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ERSTER WELTKRIEG - Die Schüsse von Sarajewo
Manage episode 431769697 series 2822647
Sarajewo, 28. Juni 1914: Schüsse eines Attentäters treffen Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger vonÖsterreich-Ungarn, und seine Gattin Sophie. Einen Monat später stellt sich heraus: Es waren die ersten Schüsse des Ersten Weltkriegs. Die Hintergründe, die zum Ausbruch dieser "Urkatastrophe" führten, sind komplex. Bis heute werden sie intensiv diskutiert. Von Thomas Morawetz (BR 2008)
Credits
Autor: Thomas Morawetz
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Rainer Buck
Technik: Lydia Schön-Krimmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Dr. Katrin Boeckh, Dr. Peter Helmberger
Anmerkung der Redaktion: Prof. Dr. Katrin Boeckh war zum Zeitpunkt des Interviews Historikerin am Osteuropa-Institut in Regensburg. Inzwischen arbeitet sie am Leibniz.Institut für Ost- Und Südosteuropaforschung.
Linktipps:
ARD alpha (2014): Europas letzter Sommer – Die Julikrise 1914
Am 28. Juni 1914 wird in Sarajewo der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet. International nutzen Diplomaten und Staatslenker das Attentat als Vorwand, die eigene Macht zu vergrößern und alte Rechnungen zu begleichen. In nur wenigen Wochen stürzen Kompromisslosigkeit, Größenwahn und blinder Gehorsam den Kontinent in den bis dato größten Krieg der Menschheitsgeschichte. Das Dokumentarspiel von ARD-alpha aus der Reihe "Vom Reich zur Republik" beleuchtet die Zeit zwischen Attentat und Kriegsausbruch, die rückblickend auch als "Julikrise" in die Geschichte eingegangen ist. Im Fokus stehen dabei die komplexen Motivationen und Entscheidungsfindungen der Staatslenker und Diplomaten Europas. Basierend auf Originaldokumenten führt der Film den Zuschauer durch die Arbeits- und Konferenzzimmer der verschiedenen Machtzentren des Kontinents sowie durch die Clubs und Cafés der Hauptstädte, in denen die Gespräche zwischen den beteiligten Diplomaten stattfanden. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk (2018): Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajewo
Er war der Mann, der 1914 zur Pistole griff und den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau tötet: Gavrilo Princip, Unabhängigkeitskämpfer der Serben und Kroaten und Gegner der österreichisch-ungarischen Monarchie. Seine Tat löste mit den Ersten Weltkrieg aus. Princip starb am 28. April 1918. ZUM BEITRAG
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 - Intro
TC 02:00 – Folgen eines Machtvakuums
TC 05:33 – Die Kriegsschuldfrage
TC 09:12 – Von der Julikrise bis zum Weltkrieg
TC 12:29 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 - Intro
ATMO Straßengeräusch
SPRECHERIN
Sarajewo, die Hauptstadt Bosniens – Sonntag, der 28. Juni 1914, kurz nach 10 Uhr morgens:
SPRECHER
Eine Fahrzeugkolonne von sechs Autos setzt sich in Bewegung Richtung Innenstadt. Höchster Besuch! Seit wenigen Jahren ist Bosnien ein Teil von Österreich-Ungarn. Im dritten – offenen – Wagen sitzen der Österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie.
SPRECHERIN
Am Ende dieser Fahrt wird sich der Anlass für den Ersten Weltkrieg ergeben haben. Und am Ende des Krieges wird Deutschland dafür die Verantwortung zugesprochen werden.
SPRECHER
Die Route der Kolonne haben die Zeitungen schon vor Wochen bekannt gegeben. An den Straßen drängen sich die Schaulustigen und Jubelnden. Plötzlich wirft ein junger Mann eine Bombe gegen das Auto des Thronfolgers. Die Handgranate prallt ab und explodiert vor dem nächsten Wagen. Ein Insasse wird schwer verletzt.
SPRECHERIN
Verwirrung. Die Kolonne erreicht das Rathaus, dort fasst man sich wieder. Jetzt will der Thronfolger weiter, direkt ins Hospital zu seinem verletzten Begleiter.
SPRECHER
Wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt springt auf einmal ein junger Mann aus der Menge auf. Zwei Schüsse fallen. Der Erzherzog wird in die Halsschlagader getroffen, Sophie in den Unterleib. Der Mitfahrende Graf Harrach sagt später aus:
ZITATOR: Mitfahrender Harrach
Während das Auto zurückstieß, spritzte ein dünner Blutstrahl aus dem Munde seiner kaiserlichen Hoheit auf meine rechte Backe. … Den Erzherzog hörte ich dann sagen: `Sopherl, Sopherl, stirb mir nicht, bleibe für meine Kinder´.“
SPRECHERIN
Es ist zu spät. Die beiden erliegen ihren Verletzungen.
TC 02:00 – Folgen eines Machtvakuums
MUSIK
„Der Balkan: Hexenkessel Europas“
SPRECHER
Der Schütze, Gavrilo Princip, ist ein Heißsporn, ein junger bosnischer Student. Er und seine Mitattentäter sind serbische Nationalisten; in Bosnien leben etliche Serben! Für sie ist der Erzherzog nichts anderes als ein verhasster Besatzer. Denn Bosnien – finden die Serben – ist unser!
SPRECHERIN
Serbien – das kleine junge Königreich im Osten von Bosnien – erlebt gerade ein nationales Hochgefühl der Sonderklasse. Wie ein Luftballon bläht sich sein Selbstbewusstsein zwischen zwei alten Großmächten in der engen Region auf: zwischen Österreich und den Osmanen. Denn auf dem Balkan ist alles ins Rutschen geraten.
SPRECHER
Seit einigen Jahrzehnten sind die Osmanen auf dem Rückzug und hinterlassen ein Machtvakuum. Den Serben ist es deshalb vor kurzem gelungen, sich einen fetten Teil der Beute zu sichern: einen satten Gebietszuwachs und Hoffnung auf mehr!
SPRECHERIN
Denn Serbien träumt von einem jugoslawischen, wörtlich: „südslawischen“ Großreich unter seiner Führung auf dem Balkan. Katrin Boeckh ist Historikerin am Osteuropa-Institut in Regensburg:
ZUSP: BOECKH
Also, dieses Südslawische ging davon aus, dass man eben eine kulturelle, eine sprachliche, eine religiöse Gemeinsamkeit aller Südslawen hat, … und dass das eben dazu führen soll, dass man eine politische Einheit unter allen Südslawen herbeiführt.
SPRECHER
Exotisch ist der Gedanke nicht. Überall in Europa ist der Nationalismus modern und aggressiv. Doch gerade der serbische Traum ist brandgefährlich! Denn das Mittelmeer ist eine hoch sensible Region.
SPRECHERIN
Über das Mittelmeer muss Russland seine lebenswichtigen Getreideexporte abwickeln. Engländer und Franzosen laufen von dort Kolonien in Nordafrika an. Über den Suezkanal führen die Routen in den Indischen Ozean.
SPRECHER
Und: Für Österreich-Ungarn geht es auf dem Balkan vielleicht um alles: Die alte Großmacht ist angezählt. Ihr Hauptproblem: 12 Völker leben in ihr – hochexplosiv in nationalistischen Zeiten! Gelingt es nicht, den serbischen Nationalismus zu bändigen, könnte das ganze Reich in die Zentrifuge geraten.
SPRECHERIN
Die Doppelmonarchie sieht nur noch eine Lösung: stärker werden auf dem Balkan! Deshalb hat sie ihrerseits erst vor kurzem Bosnien annektiert – ihre Beute aus dem Türken-Erbe. Der Besuch des Thronfolgers war also tatsächlich eine Art Inspektion auf hoch gefährlichem Gelände.
SPRECHER
Steckt also Serbien hinter dem Attentat?
SPRECHERIN
Sicher scheint heute so viel: Die jungen Heißsporne um Princip hatten Hilfe gesucht für die Durchführung ihres Anschlags. Dabei sind sie an eine serbische Geheimorganisation geraten – die „Schwarze Hand“. Katrin Boeckh:
ZUSP. Boeckh
Also, die „Schwarze Hand“ – Crna ruka – ist eigentlich zu charakterisieren im heutigen Sinn als eine terroristische Vereinigung mit militärischem Hintergrund, also, hier spielen Offiziere eine große Rolle. Aber eine direkte Beteiligung der serbischen Regierung für dieses Attentat lässt sich nicht nachweisen.
SPRECHER
Hexenkessel Balkan! Doch was hat Deutschland damit zu tun? Immerhin formuliert nach dem Krieg eine Alliierte Note: Das Deutsche Reich trägt allein die Schuld am Ausbruch des Großen Krieges!
TC 05:33 – Die Kriegsschuldfrage
MUSIK
„Rückblende – Die Großmächte auf dem Weg zur Katastrophe“
SPRECHERIN
Die so genannte „Kriegsschuldfrage“ gehört zu den am leidenschaftlichsten diskutierten Streitfragen der jüngeren Geschichte. Im engeren Sinn bezieht sie sich auf die jetzt folgenden Julitage nach den Schüssen - dazu gleich.
SPRECHER
Doch zuerst die weiteren Zusammenhänge: Wie sehen die Machtverhältnisse in Europa aus, dass Deutschland in einen Balkankrieg geraten kann? Noch einmal also die Uhr zurückdrehen; gut 40 Jahre vor das Attentat, ins Jahr 1871, zur Gründung des Deutschen Reichs. Peter Helmberger ist Historiker an der Universität in München:
ZUSP. Helmberger
Mit dieser Gründung des neuen Deutschen Reiches … gibt es auf dem Kontinent eine große Zentralmacht – erstmals wieder – die von der Größe des Landes wie von der Bevölkerung für alle anderen Mächte erst einmal eine Neuerung darstellt und durchaus auch eine Herausforderung.
SPRECHERIN
Welchen Platz wird also der frisch geschlüpfte Riese im Kreis der Großen finden? Bismarck hat sich die Reichsgründung durch einen Krieg mit Frankreich ertrotzt. Ein Auftakt mit Gewalt.
SPRECHER
Und auch schon eine erste Ursache für die spätere Katastrophe: Frankreich wird das nicht vergessen. Und Deutschland weiß daher genau: Es muss sich in Acht nehmen: vor Frankreich und – vor Russland! Denn beide zusammen könnten das junge Reich von Westen und Osten her in die Zange nehmen. Geometrie der Macht.
SPRECHERIN
Erste Absicherungsmaßnahmen: 1879 schließt Deutschland mit Österreich-Ungarn den Zweibund der Mittelmächte. Nun würde es am liebsten auch Russland noch ins Boot bekommen. Doch das misslingt während der nächsten Jahre gründlich.
SPRECHER
Mit dramatischen Konsequenzen: Russland findet einen neuen Partner – ausgerechnet Frankreich! Großes Malheur!
MUSIK
SPRECHERIN
Nächste Etappe, die Jahre ab 1900: Deutschlands Selbstbewusstsein ist ungebrochen. Kaiser Wilhelm II. verkündet neue Ansprüche: Ein „Platz an der Sonne“ muss her! Das heißt: Deutschland will nun auch ins große Kolonialgeschäft einsteigen. Dafür beschließt es den Bau einer mächtigen Schlacht-Flotte.
Es ist natürlich eine klare Ansage an die übrigen europäischen Großmächte und in dem Fall insbesondere an die …
SPRECHER
Seemacht England – Das 19.Jh. war das Jahrhundert des Britischen Empire. Doch nun stößt es weltweit auf starke Konkurrenz: die aufstrebenden USA, auf Russland vom Mittelmeer bis zum Pazifik, auf Frankreich in Afrika! Und jetzt auch noch Deutschland!
SPRECHERIN
Wer sind die Guten, wer die Bösen? Es ist die Zeit des Hochimperialismus. Alle Großmächte kämpfen um Kolonien und um weltweite Marktzugänge. Jede Macht ein Hai für sich! Der Neuling Deutschland hofft, die Haie auszuspielen – bis er selbst umkreist wird.
SPRECHER
London versucht, sich Luft zu schaffen. Und tatsächlich: Ein Bündnis mit Frankreich gelingt – die Entente Cordiale. Bald darauf sitzt man auch mit dem Zaren am Tisch. Der Kreis der Entente-Mächte um Deutschland schließt sich.
SPRECHERIN
Die zehn Jahre vor Sarajewo sind nervenaufreibend – eine Krise nach der anderen. England, Frankreich, Russland werden dabei ein immer besseres Team. Der deutsche Kaiser zieht regelmäßig den Kürzeren. Die Stimmung im Reich ist geladen. Was kann man gegen die Einkreisung noch aufbieten? Peter Helmberger:
ZUSP Helmberger
Und dann ist Österreich-Ungarn tatsächlich der einzige Bündnispartner, den man noch hat, den man dann auch nicht schwächen kann.
SPRECHER
Ach ja, der Zweibund von 1879! Der Partner mit den schier unlösbaren Problemen! Durch ihn kommt Deutschland nun anstatt zu einem Platz an der Sonne – zu einem Krieg auf dem Balkan.
ATMO Schüsse
SPRECHERIN
Denn nun fallen die Schüsse von Sarajewo. Österreich kocht und will sich an den Serben rächen. Doch die haben einen mächtigen Beschützer für ihre südslawischen Träume: den großen slawischen Bruder – Russland! Der Zar braucht einen festen Stand am Mittelmeer. Was liegt also näher, als den kleinen Bruder zu beschützen?
TC 09:12 – Von der Julikrise bis zum Weltkrieg
MUSIK
„Die Julikrise – 31 Tage bis zu einer Menschheitskatastrophe“
SPRECHER
Der Countdown läuft. Die Tage nach dem Attentat heißen „Julikrise“. „Krise“ – denn immer noch gibt es politische Kräfte, die versuchen, am Krieg vorbei zu denken. Aber vor allem den Militärs brennt die Zeit schon auf den Nägeln!
SPRECHERIN
Besonders den Deutschen. Denn Österreich wartet auf Antwort aus Berlin: Wenn Österreich nämlich Serbien angreift, wird zwangsläufig auch Russland in den Krieg eintreten! Alleine hätte Österreich aber gegen Russland keine Chance. Wird Deutschland also zu seinem Bündnispartner stehen?
SPRECHER
Seit Jahren hat Deutschland einen Plan für einen möglichen Krieg gegen Russland: den Schlieffenplan. Er geht aus vom Zweifrontenkrieg. Das heißt: Russland kann nur besiegt werden, wenn vorher blitzartig auf der Westseite Frankreich bezwungen wird. Erst dann können sich alle Kräfte gegen das langsamere aber viel gewaltigere Russland richten. Die deutschen Generäle fordern also: jetzt oder nie!
SPRECHERIN
6. Juli: Deutschland gibt Österreich die berüchtigte Blanko-Vollmacht: Jede Reaktion gegenüber Serbien wird gedeckt. Am 28. Juli erklärt Österreich Serbien den Krieg. Die klaren Konsequenzen: Russland macht mobil. Dann erklärt Deutschland dem Zaren den Krieg: 1. August 1914!
SPRECHER
Schlieffenplanmäßig entfaltet sich das Desaster: Deutschland greift Frankreich an.
SPRECHERIN
Allerdings: Über das neutrale Belgien! Es liegt im Aufmarschgebiet der deutschen Divisionen. Ein klarer Völkerrechtsbruch mit enormen Folgen: Denn jetzt hat auch England einen Grund, um sich auf die Seite seiner Entente-Verbündeten zu schlagen. England erklärt Deutschland den Krieg.
SPRECHER
Deutschland, der eingekreiste Riese, hat nun endgültig einen schrecklichen Platz im Kreis der Großen gefunden. Es hat Österreich von der Leine gelassen, das neutrale Belgien überfallen und Frankreich angegriffen, damit es letztlich Krieg gegen Russland führen kann – um dadurch Österreich zu helfen. Nach dem Krieg wird es dafür zum Verursacher der Katastrophe erklärt werden.
TC 12:29 – Outro
365 Episoden
Manage episode 431769697 series 2822647
Sarajewo, 28. Juni 1914: Schüsse eines Attentäters treffen Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger vonÖsterreich-Ungarn, und seine Gattin Sophie. Einen Monat später stellt sich heraus: Es waren die ersten Schüsse des Ersten Weltkriegs. Die Hintergründe, die zum Ausbruch dieser "Urkatastrophe" führten, sind komplex. Bis heute werden sie intensiv diskutiert. Von Thomas Morawetz (BR 2008)
Credits
Autor: Thomas Morawetz
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Christian Baumann, Rahel Comtesse, Friedrich Schloffer, Rainer Buck
Technik: Lydia Schön-Krimmer
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview: Prof. Dr. Katrin Boeckh, Dr. Peter Helmberger
Anmerkung der Redaktion: Prof. Dr. Katrin Boeckh war zum Zeitpunkt des Interviews Historikerin am Osteuropa-Institut in Regensburg. Inzwischen arbeitet sie am Leibniz.Institut für Ost- Und Südosteuropaforschung.
Linktipps:
ARD alpha (2014): Europas letzter Sommer – Die Julikrise 1914
Am 28. Juni 1914 wird in Sarajewo der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet. International nutzen Diplomaten und Staatslenker das Attentat als Vorwand, die eigene Macht zu vergrößern und alte Rechnungen zu begleichen. In nur wenigen Wochen stürzen Kompromisslosigkeit, Größenwahn und blinder Gehorsam den Kontinent in den bis dato größten Krieg der Menschheitsgeschichte. Das Dokumentarspiel von ARD-alpha aus der Reihe "Vom Reich zur Republik" beleuchtet die Zeit zwischen Attentat und Kriegsausbruch, die rückblickend auch als "Julikrise" in die Geschichte eingegangen ist. Im Fokus stehen dabei die komplexen Motivationen und Entscheidungsfindungen der Staatslenker und Diplomaten Europas. Basierend auf Originaldokumenten führt der Film den Zuschauer durch die Arbeits- und Konferenzzimmer der verschiedenen Machtzentren des Kontinents sowie durch die Clubs und Cafés der Hauptstädte, in denen die Gespräche zwischen den beteiligten Diplomaten stattfanden. JETZT ANSEHEN
Deutschlandfunk (2018): Gavrilo Princip, der Attentäter von Sarajewo
Er war der Mann, der 1914 zur Pistole griff und den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau tötet: Gavrilo Princip, Unabhängigkeitskämpfer der Serben und Kroaten und Gegner der österreichisch-ungarischen Monarchie. Seine Tat löste mit den Ersten Weltkrieg aus. Princip starb am 28. April 1918. ZUM BEITRAG
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 - Intro
TC 02:00 – Folgen eines Machtvakuums
TC 05:33 – Die Kriegsschuldfrage
TC 09:12 – Von der Julikrise bis zum Weltkrieg
TC 12:29 – Outro
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 - Intro
ATMO Straßengeräusch
SPRECHERIN
Sarajewo, die Hauptstadt Bosniens – Sonntag, der 28. Juni 1914, kurz nach 10 Uhr morgens:
SPRECHER
Eine Fahrzeugkolonne von sechs Autos setzt sich in Bewegung Richtung Innenstadt. Höchster Besuch! Seit wenigen Jahren ist Bosnien ein Teil von Österreich-Ungarn. Im dritten – offenen – Wagen sitzen der Österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie.
SPRECHERIN
Am Ende dieser Fahrt wird sich der Anlass für den Ersten Weltkrieg ergeben haben. Und am Ende des Krieges wird Deutschland dafür die Verantwortung zugesprochen werden.
SPRECHER
Die Route der Kolonne haben die Zeitungen schon vor Wochen bekannt gegeben. An den Straßen drängen sich die Schaulustigen und Jubelnden. Plötzlich wirft ein junger Mann eine Bombe gegen das Auto des Thronfolgers. Die Handgranate prallt ab und explodiert vor dem nächsten Wagen. Ein Insasse wird schwer verletzt.
SPRECHERIN
Verwirrung. Die Kolonne erreicht das Rathaus, dort fasst man sich wieder. Jetzt will der Thronfolger weiter, direkt ins Hospital zu seinem verletzten Begleiter.
SPRECHER
Wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt springt auf einmal ein junger Mann aus der Menge auf. Zwei Schüsse fallen. Der Erzherzog wird in die Halsschlagader getroffen, Sophie in den Unterleib. Der Mitfahrende Graf Harrach sagt später aus:
ZITATOR: Mitfahrender Harrach
Während das Auto zurückstieß, spritzte ein dünner Blutstrahl aus dem Munde seiner kaiserlichen Hoheit auf meine rechte Backe. … Den Erzherzog hörte ich dann sagen: `Sopherl, Sopherl, stirb mir nicht, bleibe für meine Kinder´.“
SPRECHERIN
Es ist zu spät. Die beiden erliegen ihren Verletzungen.
TC 02:00 – Folgen eines Machtvakuums
MUSIK
„Der Balkan: Hexenkessel Europas“
SPRECHER
Der Schütze, Gavrilo Princip, ist ein Heißsporn, ein junger bosnischer Student. Er und seine Mitattentäter sind serbische Nationalisten; in Bosnien leben etliche Serben! Für sie ist der Erzherzog nichts anderes als ein verhasster Besatzer. Denn Bosnien – finden die Serben – ist unser!
SPRECHERIN
Serbien – das kleine junge Königreich im Osten von Bosnien – erlebt gerade ein nationales Hochgefühl der Sonderklasse. Wie ein Luftballon bläht sich sein Selbstbewusstsein zwischen zwei alten Großmächten in der engen Region auf: zwischen Österreich und den Osmanen. Denn auf dem Balkan ist alles ins Rutschen geraten.
SPRECHER
Seit einigen Jahrzehnten sind die Osmanen auf dem Rückzug und hinterlassen ein Machtvakuum. Den Serben ist es deshalb vor kurzem gelungen, sich einen fetten Teil der Beute zu sichern: einen satten Gebietszuwachs und Hoffnung auf mehr!
SPRECHERIN
Denn Serbien träumt von einem jugoslawischen, wörtlich: „südslawischen“ Großreich unter seiner Führung auf dem Balkan. Katrin Boeckh ist Historikerin am Osteuropa-Institut in Regensburg:
ZUSP: BOECKH
Also, dieses Südslawische ging davon aus, dass man eben eine kulturelle, eine sprachliche, eine religiöse Gemeinsamkeit aller Südslawen hat, … und dass das eben dazu führen soll, dass man eine politische Einheit unter allen Südslawen herbeiführt.
SPRECHER
Exotisch ist der Gedanke nicht. Überall in Europa ist der Nationalismus modern und aggressiv. Doch gerade der serbische Traum ist brandgefährlich! Denn das Mittelmeer ist eine hoch sensible Region.
SPRECHERIN
Über das Mittelmeer muss Russland seine lebenswichtigen Getreideexporte abwickeln. Engländer und Franzosen laufen von dort Kolonien in Nordafrika an. Über den Suezkanal führen die Routen in den Indischen Ozean.
SPRECHER
Und: Für Österreich-Ungarn geht es auf dem Balkan vielleicht um alles: Die alte Großmacht ist angezählt. Ihr Hauptproblem: 12 Völker leben in ihr – hochexplosiv in nationalistischen Zeiten! Gelingt es nicht, den serbischen Nationalismus zu bändigen, könnte das ganze Reich in die Zentrifuge geraten.
SPRECHERIN
Die Doppelmonarchie sieht nur noch eine Lösung: stärker werden auf dem Balkan! Deshalb hat sie ihrerseits erst vor kurzem Bosnien annektiert – ihre Beute aus dem Türken-Erbe. Der Besuch des Thronfolgers war also tatsächlich eine Art Inspektion auf hoch gefährlichem Gelände.
SPRECHER
Steckt also Serbien hinter dem Attentat?
SPRECHERIN
Sicher scheint heute so viel: Die jungen Heißsporne um Princip hatten Hilfe gesucht für die Durchführung ihres Anschlags. Dabei sind sie an eine serbische Geheimorganisation geraten – die „Schwarze Hand“. Katrin Boeckh:
ZUSP. Boeckh
Also, die „Schwarze Hand“ – Crna ruka – ist eigentlich zu charakterisieren im heutigen Sinn als eine terroristische Vereinigung mit militärischem Hintergrund, also, hier spielen Offiziere eine große Rolle. Aber eine direkte Beteiligung der serbischen Regierung für dieses Attentat lässt sich nicht nachweisen.
SPRECHER
Hexenkessel Balkan! Doch was hat Deutschland damit zu tun? Immerhin formuliert nach dem Krieg eine Alliierte Note: Das Deutsche Reich trägt allein die Schuld am Ausbruch des Großen Krieges!
TC 05:33 – Die Kriegsschuldfrage
MUSIK
„Rückblende – Die Großmächte auf dem Weg zur Katastrophe“
SPRECHERIN
Die so genannte „Kriegsschuldfrage“ gehört zu den am leidenschaftlichsten diskutierten Streitfragen der jüngeren Geschichte. Im engeren Sinn bezieht sie sich auf die jetzt folgenden Julitage nach den Schüssen - dazu gleich.
SPRECHER
Doch zuerst die weiteren Zusammenhänge: Wie sehen die Machtverhältnisse in Europa aus, dass Deutschland in einen Balkankrieg geraten kann? Noch einmal also die Uhr zurückdrehen; gut 40 Jahre vor das Attentat, ins Jahr 1871, zur Gründung des Deutschen Reichs. Peter Helmberger ist Historiker an der Universität in München:
ZUSP. Helmberger
Mit dieser Gründung des neuen Deutschen Reiches … gibt es auf dem Kontinent eine große Zentralmacht – erstmals wieder – die von der Größe des Landes wie von der Bevölkerung für alle anderen Mächte erst einmal eine Neuerung darstellt und durchaus auch eine Herausforderung.
SPRECHERIN
Welchen Platz wird also der frisch geschlüpfte Riese im Kreis der Großen finden? Bismarck hat sich die Reichsgründung durch einen Krieg mit Frankreich ertrotzt. Ein Auftakt mit Gewalt.
SPRECHER
Und auch schon eine erste Ursache für die spätere Katastrophe: Frankreich wird das nicht vergessen. Und Deutschland weiß daher genau: Es muss sich in Acht nehmen: vor Frankreich und – vor Russland! Denn beide zusammen könnten das junge Reich von Westen und Osten her in die Zange nehmen. Geometrie der Macht.
SPRECHERIN
Erste Absicherungsmaßnahmen: 1879 schließt Deutschland mit Österreich-Ungarn den Zweibund der Mittelmächte. Nun würde es am liebsten auch Russland noch ins Boot bekommen. Doch das misslingt während der nächsten Jahre gründlich.
SPRECHER
Mit dramatischen Konsequenzen: Russland findet einen neuen Partner – ausgerechnet Frankreich! Großes Malheur!
MUSIK
SPRECHERIN
Nächste Etappe, die Jahre ab 1900: Deutschlands Selbstbewusstsein ist ungebrochen. Kaiser Wilhelm II. verkündet neue Ansprüche: Ein „Platz an der Sonne“ muss her! Das heißt: Deutschland will nun auch ins große Kolonialgeschäft einsteigen. Dafür beschließt es den Bau einer mächtigen Schlacht-Flotte.
Es ist natürlich eine klare Ansage an die übrigen europäischen Großmächte und in dem Fall insbesondere an die …
SPRECHER
Seemacht England – Das 19.Jh. war das Jahrhundert des Britischen Empire. Doch nun stößt es weltweit auf starke Konkurrenz: die aufstrebenden USA, auf Russland vom Mittelmeer bis zum Pazifik, auf Frankreich in Afrika! Und jetzt auch noch Deutschland!
SPRECHERIN
Wer sind die Guten, wer die Bösen? Es ist die Zeit des Hochimperialismus. Alle Großmächte kämpfen um Kolonien und um weltweite Marktzugänge. Jede Macht ein Hai für sich! Der Neuling Deutschland hofft, die Haie auszuspielen – bis er selbst umkreist wird.
SPRECHER
London versucht, sich Luft zu schaffen. Und tatsächlich: Ein Bündnis mit Frankreich gelingt – die Entente Cordiale. Bald darauf sitzt man auch mit dem Zaren am Tisch. Der Kreis der Entente-Mächte um Deutschland schließt sich.
SPRECHERIN
Die zehn Jahre vor Sarajewo sind nervenaufreibend – eine Krise nach der anderen. England, Frankreich, Russland werden dabei ein immer besseres Team. Der deutsche Kaiser zieht regelmäßig den Kürzeren. Die Stimmung im Reich ist geladen. Was kann man gegen die Einkreisung noch aufbieten? Peter Helmberger:
ZUSP Helmberger
Und dann ist Österreich-Ungarn tatsächlich der einzige Bündnispartner, den man noch hat, den man dann auch nicht schwächen kann.
SPRECHER
Ach ja, der Zweibund von 1879! Der Partner mit den schier unlösbaren Problemen! Durch ihn kommt Deutschland nun anstatt zu einem Platz an der Sonne – zu einem Krieg auf dem Balkan.
ATMO Schüsse
SPRECHERIN
Denn nun fallen die Schüsse von Sarajewo. Österreich kocht und will sich an den Serben rächen. Doch die haben einen mächtigen Beschützer für ihre südslawischen Träume: den großen slawischen Bruder – Russland! Der Zar braucht einen festen Stand am Mittelmeer. Was liegt also näher, als den kleinen Bruder zu beschützen?
TC 09:12 – Von der Julikrise bis zum Weltkrieg
MUSIK
„Die Julikrise – 31 Tage bis zu einer Menschheitskatastrophe“
SPRECHER
Der Countdown läuft. Die Tage nach dem Attentat heißen „Julikrise“. „Krise“ – denn immer noch gibt es politische Kräfte, die versuchen, am Krieg vorbei zu denken. Aber vor allem den Militärs brennt die Zeit schon auf den Nägeln!
SPRECHERIN
Besonders den Deutschen. Denn Österreich wartet auf Antwort aus Berlin: Wenn Österreich nämlich Serbien angreift, wird zwangsläufig auch Russland in den Krieg eintreten! Alleine hätte Österreich aber gegen Russland keine Chance. Wird Deutschland also zu seinem Bündnispartner stehen?
SPRECHER
Seit Jahren hat Deutschland einen Plan für einen möglichen Krieg gegen Russland: den Schlieffenplan. Er geht aus vom Zweifrontenkrieg. Das heißt: Russland kann nur besiegt werden, wenn vorher blitzartig auf der Westseite Frankreich bezwungen wird. Erst dann können sich alle Kräfte gegen das langsamere aber viel gewaltigere Russland richten. Die deutschen Generäle fordern also: jetzt oder nie!
SPRECHERIN
6. Juli: Deutschland gibt Österreich die berüchtigte Blanko-Vollmacht: Jede Reaktion gegenüber Serbien wird gedeckt. Am 28. Juli erklärt Österreich Serbien den Krieg. Die klaren Konsequenzen: Russland macht mobil. Dann erklärt Deutschland dem Zaren den Krieg: 1. August 1914!
SPRECHER
Schlieffenplanmäßig entfaltet sich das Desaster: Deutschland greift Frankreich an.
SPRECHERIN
Allerdings: Über das neutrale Belgien! Es liegt im Aufmarschgebiet der deutschen Divisionen. Ein klarer Völkerrechtsbruch mit enormen Folgen: Denn jetzt hat auch England einen Grund, um sich auf die Seite seiner Entente-Verbündeten zu schlagen. England erklärt Deutschland den Krieg.
SPRECHER
Deutschland, der eingekreiste Riese, hat nun endgültig einen schrecklichen Platz im Kreis der Großen gefunden. Es hat Österreich von der Leine gelassen, das neutrale Belgien überfallen und Frankreich angegriffen, damit es letztlich Krieg gegen Russland führen kann – um dadurch Österreich zu helfen. Nach dem Krieg wird es dafür zum Verursacher der Katastrophe erklärt werden.
TC 12:29 – Outro
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