel C. 2018. Diagnostik und Intervention bei älteren Menschen mit Frailty Ein Fallbericht (2018). pt Zeitschrift für Physiotherapeuten, 33-43 • Mitnitski AB, Mogilner AJ, Rockwood K. 2001. Accumulation of deficits as a proxy measure of aging. Scientific World Jour¬nal 1:323–36 • Morley J, Abbatecola A, Argiles J, Baracos V, Bauer J, et al. 2011. Sarcopenia with limited mobility: an international con¬sensus. J. Am. Med. Dir. Assoc. 12, 6:403–9 • Romero-Ortuno R, O’Shea D. 2013. Fitness and frailty: oppo¬site ends of a challenging continuum! Will the end of age discrimination make frailty assessments an imperative? Age Ageing 42, 3:279–80 • Rockwood K, Mitnitski A. 2007. Frailty in relation to the accumulation of deficits. J. Gerontol. A. Biol. Sci. Med. Sci. 62, 7:722–7 • Rockwood K, Song X, MacKnight C, Bergman H, Hogan DB, et al. 2005. A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people. CMAJ 173, 5:489–95

––– Prof. Dr. Christian Grüneberg Leiter Studienbereich Physiotherapie| Head of the Physiotherapy Division P +49 234 77727 - 620 · F +49 234 77727 - 820 christian.grueneberg@hs-gesundheit.de 2nd Floor, Room B-2433 ––– hsg Bochum · Hochschule für Gesundheit University of Applied Sciences Gesundheitscampus 6 – 8 · 44801 Bochum | Germany www.hs-gesundheit.de · hsg-magazin

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