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INSEL-GESCHICHTEN - Ascension, die Ratten und das Paradies

23:23
 
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Sie ist ein Experimentierfeld am Ende der Welt: die Atlantikinsel Ascension, auf halbem Weg zwischen Afrika und Südamerika. Hier entstand ab Mitte des 19. Jahrhunderts das erste künstlich geschaffene Ökosystem der Welt. Die Briten siedelten zahlreiche neue Pflanzen und Tiere an. Doch die koloniale Unterwerfung der Insel durch die Briten zeigt bis heute Schattenseiten. Von Lukas Grasberger (BR 2023)

Credits
Autor: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Regina Stärke, Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: João Vitor Tossini, Dr. Nicola Weber, Prof. David Wilkinson
Linktipps:
Deutschlandfunk Kultur (2023): Über die Tücke der ökologischen Zeitbombe
Dem Klimaschutz läuft die Zeit davon: Wenn die Erderwärmung begrenzt werden soll, braucht es globale Anstrengungen, warnt der IPCC. Der Philosoph Hans Jonas entwarf bereits 1979 eine globale Umweltethik. Heute ist sie aktueller denn je. JETZT ANHÖREN

ARD alpha (2021): Leben auf dem Mars?
Gibt es - oder gab es Leben auf dem Mars? Und wenn ja, wie könnte dieses Leben aussehen? Die Antwort finden wir möglicherweise auf der Erde. JETZT ANSEHEN

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 01:17 – Eine Insel im Dornröschenschlaf
TC 03:05 – Die steinerne Fregatte
TC 06:30 – Ethische Fragen der Flora und Fauna
TC 10:53 – Das Problem Vögeln, Ratten und Katzen
TC 14:07 – Ist da doch ein Plan(et) B?
TC 22:38 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro

ATMO

ERZÄHLERIN
Eine Insel irgendwo im Nirgendwo, Mitten im Atlantik. Eigentlich nur ein größerer Felshaufen im Wasser - flächenmäßig in etwa so groß wie Würzburg. Jedoch so uninteressant, dass selbst frühe portugiesische Eroberer nur kurz einen Fuß daraufsetzten. Um fortan einen großen Bogen um das wüste Eiland zu machen. Mit diesen wenigen Worten könnte die Geschichte der Insel Ascension erzählt sein. Eigentlich.

MUSIK

Denn Ascension, diese Insel, auf der wahrscheinlich sechs, sieben Millionen Jahre lang so gut wie nichts passierte, seit sie sich nach einem Vulkanausbruch über die Meeresoberfläche erhob: Diese Insel wurde in den letzten gut 200 Jahren zu einem Knotenpunkt der Weltgeschichte. Und sie sollte sich letztendlich zu einem biologischen Labor unter freiem Himmel entwickeln - das sogar Antworten auf drängende Zukunftsfragen unserer Zeit liefern könnte.
TC 01:17 – Eine Insel im Dornröschenschlaf

ATMO

Es ist eine Entwicklung, die keineswegs absehbar ist, als die Seefahrer João da Nova und Afonso de Albuquerque Anfang des 16. Jahrhunderts wohl als erste Menschen Ascension Island betreten.

O-Ton 1 João Vitor Tossini, Politikwissenschaftler, englisch, deutsche Overvioce, Teil 1
„Diese portugiesischen Seefahrer machten nur kurz Station auf Ascension – das übrigens einer Überlieferung nach so heißt, weil Albuquerque sie am Feiertag von Christi Himmelfahrt erstmals gesichtet haben soll.“

ERZÄHLERIN
...weiß der brasilianische Politikwissenschaftler Vítor Tossini.

O-Ton 1 Tossini Teil 2
„Auf der Insel gab es kaum Wasser. Lebensfeindliche Bedingungen also, weshalb weder da Nova, noch ein paar Jahre später Albuquerque formale Besitzansprüche geltend machten. Die Portugiesen hatten kein Interesse daran, die Inseln bewohnbar zu machen und sie zu besiedeln.“

ERZÄHLERIN
Für gut 300 Jahre fiel die unwirtliche Insel erneut in einen Dornröschenschlaf. Im 17. Jahrhundert beschrieb ein schiffbrüchiger Seemann die Insel mit den Worten: “Jeder hätte gedacht, dass der Teufel persönlich hier seine Wohnstatt genommen - und den Eingang der Hölle hierhin verlegt hat.”

MUSIK

ERZÄHLERIN
Nicht viel schmeichelhafter äußerte sich der britische Naturforscher Charles Darwin, der 1836 zur ersten geologischen Expedition nach Ascension kam.

ZITATOR
„Der Tag war klar und heiß: Und ich sah eine Insel, die mir nicht in Schönheit zulächelte, sondern mich in nackter Hässlichkeit anstarrte. Die Lavaströme sind mit Hügeln bedeckt. Die Landschaft ist in einem Ausmaß zerfurcht, die sich geologisch nicht einfach erklären lässt.“
TC 03:05 – Die steinerne Fregatte

ERZÄHLERIN
Trotz der wenig einladenden Geologie, trotz der äußerst kargen Fauna und Flora sollte Ascension doch bald interessant für die seefahrenden Nationen der Neuzeit werden. Dies lag vor allem an Napoleon. Die Briten verbannten den französischen Ex-Kaiser nach dessen letzter Kriegs-Niederlage bei Waterloo auf die Atlantikinsel St. Helena – die 1300 Kilometer entfernte Nachbarinsel von Ascension.

O-Ton 2 Tossini OV
„Die Briten sagten sich: Wenn wir Napoleon nach St. Helena ins Exil schicken, dann brauchen wir eine Präsenz in der Region. Damit nicht das gleiche passiert wie in Elba, wo Napoleon zuletzt entkommen konnte.“

ERZÄHLERIN
Großbritannien baute Ascension Island zu einer „steinernen Fregatte“ aus. Da es der Königlichen Marine selbst untersagt war, über Land zu herrschen, stellten die Briten Ascension tatsächlich als Kriegs-Schiff in ihren Dienst. Solche „steinernen Fregatten“, sagt Vítor Tossini, wurden im 19. Jahrhundert zu strategische wichtigen Stützpunkten, mit denen das British Empire seine Position als globale Großmacht festigte.

O-Ton 3 Tossini OV
„Stützpunkte wie Ascension Island waren wichtig, als es um Napoleon ging. Sie sollten etwas später eine bedeutende Zwischenstation für britische Schiffe auf dem Weg in die Kolonien, zunächst Ost-Indien, dann Südafrika werden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Ascension und St. Helena zu Häfen, die Dampfschiffe auf diesen langen Routen mit Kohle versorgen konnten.“

MUSIK

ERZÄHLERIN
Die Lage von Ascension Mitten im Südatlantik erlaubte es Großbritannien, gleich einer Spinne die Fäden im weltumspannenden Netz der Macht zu spinnen: So beschreibt es der Experte für internationale Politik, Vítor Tossini. Mit seinen „steinernen Fregatten“ machte Großbritannien seinen Einfluss geltend – etwa für die Abschaffung des Sklavenhandels. Dies, betont Tossini, sei weniger aus christlicher Nächstenliebe oder Humanismus geschehen. Vielmehr fürchtete Großbritannien im globalen Markt um die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Produkte.

O-Ton 4 Tossini OV
„Großbritannien hatte Anfang des 19. Jahrhunderts den Handel mit Sklaven im British Empire abgeschafft – und drängte andere Nationen, es ihm gleichzutun. Das Parlament in Brasilien verabschiedete dazu eine Reihe von Gesetzen, um die Briten zu besänftigen. Praktisch ging der Sklavenhandel jedoch weiter. Deshalb begann Großbritannien, die Muskeln spielen zu lassen, und fing brasilianische Handelsschiffe ab – besonders solche Boote, die Sklaven transportierten. Wichtige Haltepunkte dafür waren St. Helena und Ascension Island: Mitten im Atlantik, genau zwischen Afrika und Brasilien waren sie dafür perfekt gelegen.“

ERZÄHLERIN
Ihren zuallererst militärisch-machtpolitischen Charakter hat die Insel, auf der offiziell gerade einmal 800 Menschen dauerhaft leben, bis heute behalten. Vítor Tossini:

O-Ton 5 Tossini OV
SPRECHER
„Bis zum heutigen Tag kann niemand eine Liegenschaft auf Ascension Island erwerben, und niemand darf sich dauerhaft dort niederlassen. Man kann seinen Aufenthalt dort verlängern - aber ob das gewährt wird: Das hängt von der britischen Regierung ab.“
TC 06:30 – Ethische Fragen der Flora und Fauna

MUSIK

ERZÄHLERIN
Um die karge Insel für die zeitweise dort stationierten Briten attraktiver zu machen, entwickelten zwei Biologen einen gewagten Plan. Charles Darwin und sein Kollege Joseph Hooker schlugen der britischen Marine vor, Bäume, Sträucher und andere Pflanzen nach Ascension zu bringen. Ein neues, künstlich angelegtes Ökosystem entstand, weiß Nicola Weber. Die promovierte Biologin forscht und lehrt an der der University of Exeter. Von 2013 bis 2016 war Weber verantwortlich für den Naturschutz auf Ascension.

O-Ton 6 Dr. Nicola Weber englisch, dt. OV
„Schiffe brachten Flora aller Art – und aus den verschiedensten Teilen der Welt nach Ascension. Vieles kam aus Key Gardens, dem Londoner Botanischen Garten, zu dem Joseph Hooker gute Beziehungen hatte. Diese Bäume, Büsche und Blumen wurden auf dem Green Mountain, dem Grünen Hügel gepflanzt.“

ZITATOR
„Nach oben hin findet man ein Dickicht von 40 verschiedenen Baumarten, daneben wachsen zahlreiche Sträucher und Obstbäume“.

ERZÄHLERIN
...heißt es in John Croumbie Browns Studie „Wälder und Feuchtigkeit“ aus dem Jahr 1877. Binnen weniger Jahrzehnte war also auf dem „Grünen Berg“ von Ascension üppige Vegetation entstanden. Die ursprüngliche Idee, die Versorgung der Inselbewohner mit Obst und Gemüse vor Ort zu verbessern, schien erreicht. Doch gelöst waren die Wassernöte Ascensions damit noch keineswegs. Und auch das neue Ökosystem, der frische Bergwald, der Wasser aus den Wolken kämmte, erwies sich als fragil: Die neu eingeführte Flora und Fauna bedrohte endemische, seit Langem auf der Insel heimische Tiere und Gewächse.

O-Ton 7 Dave Wilkinson engl., dt. OV
„Solch ein Vorgehen führt fast zwangsläufig dazu, dass man Arten ausrottet.“

ERZÄHLERIN
...sagt der Ökologe Dave Wilkinson, Professor an der University of Lincoln.

O-Ton 8 Wilkinson OV
„Diese Begrünung von Ascension war ein Experiment, das man heutzutage wohl als unethisch ablehnen würde. Fände man unberührte Natur, dann versuchte man sicher alles zu tun, sie genauso zu erhalten. Andererseits: Dieser neu geschaffene tropische Wald war viel artenreicher als die Natur, die vorher da war. Es mag vorher 20, vielleicht 30 Pflanzenarten gegeben haben: Vor allem Gräser, Farne oder Moose. Heute dürften wir ein paar hundert Arten dort haben.“

ERZÄHLERIN
Das „Experiment von Ascension“ wirft – Mitten in der aktuellen Biodiversitätskrise - Fragen nach dem Preis, und dem Wert des Erhalts einzelner Arten auf. Fragen, die eher ethischer und philosophischer als biologischer Natur sind. Nicola Weber:

O-Ton 9 Weber OV
„Naturerhalt bedeutete für uns stets, invasive Arten loszuwerden – und einer Landschaft zu erlauben, in den Zustand zurückzukehren, bevor der Mensch sich einmischte. Hier auf Ascension hat eindeutig der Mensch diese invasiven Arten eingeführt. Müssen wir nun unsere Fehler beheben, und diese ausrotten? Oder müssen wir – als Verursacher dieses Problems – mit den Folgen leben und Wege finden, wie Fauna und Flora sich dem anpassen können?“

ERZÄHLERIN
Mit dem Lehrbuchwissen zu Natur- und Artenschutz komme man auf Acension nicht weiter, betont die Biologin. Ein vielfältiges und ausgeglichenes Ökosystem, das resilient auf die aktuellen und kommenden Krisen reagieren kann: Dies ist demnach erstrebenswerter - als eine Insel wie etwa Ascension in einen fragilen, artenarmen Urzustand zurückzuführen. Nicola Weber hat auf Ascension Island die „friedliche“ Koexistenz einheimischer und invasiver Arten beobachtet.

O-Ton 10 Weber OV
„Ja, es gibt Fälle, in denen eine invasive eine einheimische Art verdrängt hat. Es gibt hier aber auch das Beispiel, wo etwa ein invasiver Baum einer endemischen Art einen Lebensraum bietet.“
TC 10:53 – Das Problem Vögeln, Ratten und Katzen

MUSIK

ERZÄHLERIN
Eine solcherart friedliche Koexistenz sicherzustellen – das gelinge nicht immer, räumt die Wissenschaftlerin Weber ein. Das bekannteste Beispiel: Die Ratten, die irgendwann beim Zwischenstopp eines Segelschiffs Anfang des 18. Jahrhunderts auf die Atlantikinsel gelangt sein müssen. Ein niederländischer Seefahrer, der 1720 auf Ascension strandete, berichtete, er habe angesichts der Masse an Ratten um sein Leben gefürchtet. Die Ratten von Ascension nährten sich nicht nur von menschlichen Hinterlassenschaften. Sie dürften, so vermutet die ehemalige Konservatorin der Insel, die Landvögel auf der Insel ausgerottet haben. Und begannen dann, die Nester der Seevögel zu plündern. Nicola Weber:

O-Ton 11 Weber OV
„Nachdem die Ratten sich auf Ascension einmal angesiedelt hatten, begannen sie die Eier der Seevögel zu räubern, was deren Bestände dezimierte. Dies taten sie jedoch nicht in dem Ausmaß wie später die Katzen – die man eigentlich auf die Insel gebracht hatte, um die Rattenplage zu bekämpfen. Die Katzen interessierten sich aber nicht sonderlich für die Ratten, ihnen schmeckten die Vögel besser. Das sollte katastrophale Auswirkungen auf die Seevögel-Populationen haben.“

ERZÄHLERIN
2001 entwickelten Vogelschützer gemeinsam mit der britischen Regierung daher einen umstrittenen Plan: Die wilden Katzen sollten getötet werden, um den Seevögeln – die sich auf Ascension vorgelagerte Felsen zurückgezogen hatten – die Rückkehr zu ermöglichen.

O-Ton 12 Weber OV
„Es gab lange ethische und moralische Diskussionen, eine Volksbefragung, bei der sich zahlreiche Bewohner gegen die Ausrottung der Wildkatzen aussprachen. Als man dann begann, die Tiere zu vergiften, erwischte es auf der Insel auch viele Hauskatzen: Fast 40 Prozent wurden unabsichtlich getötet. Aus Artenschutz-Perspektive war diese Maßnahme aber erfolgreich. Gleich nachdem die Wildkatzen ausgerottet waren, kehrten die Seevögel zurück. Zuerst die Maskentölpel, später eine endemische Fregattvogel-Art. Mittlerweile sind elf Seevogel-Arten zurückgekehrt, wir haben mehrere Tausend Paare, die auf der Insel nisten.“

ERZÄHLERIN
Trotzdem sei es schwierig, das Ökosystem im Gleichgewicht zu halten, räumt Nicola Weber ein. Bedingungen zu schaffen, in denen Vielfalt gedeihen kann – ohne dass eine Pflanze oder ein Tier ein anderes verdrängt. Sollte eine Art sich zu aggressiv ausbreiten und radikale Eingriffe nötig werden, müssten darüber nicht die Biologen, sondern die Gesellschaft als Ganzes entscheiden.

O-Ton 13 Weber OV
„Die Ausrottung einer Tier- oder Pflanzenart auf Ascension ist ein emotionales Thema, das die auch Interessen der Bewohner berührt. Wir haben gelernt, dass man in alle Programme zum Management dieses vom Menschen geschaffenen Ökosystems die Öffentlichkeit von Anfang an einbinden muss. Denn es kann auch schiefgehen. Vieles funktioniert hier nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. „Trial and Error“ hat eine lange Geschichte hier, es hat Ascension geprägt.“
TC 14:07 – Ist da doch ein Plan(et) B?

MUSIK

ERZÄHLERIN
Der aus „Versuch und Irrtum“ entstandene neue Nebelwald von Ascension stellt - nach Ansicht manches Experten - als gesichert geltende Erkenntnisse der Biologie auf den Prüfstand. Denn klassischerweise, sagt der britische Forscher Dave Wilkinson, werde die Frage, wie ein so komplexes Ökosystem wie am Green Mountain entstehen kann, mit „Koevolution“ erklärt. Koevolution meint einen oft lange andauernden, ausgefeilten Prozess, in dem sich zwei Arten wechselseitig aneinander anpassen – um daraus ihren Nutzen ziehen. Etwa bei Schmetterlingen und Orchideen: Eine Orchidee braucht das Insekt zur Bestäubung – und bietet diesem süßen Nektar, der allerdings in einem tiefen Blütenkelch schlummert. Schmetterlinge passten sich daran an, indem sie einen besonders langen Rüssel entwickelten, um den Nektar zu erreichen. In Summe entstünde aus solchen langwierigen, komplexen Prozessen ein neues Ökosystem, so die Theorie. Dave Wilkinson hat auf Ascension jedoch etwas ganz anderes beobachtet.

O-Ton 14 Wilkinson OV
„Das Ökosystem am Green Mountain wurde am Reißbrett in weniger als 50 Jahren geschaffen. Das hat mir gezeigt, dass es vielleicht nicht immer diesen langen Prozess der Koevolution zwischen Organismen – Pflanzen und Tieren – braucht. Ascension ist eher ein Beispiel für „Ecological Fitting“. Das bedeutet, es werden Arten bunt zusammengewürfelt. Findet eine Pflanze oder ein Tier passende Bedingungen vor, überlebt es. Wenn nicht, stirbt es aus.“

ERZÄHLERIN
Für den Biologie-Professor Dave Wilkinson ist Ascension Island damit ein Studienobjekt, das zumindest ein wenig Hoffnung macht im Kampf gegen die Klimakrise.

O-Ton 15 Wilkinson OV
„Wenn wir uns heute Sorgen darüber machen, wie lange etwa ein gerodeter Regenwald braucht, um sich zu regenerieren, dann zeigt ein Beispiel wie Ascension: Das kann unter bestimmten Umständen sehr schnell geschehen. Schnell bedeutet in diesem Zusammenhang: Eine für die Menschheit relevante Zeitspanne von ein- bis zweihundert Jahren.“

ERZÄHLERIN
Dass einmal gerodeter Tropenwald nachwächst – dies funktioniere aber auf Grund des einfacheren Kreislaufs von Verdunstung, Kondensation und Regen mitten im Meer einfacher als etwa im brasilianischen Binnenland mit dem komplexeren Ökosystem des Amazonas. Rode man dort zu große Flächen, so trockne der Boden aus, der Wald sei unwiederbringlich verloren.

MUSIK

ERZÄHLERIN
David Wilkinson hält Acension für „untererforscht“, was die Potenziale der Insel anbelangt. Und er vertritt eine sehr gewagte Hypothese: Wenn es auf einer kargen Vulkaninsel Mitten im Atlantik gelingt, binnen weniger Jahrzehnte ein neues Ökosystem zu etablieren, dann könnte dies auch auch auf einem anderen Planeten gelingen.

O-Ton 16 Wilkinson OV
„Es handelt sich um die Idee des Terraforming, die ein wenig nach Science-Fiction klingt. Will man einen fremden Planten wie etwa den Mars für den Menschen bewohnbar machen, dann könnte man damit anfangen, Bedingungen zu schaffen, dass das Leben auf sehr niedriger Stufe möglich wird: Wie das etwa auf der Erde der Fall war, wo es am Anfang kaum Sauerstoff gab, der dann aber dank der Photosynthese von Pflanzen zunahm, was wiederum das Wachstum neuer Vegetation ermöglicht. Eine Dynamik, die sich aus sich selbst speist. Ein Ökosystem, das sich selbst erhält und reproduziert, wie wir es auch auf Ascension beobachten konnten: Auch dort hat man es der Natur überlassen, ihren eigenen Weg zu finden.“

ERZÄHLERIN
Dass Ascension quasi eine Blaupause für Leben auf dem Mars abgeben könnte – das ist Zukunftsmusik. Bei der Erkundung anderer Planeten, für die Raumfahrt spielte – und spielt - die Insel indes bereits eine wichtige Rolle.

ATMO

ERZÄHLERIN
Es waren nicht die NASA-Mitarbeiter im Kontrollzentrum Houston – sondern ihre Kollegen auf Ascension Island, die 1969 die Nachricht von der erfolgreichen Mondlandung der amerikanischen Astrounauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin empfingen. Doch nicht nur bei der Erkundung des Alls, auch für die ganz weltliche militärische Eroberung und Verteidigung war Ascension Island bedeutend. Ob als Zwischenlande-Platz für Flugzeuge der Alliierten im Zweiten Weltkrieg – oder für die Logistik des britischen Militärs während des Kriegs um die Falkland Inseln im Jahr 1982.

O-Ton 17 Tossini OV
„Interessanterweise gab es Uneinigkeit mit den USA über diese kriegerische Nutzung: Die Amerikaner waren dagegen, Ascension zur Machtprojektion zu nutzen: also seine politischen Interessen auch mit Androhung oder Anwendung von Gewalt durchzusetzen –
auch weit entfernt vom eigenen Territorium. Premierministerin Margret Thatcher pochte jedoch auf die britische Souveränität, und betonte, Ascension sei die Insel der Krone - und damit „unsere“ Insel.“

MUSIK

ERZÄHLERIN
Ascension Island galt nach der britischen Verteidigung der Falkland-Inseln mehr denn je als „unversenkbarer Flugzeugträger“, mit dem Großbritannien seine Interessen im Südatlantik durchsetzen konnte.
Heute setzt man Vítor Tossini zufolge weniger auf offene militärische Gewaltdemonstration, um sich Vorteile im internationalen Mächtespiel zu verschaffen, führt Vitor Tossini aus. Politische Widersacher – und zuweilen auch Partner – würden vielmehr ausgespäht, auch von der Atlantikinsel aus. Davon künden zahlreiche Abhör-Anlagen des britischen Geheimdienstes GCHQ, aber auch der US-amerikanischen NSA, die auf Ascension ihre Antennen in die Luft recken. Der brasilianische Experte für internationale Politik, Vítor Tossini:

O-Ton 18 Tossini OV
„Man muss die Abhör-Anlagen als Teil der Geheimdienst-Kooperation „Five Eyes“ sehen. Dabei arbeiten Großbritannien, die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zusammen. Es ist wie ein Puzzle einer möglichst lückenlosen weltweiten Überwachung, zu dem jedes der Länder seinen Teil beiträgt – und die Basis auf Ascension dürfte sich auf ihrer Lage gut dazu eignen, den afrikanischen Kontinent, aber auch brasilianische oder argentinische Telekommunikation abzuhören.“
ERZÄHLERIN
Weltweit verfüge der britische Geheimdienst über Einrichtungen zur militärischen und nachrichtendienstlichen elektronischen Aufklärung. Ob auf Ascension, Gibraltar oder Zypern – auf abgeschirmten Inseln wie Ascension bleibe der Öffentlichkeit mehr denn je verborgen, was genau Geheimdienste treiben - und wie effektiv diese smartere, digitale Art der Kriegsführung wirklich funktioniere.
Gegner und Partner über die wahre Macht und Bedeutung von Ascension im Unklaren zu lassen – dies dürfte indes durchaus im Interesse Großbritanniens liegen, betont der Politikwissenschaftler Vítor Tossini.

O-Ton 19 Tossini OV
„Es ist eine sehr große Spannbreite, wozu diese Insel den Briten nützlich sein kann. Man kann sich Ascension vorstellen als Instrument zur konventionellen Kriegsführung, wie auch der äußerst unkonventionellen, etwa zur Satellitenbild-Auswertung durch Geheimdienste. Theoretisch könnten sowohl Großbritannien wie auch die USA sogar Atomwaffen auf Ascension stationieren – ohne damit internationale Verträge zu brechen. Wie auch immer: Übersee-Gebiete wie Ascension helfen Großbritannien, trotz seiner eigentlich bescheidenen Größe ein bedeutender Akteur auf der internationalen Bühne zu bleiben – und quasi oberhalb seiner eigentlichen Gewichtsklasse zu kämpfen.“

MUSIK

ERZÄHLERIN
Ascension Island – einst schon für Charles Darwins und Joseph Hooker ein „Experiment am Ende der Welt“ - ist damit bis heute in vielerlei Hinsicht eine Insel der Möglichkeiten geblieben - die auch in Zukunft einige Überraschungen bereithalten dürfte…
TC 22:38 – Outro

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Sie ist ein Experimentierfeld am Ende der Welt: die Atlantikinsel Ascension, auf halbem Weg zwischen Afrika und Südamerika. Hier entstand ab Mitte des 19. Jahrhunderts das erste künstlich geschaffene Ökosystem der Welt. Die Briten siedelten zahlreiche neue Pflanzen und Tiere an. Doch die koloniale Unterwerfung der Insel durch die Briten zeigt bis heute Schattenseiten. Von Lukas Grasberger (BR 2023)

Credits
Autor: Lukas Grasberger
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Rahel Comtesse, Andreas Neumann, Friedrich Schloffer
Technik: Regina Stärke, Christine Frey
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: João Vitor Tossini, Dr. Nicola Weber, Prof. David Wilkinson
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Deutschlandfunk Kultur (2023): Über die Tücke der ökologischen Zeitbombe
Dem Klimaschutz läuft die Zeit davon: Wenn die Erderwärmung begrenzt werden soll, braucht es globale Anstrengungen, warnt der IPCC. Der Philosoph Hans Jonas entwarf bereits 1979 eine globale Umweltethik. Heute ist sie aktueller denn je. JETZT ANHÖREN

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Gibt es - oder gab es Leben auf dem Mars? Und wenn ja, wie könnte dieses Leben aussehen? Die Antwort finden wir möglicherweise auf der Erde. JETZT ANSEHEN

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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TC 00:15 – Intro
TC 01:17 – Eine Insel im Dornröschenschlaf
TC 03:05 – Die steinerne Fregatte
TC 06:30 – Ethische Fragen der Flora und Fauna
TC 10:53 – Das Problem Vögeln, Ratten und Katzen
TC 14:07 – Ist da doch ein Plan(et) B?
TC 22:38 – Outro
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TC 00:15 – Intro

ATMO

ERZÄHLERIN
Eine Insel irgendwo im Nirgendwo, Mitten im Atlantik. Eigentlich nur ein größerer Felshaufen im Wasser - flächenmäßig in etwa so groß wie Würzburg. Jedoch so uninteressant, dass selbst frühe portugiesische Eroberer nur kurz einen Fuß daraufsetzten. Um fortan einen großen Bogen um das wüste Eiland zu machen. Mit diesen wenigen Worten könnte die Geschichte der Insel Ascension erzählt sein. Eigentlich.

MUSIK

Denn Ascension, diese Insel, auf der wahrscheinlich sechs, sieben Millionen Jahre lang so gut wie nichts passierte, seit sie sich nach einem Vulkanausbruch über die Meeresoberfläche erhob: Diese Insel wurde in den letzten gut 200 Jahren zu einem Knotenpunkt der Weltgeschichte. Und sie sollte sich letztendlich zu einem biologischen Labor unter freiem Himmel entwickeln - das sogar Antworten auf drängende Zukunftsfragen unserer Zeit liefern könnte.
TC 01:17 – Eine Insel im Dornröschenschlaf

ATMO

Es ist eine Entwicklung, die keineswegs absehbar ist, als die Seefahrer João da Nova und Afonso de Albuquerque Anfang des 16. Jahrhunderts wohl als erste Menschen Ascension Island betreten.

O-Ton 1 João Vitor Tossini, Politikwissenschaftler, englisch, deutsche Overvioce, Teil 1
„Diese portugiesischen Seefahrer machten nur kurz Station auf Ascension – das übrigens einer Überlieferung nach so heißt, weil Albuquerque sie am Feiertag von Christi Himmelfahrt erstmals gesichtet haben soll.“

ERZÄHLERIN
...weiß der brasilianische Politikwissenschaftler Vítor Tossini.

O-Ton 1 Tossini Teil 2
„Auf der Insel gab es kaum Wasser. Lebensfeindliche Bedingungen also, weshalb weder da Nova, noch ein paar Jahre später Albuquerque formale Besitzansprüche geltend machten. Die Portugiesen hatten kein Interesse daran, die Inseln bewohnbar zu machen und sie zu besiedeln.“

ERZÄHLERIN
Für gut 300 Jahre fiel die unwirtliche Insel erneut in einen Dornröschenschlaf. Im 17. Jahrhundert beschrieb ein schiffbrüchiger Seemann die Insel mit den Worten: “Jeder hätte gedacht, dass der Teufel persönlich hier seine Wohnstatt genommen - und den Eingang der Hölle hierhin verlegt hat.”

MUSIK

ERZÄHLERIN
Nicht viel schmeichelhafter äußerte sich der britische Naturforscher Charles Darwin, der 1836 zur ersten geologischen Expedition nach Ascension kam.

ZITATOR
„Der Tag war klar und heiß: Und ich sah eine Insel, die mir nicht in Schönheit zulächelte, sondern mich in nackter Hässlichkeit anstarrte. Die Lavaströme sind mit Hügeln bedeckt. Die Landschaft ist in einem Ausmaß zerfurcht, die sich geologisch nicht einfach erklären lässt.“
TC 03:05 – Die steinerne Fregatte

ERZÄHLERIN
Trotz der wenig einladenden Geologie, trotz der äußerst kargen Fauna und Flora sollte Ascension doch bald interessant für die seefahrenden Nationen der Neuzeit werden. Dies lag vor allem an Napoleon. Die Briten verbannten den französischen Ex-Kaiser nach dessen letzter Kriegs-Niederlage bei Waterloo auf die Atlantikinsel St. Helena – die 1300 Kilometer entfernte Nachbarinsel von Ascension.

O-Ton 2 Tossini OV
„Die Briten sagten sich: Wenn wir Napoleon nach St. Helena ins Exil schicken, dann brauchen wir eine Präsenz in der Region. Damit nicht das gleiche passiert wie in Elba, wo Napoleon zuletzt entkommen konnte.“

ERZÄHLERIN
Großbritannien baute Ascension Island zu einer „steinernen Fregatte“ aus. Da es der Königlichen Marine selbst untersagt war, über Land zu herrschen, stellten die Briten Ascension tatsächlich als Kriegs-Schiff in ihren Dienst. Solche „steinernen Fregatten“, sagt Vítor Tossini, wurden im 19. Jahrhundert zu strategische wichtigen Stützpunkten, mit denen das British Empire seine Position als globale Großmacht festigte.

O-Ton 3 Tossini OV
„Stützpunkte wie Ascension Island waren wichtig, als es um Napoleon ging. Sie sollten etwas später eine bedeutende Zwischenstation für britische Schiffe auf dem Weg in die Kolonien, zunächst Ost-Indien, dann Südafrika werden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Ascension und St. Helena zu Häfen, die Dampfschiffe auf diesen langen Routen mit Kohle versorgen konnten.“

MUSIK

ERZÄHLERIN
Die Lage von Ascension Mitten im Südatlantik erlaubte es Großbritannien, gleich einer Spinne die Fäden im weltumspannenden Netz der Macht zu spinnen: So beschreibt es der Experte für internationale Politik, Vítor Tossini. Mit seinen „steinernen Fregatten“ machte Großbritannien seinen Einfluss geltend – etwa für die Abschaffung des Sklavenhandels. Dies, betont Tossini, sei weniger aus christlicher Nächstenliebe oder Humanismus geschehen. Vielmehr fürchtete Großbritannien im globalen Markt um die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Produkte.

O-Ton 4 Tossini OV
„Großbritannien hatte Anfang des 19. Jahrhunderts den Handel mit Sklaven im British Empire abgeschafft – und drängte andere Nationen, es ihm gleichzutun. Das Parlament in Brasilien verabschiedete dazu eine Reihe von Gesetzen, um die Briten zu besänftigen. Praktisch ging der Sklavenhandel jedoch weiter. Deshalb begann Großbritannien, die Muskeln spielen zu lassen, und fing brasilianische Handelsschiffe ab – besonders solche Boote, die Sklaven transportierten. Wichtige Haltepunkte dafür waren St. Helena und Ascension Island: Mitten im Atlantik, genau zwischen Afrika und Brasilien waren sie dafür perfekt gelegen.“

ERZÄHLERIN
Ihren zuallererst militärisch-machtpolitischen Charakter hat die Insel, auf der offiziell gerade einmal 800 Menschen dauerhaft leben, bis heute behalten. Vítor Tossini:

O-Ton 5 Tossini OV
SPRECHER
„Bis zum heutigen Tag kann niemand eine Liegenschaft auf Ascension Island erwerben, und niemand darf sich dauerhaft dort niederlassen. Man kann seinen Aufenthalt dort verlängern - aber ob das gewährt wird: Das hängt von der britischen Regierung ab.“
TC 06:30 – Ethische Fragen der Flora und Fauna

MUSIK

ERZÄHLERIN
Um die karge Insel für die zeitweise dort stationierten Briten attraktiver zu machen, entwickelten zwei Biologen einen gewagten Plan. Charles Darwin und sein Kollege Joseph Hooker schlugen der britischen Marine vor, Bäume, Sträucher und andere Pflanzen nach Ascension zu bringen. Ein neues, künstlich angelegtes Ökosystem entstand, weiß Nicola Weber. Die promovierte Biologin forscht und lehrt an der der University of Exeter. Von 2013 bis 2016 war Weber verantwortlich für den Naturschutz auf Ascension.

O-Ton 6 Dr. Nicola Weber englisch, dt. OV
„Schiffe brachten Flora aller Art – und aus den verschiedensten Teilen der Welt nach Ascension. Vieles kam aus Key Gardens, dem Londoner Botanischen Garten, zu dem Joseph Hooker gute Beziehungen hatte. Diese Bäume, Büsche und Blumen wurden auf dem Green Mountain, dem Grünen Hügel gepflanzt.“

ZITATOR
„Nach oben hin findet man ein Dickicht von 40 verschiedenen Baumarten, daneben wachsen zahlreiche Sträucher und Obstbäume“.

ERZÄHLERIN
...heißt es in John Croumbie Browns Studie „Wälder und Feuchtigkeit“ aus dem Jahr 1877. Binnen weniger Jahrzehnte war also auf dem „Grünen Berg“ von Ascension üppige Vegetation entstanden. Die ursprüngliche Idee, die Versorgung der Inselbewohner mit Obst und Gemüse vor Ort zu verbessern, schien erreicht. Doch gelöst waren die Wassernöte Ascensions damit noch keineswegs. Und auch das neue Ökosystem, der frische Bergwald, der Wasser aus den Wolken kämmte, erwies sich als fragil: Die neu eingeführte Flora und Fauna bedrohte endemische, seit Langem auf der Insel heimische Tiere und Gewächse.

O-Ton 7 Dave Wilkinson engl., dt. OV
„Solch ein Vorgehen führt fast zwangsläufig dazu, dass man Arten ausrottet.“

ERZÄHLERIN
...sagt der Ökologe Dave Wilkinson, Professor an der University of Lincoln.

O-Ton 8 Wilkinson OV
„Diese Begrünung von Ascension war ein Experiment, das man heutzutage wohl als unethisch ablehnen würde. Fände man unberührte Natur, dann versuchte man sicher alles zu tun, sie genauso zu erhalten. Andererseits: Dieser neu geschaffene tropische Wald war viel artenreicher als die Natur, die vorher da war. Es mag vorher 20, vielleicht 30 Pflanzenarten gegeben haben: Vor allem Gräser, Farne oder Moose. Heute dürften wir ein paar hundert Arten dort haben.“

ERZÄHLERIN
Das „Experiment von Ascension“ wirft – Mitten in der aktuellen Biodiversitätskrise - Fragen nach dem Preis, und dem Wert des Erhalts einzelner Arten auf. Fragen, die eher ethischer und philosophischer als biologischer Natur sind. Nicola Weber:

O-Ton 9 Weber OV
„Naturerhalt bedeutete für uns stets, invasive Arten loszuwerden – und einer Landschaft zu erlauben, in den Zustand zurückzukehren, bevor der Mensch sich einmischte. Hier auf Ascension hat eindeutig der Mensch diese invasiven Arten eingeführt. Müssen wir nun unsere Fehler beheben, und diese ausrotten? Oder müssen wir – als Verursacher dieses Problems – mit den Folgen leben und Wege finden, wie Fauna und Flora sich dem anpassen können?“

ERZÄHLERIN
Mit dem Lehrbuchwissen zu Natur- und Artenschutz komme man auf Acension nicht weiter, betont die Biologin. Ein vielfältiges und ausgeglichenes Ökosystem, das resilient auf die aktuellen und kommenden Krisen reagieren kann: Dies ist demnach erstrebenswerter - als eine Insel wie etwa Ascension in einen fragilen, artenarmen Urzustand zurückzuführen. Nicola Weber hat auf Ascension Island die „friedliche“ Koexistenz einheimischer und invasiver Arten beobachtet.

O-Ton 10 Weber OV
„Ja, es gibt Fälle, in denen eine invasive eine einheimische Art verdrängt hat. Es gibt hier aber auch das Beispiel, wo etwa ein invasiver Baum einer endemischen Art einen Lebensraum bietet.“
TC 10:53 – Das Problem Vögeln, Ratten und Katzen

MUSIK

ERZÄHLERIN
Eine solcherart friedliche Koexistenz sicherzustellen – das gelinge nicht immer, räumt die Wissenschaftlerin Weber ein. Das bekannteste Beispiel: Die Ratten, die irgendwann beim Zwischenstopp eines Segelschiffs Anfang des 18. Jahrhunderts auf die Atlantikinsel gelangt sein müssen. Ein niederländischer Seefahrer, der 1720 auf Ascension strandete, berichtete, er habe angesichts der Masse an Ratten um sein Leben gefürchtet. Die Ratten von Ascension nährten sich nicht nur von menschlichen Hinterlassenschaften. Sie dürften, so vermutet die ehemalige Konservatorin der Insel, die Landvögel auf der Insel ausgerottet haben. Und begannen dann, die Nester der Seevögel zu plündern. Nicola Weber:

O-Ton 11 Weber OV
„Nachdem die Ratten sich auf Ascension einmal angesiedelt hatten, begannen sie die Eier der Seevögel zu räubern, was deren Bestände dezimierte. Dies taten sie jedoch nicht in dem Ausmaß wie später die Katzen – die man eigentlich auf die Insel gebracht hatte, um die Rattenplage zu bekämpfen. Die Katzen interessierten sich aber nicht sonderlich für die Ratten, ihnen schmeckten die Vögel besser. Das sollte katastrophale Auswirkungen auf die Seevögel-Populationen haben.“

ERZÄHLERIN
2001 entwickelten Vogelschützer gemeinsam mit der britischen Regierung daher einen umstrittenen Plan: Die wilden Katzen sollten getötet werden, um den Seevögeln – die sich auf Ascension vorgelagerte Felsen zurückgezogen hatten – die Rückkehr zu ermöglichen.

O-Ton 12 Weber OV
„Es gab lange ethische und moralische Diskussionen, eine Volksbefragung, bei der sich zahlreiche Bewohner gegen die Ausrottung der Wildkatzen aussprachen. Als man dann begann, die Tiere zu vergiften, erwischte es auf der Insel auch viele Hauskatzen: Fast 40 Prozent wurden unabsichtlich getötet. Aus Artenschutz-Perspektive war diese Maßnahme aber erfolgreich. Gleich nachdem die Wildkatzen ausgerottet waren, kehrten die Seevögel zurück. Zuerst die Maskentölpel, später eine endemische Fregattvogel-Art. Mittlerweile sind elf Seevogel-Arten zurückgekehrt, wir haben mehrere Tausend Paare, die auf der Insel nisten.“

ERZÄHLERIN
Trotzdem sei es schwierig, das Ökosystem im Gleichgewicht zu halten, räumt Nicola Weber ein. Bedingungen zu schaffen, in denen Vielfalt gedeihen kann – ohne dass eine Pflanze oder ein Tier ein anderes verdrängt. Sollte eine Art sich zu aggressiv ausbreiten und radikale Eingriffe nötig werden, müssten darüber nicht die Biologen, sondern die Gesellschaft als Ganzes entscheiden.

O-Ton 13 Weber OV
„Die Ausrottung einer Tier- oder Pflanzenart auf Ascension ist ein emotionales Thema, das die auch Interessen der Bewohner berührt. Wir haben gelernt, dass man in alle Programme zum Management dieses vom Menschen geschaffenen Ökosystems die Öffentlichkeit von Anfang an einbinden muss. Denn es kann auch schiefgehen. Vieles funktioniert hier nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“. „Trial and Error“ hat eine lange Geschichte hier, es hat Ascension geprägt.“
TC 14:07 – Ist da doch ein Plan(et) B?

MUSIK

ERZÄHLERIN
Der aus „Versuch und Irrtum“ entstandene neue Nebelwald von Ascension stellt - nach Ansicht manches Experten - als gesichert geltende Erkenntnisse der Biologie auf den Prüfstand. Denn klassischerweise, sagt der britische Forscher Dave Wilkinson, werde die Frage, wie ein so komplexes Ökosystem wie am Green Mountain entstehen kann, mit „Koevolution“ erklärt. Koevolution meint einen oft lange andauernden, ausgefeilten Prozess, in dem sich zwei Arten wechselseitig aneinander anpassen – um daraus ihren Nutzen ziehen. Etwa bei Schmetterlingen und Orchideen: Eine Orchidee braucht das Insekt zur Bestäubung – und bietet diesem süßen Nektar, der allerdings in einem tiefen Blütenkelch schlummert. Schmetterlinge passten sich daran an, indem sie einen besonders langen Rüssel entwickelten, um den Nektar zu erreichen. In Summe entstünde aus solchen langwierigen, komplexen Prozessen ein neues Ökosystem, so die Theorie. Dave Wilkinson hat auf Ascension jedoch etwas ganz anderes beobachtet.

O-Ton 14 Wilkinson OV
„Das Ökosystem am Green Mountain wurde am Reißbrett in weniger als 50 Jahren geschaffen. Das hat mir gezeigt, dass es vielleicht nicht immer diesen langen Prozess der Koevolution zwischen Organismen – Pflanzen und Tieren – braucht. Ascension ist eher ein Beispiel für „Ecological Fitting“. Das bedeutet, es werden Arten bunt zusammengewürfelt. Findet eine Pflanze oder ein Tier passende Bedingungen vor, überlebt es. Wenn nicht, stirbt es aus.“

ERZÄHLERIN
Für den Biologie-Professor Dave Wilkinson ist Ascension Island damit ein Studienobjekt, das zumindest ein wenig Hoffnung macht im Kampf gegen die Klimakrise.

O-Ton 15 Wilkinson OV
„Wenn wir uns heute Sorgen darüber machen, wie lange etwa ein gerodeter Regenwald braucht, um sich zu regenerieren, dann zeigt ein Beispiel wie Ascension: Das kann unter bestimmten Umständen sehr schnell geschehen. Schnell bedeutet in diesem Zusammenhang: Eine für die Menschheit relevante Zeitspanne von ein- bis zweihundert Jahren.“

ERZÄHLERIN
Dass einmal gerodeter Tropenwald nachwächst – dies funktioniere aber auf Grund des einfacheren Kreislaufs von Verdunstung, Kondensation und Regen mitten im Meer einfacher als etwa im brasilianischen Binnenland mit dem komplexeren Ökosystem des Amazonas. Rode man dort zu große Flächen, so trockne der Boden aus, der Wald sei unwiederbringlich verloren.

MUSIK

ERZÄHLERIN
David Wilkinson hält Acension für „untererforscht“, was die Potenziale der Insel anbelangt. Und er vertritt eine sehr gewagte Hypothese: Wenn es auf einer kargen Vulkaninsel Mitten im Atlantik gelingt, binnen weniger Jahrzehnte ein neues Ökosystem zu etablieren, dann könnte dies auch auch auf einem anderen Planeten gelingen.

O-Ton 16 Wilkinson OV
„Es handelt sich um die Idee des Terraforming, die ein wenig nach Science-Fiction klingt. Will man einen fremden Planten wie etwa den Mars für den Menschen bewohnbar machen, dann könnte man damit anfangen, Bedingungen zu schaffen, dass das Leben auf sehr niedriger Stufe möglich wird: Wie das etwa auf der Erde der Fall war, wo es am Anfang kaum Sauerstoff gab, der dann aber dank der Photosynthese von Pflanzen zunahm, was wiederum das Wachstum neuer Vegetation ermöglicht. Eine Dynamik, die sich aus sich selbst speist. Ein Ökosystem, das sich selbst erhält und reproduziert, wie wir es auch auf Ascension beobachten konnten: Auch dort hat man es der Natur überlassen, ihren eigenen Weg zu finden.“

ERZÄHLERIN
Dass Ascension quasi eine Blaupause für Leben auf dem Mars abgeben könnte – das ist Zukunftsmusik. Bei der Erkundung anderer Planeten, für die Raumfahrt spielte – und spielt - die Insel indes bereits eine wichtige Rolle.

ATMO

ERZÄHLERIN
Es waren nicht die NASA-Mitarbeiter im Kontrollzentrum Houston – sondern ihre Kollegen auf Ascension Island, die 1969 die Nachricht von der erfolgreichen Mondlandung der amerikanischen Astrounauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin empfingen. Doch nicht nur bei der Erkundung des Alls, auch für die ganz weltliche militärische Eroberung und Verteidigung war Ascension Island bedeutend. Ob als Zwischenlande-Platz für Flugzeuge der Alliierten im Zweiten Weltkrieg – oder für die Logistik des britischen Militärs während des Kriegs um die Falkland Inseln im Jahr 1982.

O-Ton 17 Tossini OV
„Interessanterweise gab es Uneinigkeit mit den USA über diese kriegerische Nutzung: Die Amerikaner waren dagegen, Ascension zur Machtprojektion zu nutzen: also seine politischen Interessen auch mit Androhung oder Anwendung von Gewalt durchzusetzen –
auch weit entfernt vom eigenen Territorium. Premierministerin Margret Thatcher pochte jedoch auf die britische Souveränität, und betonte, Ascension sei die Insel der Krone - und damit „unsere“ Insel.“

MUSIK

ERZÄHLERIN
Ascension Island galt nach der britischen Verteidigung der Falkland-Inseln mehr denn je als „unversenkbarer Flugzeugträger“, mit dem Großbritannien seine Interessen im Südatlantik durchsetzen konnte.
Heute setzt man Vítor Tossini zufolge weniger auf offene militärische Gewaltdemonstration, um sich Vorteile im internationalen Mächtespiel zu verschaffen, führt Vitor Tossini aus. Politische Widersacher – und zuweilen auch Partner – würden vielmehr ausgespäht, auch von der Atlantikinsel aus. Davon künden zahlreiche Abhör-Anlagen des britischen Geheimdienstes GCHQ, aber auch der US-amerikanischen NSA, die auf Ascension ihre Antennen in die Luft recken. Der brasilianische Experte für internationale Politik, Vítor Tossini:

O-Ton 18 Tossini OV
„Man muss die Abhör-Anlagen als Teil der Geheimdienst-Kooperation „Five Eyes“ sehen. Dabei arbeiten Großbritannien, die USA, Kanada, Australien und Neuseeland zusammen. Es ist wie ein Puzzle einer möglichst lückenlosen weltweiten Überwachung, zu dem jedes der Länder seinen Teil beiträgt – und die Basis auf Ascension dürfte sich auf ihrer Lage gut dazu eignen, den afrikanischen Kontinent, aber auch brasilianische oder argentinische Telekommunikation abzuhören.“
ERZÄHLERIN
Weltweit verfüge der britische Geheimdienst über Einrichtungen zur militärischen und nachrichtendienstlichen elektronischen Aufklärung. Ob auf Ascension, Gibraltar oder Zypern – auf abgeschirmten Inseln wie Ascension bleibe der Öffentlichkeit mehr denn je verborgen, was genau Geheimdienste treiben - und wie effektiv diese smartere, digitale Art der Kriegsführung wirklich funktioniere.
Gegner und Partner über die wahre Macht und Bedeutung von Ascension im Unklaren zu lassen – dies dürfte indes durchaus im Interesse Großbritanniens liegen, betont der Politikwissenschaftler Vítor Tossini.

O-Ton 19 Tossini OV
„Es ist eine sehr große Spannbreite, wozu diese Insel den Briten nützlich sein kann. Man kann sich Ascension vorstellen als Instrument zur konventionellen Kriegsführung, wie auch der äußerst unkonventionellen, etwa zur Satellitenbild-Auswertung durch Geheimdienste. Theoretisch könnten sowohl Großbritannien wie auch die USA sogar Atomwaffen auf Ascension stationieren – ohne damit internationale Verträge zu brechen. Wie auch immer: Übersee-Gebiete wie Ascension helfen Großbritannien, trotz seiner eigentlich bescheidenen Größe ein bedeutender Akteur auf der internationalen Bühne zu bleiben – und quasi oberhalb seiner eigentlichen Gewichtsklasse zu kämpfen.“

MUSIK

ERZÄHLERIN
Ascension Island – einst schon für Charles Darwins und Joseph Hooker ein „Experiment am Ende der Welt“ - ist damit bis heute in vielerlei Hinsicht eine Insel der Möglichkeiten geblieben - die auch in Zukunft einige Überraschungen bereithalten dürfte…
TC 22:38 – Outro

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