Artwork

Inhalt bereitgestellt von Dennis Horn. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Dennis Horn oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.
Player FM - Podcast-App
Gehen Sie mit der App Player FM offline!

Kreativität mit Dirk von Gehlen

55:25
 
Teilen
 

Archivierte Serien ("Inaktiver Feed" status)

When? This feed was archived on December 09, 2023 23:09 (5M ago). Last successful fetch was on April 25, 2023 11:31 (1y ago)

Why? Inaktiver Feed status. Unsere Server waren nicht in der Lage einen gültigen Podcast-Feed für einen längeren Zeitraum zu erhalten.

What now? You might be able to find a more up-to-date version using the search function. This series will no longer be checked for updates. If you believe this to be in error, please check if the publisher's feed link below is valid and contact support to request the feed be restored or if you have any other concerns about this.

Manage episode 292994812 series 2914447
Inhalt bereitgestellt von Dennis Horn. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Dennis Horn oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.
SpotifyApple PodcastsPocketCastsRSS

Dirk von Gehlen ist Director Think Tank beim SZ Institut der Süddeutschen Zeitung und hat zuletzt das Buch „Anleitung zum Unkreativsein“ veröffentlicht. Mit ihm spreche ich über kreative Methoden, gute Fragen und Feedbackkultur.

Kreativität ist Bedingung für Innovation. Aber was sind die Bedingungen für Kreativität? Wie frei darf sie sein – und wie sehr muss sie den Daten, Personas und Metriken gehorchen, über die wir in anderen Ausgaben des Innovationstheaters gesprochen haben?

Welches Level an Kreativität braucht Innovation? Und welchen Rahmen braucht Kreativität? Darüber spreche ich in dieser Ausgabe mit Dirk von Gehlen, der mit „Anleitung zum Unkreativsein“ ein ganzes Buch zum Thema verfasst hat – und sich als Leiter des Innovationsteams der Süddeutschen Zeitung auch damit beschäftigt, wie Medienhäuser und Redaktionen das Thema Kreativität gezielt angehen können.

Das Gespräch mit Dirk von Gehlen in Textform

Dennis Horn: Wie sieht die Wechselwirkung von Innovation und Kreativität aus? Was haben diese beiden Dinge miteinander zu tun? Welche Rolle spielt Kreativität für Innovation?

Dirk von Gehlen: Das beantworte ich total gerne – direkt mit dem Lob für alle Episoden, die ich schon gehört habe, die ich super finde und die mich aber dazu gebracht haben, eigentlich hier gar nicht zuzusagen. Das, was du hier machst, ist großartig. Ich habe so viel gelernt in der Formatentwicklungsfolge, aber auch in den anderen. Was mir aufgefallen ist: dass es ein bisschen zu viel „Innovation scheitert ja immer“ als Grundton ist. In der Folge mit Sascha Friesike kommt das sehr gut raus: „Wir gegen das System“ und „Wir fühlen uns ein bisschen ungerecht behandelt als innovative Menschen“. Das nimmst du mit dem Theater natürlich auch schön ironisch auf. Natürlich bin ich voll gerne gekommen. Trotzdem habe ich gedacht, eigentlich mag ich an diesem Narrativ gar nicht mitschreiben, dass Innovation immer scheitern muss. Dahinter steckt meiner Meinung nach eine nicht ganz richtige Erwartungshaltung. Man fängt an mit Innovation und denkt, dieser Innovationshub oder dieses Start-up-Lab, das wir jetzt in der Organisation gründen, das muss jetzt die Welt verändern, und alles unter „die Welt verändern“ gilt dann als Scheitern. Ich glaube, dass Innovationshubs überhaupt nicht scheitern, sondern dass wir viel, viel zu große Erwartungen haben und dabei in ein Dilemma laufen, dass wir die kurzfristigen Veränderungen massiv überschätzen und die langfristigen Folgen massiv unterschätzen. Das sind zwei Punkte, die ich vorwegschicken möchte, weil die sich in meiner Arbeit – ich bin seit fast 20 Jahren bei der Süddeutschen in diesen Bereichen tätig – sehr, sehr deutlich gezeigt haben und ich Wellen von Begeisterung erlebt habe – von „Die Welt verändert sich total durch innovative Arbeit“ bis zu, sagen wir mal, resilienten Phasen, in denen ich gelernt habe, dass es vielleicht doch nicht so schnell und groß und verändert ist. Hinter Innovation steckt meiner Meinung nach eine Haltung zum Neuen – eine gestaltende Haltung, die sich am ehesten in dem zeigt, was Kreativität für mich ist, nämlich eine Bereitschaft, immer wieder neu Lösungen zu finden, immer wieder neue Ansätze auszuprobieren, die helfen könnten, ein Problem zu lösen. Das können sehr, sehr kleine Sachen sein. Das kann aber eben auch das Unternehmen verändern, die Welt verändern, das große Rad sein. In den meisten Fällen ist man aber viel, viel erfolgreicher, wenn man kleiner denkt, wenn man kleinere Lösungen sucht. Deswegen bin ich vom Begriff Innovation auf den Begriff Kreativität gekommen.

Dennis Horn: Interessant. Du schreibst mir also erst einmal etwas ins Heft, über das ich ein bisschen nachdenken muss. Ich bin ja tatsächlich über den Gedanken „Innovation scheitert so oft“ zu diesem Podcast gekommen – um dann hier zu besprechen, wie sie eben nicht scheitert und wie man es hinbekommt. Dann lass uns das doch einmal genau so positiv angehen – und vor allem mit dem Gedanken an eigene Erwartungshaltung, denn nicht alles, was wir machen, ist das neue iPhone, nicht wahr?

Dirk von Gehlen: Richtig, das ist die Flughöhe. Und alles, was jetzt nicht unsere Kommunikationswelt komplett verändert, nehmen wir dann als Scheitern wahr. Ich verstehe das übrigens. Ich verstehe die Haltung, die du beschreibst, und die Podcasts gehen ja auch immer alle konstruktiv weiter. Es ist ja nicht so, dass du mit allen Gesprächspartnern in so ein selbstgefälliges „Die Welt versteht nur nicht, wie toll wir alle sind“ verfällst – im Gegenteil. Und es liegt vielleicht auch daran, dass ich alle en bloc noch mal gehört habe, dass dieser Eindruck ein bisschen zu stark da ist. Gleichzeitig gehört es eben auch dazu, dass innovative Menschen sich in Deutschland, in Europa zusammenschließen und von gemeinsamen Problemen sprechen. Das darf man auch nicht aus dem Blick nehmen. Wir hatten mal so eine Phase vor zehn Jahren, wo alle in Best Cases immer nur so getan haben, als wäre überall alles super – das stimmt ja auch nicht. Deswegen bin ich ja auch da, und ich bin großer Fan des Theaters. Aber dass es das Theater gibt … Vielleicht fangen wir damit schon mal an: Dass es Innovationshubs gibt, dass es Menschen gibt, die sich hauptberuflich damit beschäftigen, was übermorgen wichtig werden könnte – das allein ist schon ein Riesenerfolg. Das gab es vor 30 Jahren in der Medienbranche in der Form nicht. Da wurde sehr viel mehr von der Hand in den Mund gelebt. Und dass es Menschen gibt, die … Ich nehme jetzt mal bewusst den Post-it-Zettel sozusagen als Ausdruck eines Cargo-Kults … Dass es Menschen gibt, die mit Post-it-Zetteln in agilen Strukturen in Sprints arbeiten – all das ist total wertvoll, auch wenn wir das aus der Innovationswelt für Plattitüden halten. Langfristig hat es eine Auswirkung auf ein Haus, auf einen Konzern, auf eine bestehende Arbeitsstruktur, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Dennis Horn: Ich stelle mir das immer wie die Bewegung eines Pendels vor, das erst einmal solche Ausschläge hat, bevor es sich irgendwo einpendelt, wo es funktioniert und gut ist.

Dirk von Gehlen: Das Pendel finde ich gut. Ich habe mir vorher überlegt, was das Bild für funktionierende Innovation ist, das ich mitbringen will. Dann bin ich durch meine Instagram-Timeline gesurft, und da wurde mir ein Balance Board vorgestellt. Ich weiß nicht, ob du so etwas hast. Es ist die Variante von: Wir können uns gerade alle nicht richtig bewegen, also kauf dir doch so ein sehr teures Board, mit dem du zu Hause so eine Art Sport machen kannst. Und ich finde, das ist eine sehr, sehr schöne Metapher für das Ausbalancieren. Denn wenn man auf so einem Balance Board steht, steht man nie richtig fest, sondern muss immer wieder die richtige Balance finden. Wahrscheinlich sind innovative Menschen oder Einheiten, die Innovation vorantreiben sollen, in erster Linie Dolmetscher oder Übersetzer, die Teile der „neuen Welt“ in die alte bringen. Und ein – meiner Meinung nach – Fehler ist oft, zu glauben, die neue Welt einfach eins zu eins umsetzen zu können. Der Diskurs des Verhandelns, der Kompromiss darum, wie das zu tun ist, ist Teil von innovativer oder kreativer Arbeit. Ich finde „kreativ“ deswegen als Begriff noch ein bisschen stärker, weil „Innovation“ immer so was von VR-Zukunft und irgendwelchen blinkenden Knöpfen hat. Manchmal ist es auch sehr, sehr innovativ, eine vermeintlich alte Lösung zu verwenden. Deswegen habe ich mich selber ein bisschen auf diesen Begriff der Kreativität eingependelt.

Dennis Horn: Ich möchte mit dir bei der persönlichen Kreativität beginnen und dann irgendwann bei den größeren Fragen landen. Als ich über diesen Begriff Kreativität nachgedacht habe, habe ich an meine Zeit in einem Radiosender gedacht, in dem ich gearbeitet habe. 10.30 Uhr, Redaktionskonferenz für die Nachmittagssendung, eine Sendung, die sich als innovativ verstanden hat, weil sie Dinge ständig anders angehen wollte. Sie war so getrieben von einem Wir-sind-anders-als-das-andere-Radio-Ding. Themen aus einer anderen Perspektive betrachten, Humor, Personality. Und in dieser Redaktionskonferenz um 10.30 Uhr hieß es dann immer: „Was machen wir heute? Lass mal brainstormen!“ Dann wurde es ruhig. Einer sagt: „Ich habe eine Idee!“ Und die Chefin für den Nachmittag zerpflückt diese Idee: „Nee, da haben wir zu wenige Leute für.“ „Nee, versteht keiner.“ Und dann sagt der, der die Idee hatte: „Na ja, aber …“ Und dann findet ein anderer die Idee gut, eine andere mag sie nicht so. Zehn Minuten Gespräch, am Ende kommt nichts rum. Können wir bitte erst einmal festhalten: Brainstorming ist nie die Lösung!?

Dirk von Gehlen: Ja, aber Brainstorming ist trotzdem auch gut. Ich will keine Werbung für dieses Buch machen, aber ich habe ein Buch geschrieben, das heißt „Anleitung zum Unkreativsein“, weil ich genau diese Situationen zur Genüge kenne. Und weil ich ganz, ganz oft in diesen Sitzungen saß und dachte: Was machen wir hier eigentlich? Und dann auf die Idee gekommen bin: Vielleicht üben wir einfach Unkreativsein, denn genau diese Chefredaktionen, die du gerade beschrieben hast, sind ja Teil von: Wie trete ich möglichst schnell sprießende kleine Pflanzen kaputt und wie zerstöre ich Kreativität? Das Komische ist: Es gibt da sehr banale handwerkliche Regeln für. Also, dass man in einem Brainstorming keine Bewertungen treffen soll; dass man mit „und“ statt mit „aber“ antworten soll; dass man sich bemühen soll, aufzubauen statt niederzuschmettern und so; das kann man alles nachlesen. Wir haben aber so einen Reflex, das alles nicht zu tun, weil wir Kreativität und die Ergebnisse von Kreativität nicht aushalten, weil wir uns davon nicht überraschen lassen wollen. Stattdessen sitzen wir in dieser Morgenkonferenz, und eigentlich haben wir schon so eine Idee, in welchen „Kasten“ das rein müsste – und darüber hinaus zu denken ist immer anstrengend, ist immer herausfordernd und stellt die eigene Meinung in Frage. Und das ist brutal schwierig. Deswegen bin ich auf die Idee gekommen, es komplett umzudrehen und zu sagen: Gut, dann probieren wir jetzt mal absichtsvoll, unkreativ zu sein. Und wenn man aus der Perspektive darauf guckt, lernt man indirekt ganz viel darüber, wie man persönlich erst einmal neue Ideen erreicht, also wie man seine Komfortzone verlässt und out of the box denkt. Wobei out of the box auch der beste Kreativitätskiller sein kann, denn der Rahmen – also: Wohin muss die Lösung passen? – ist die Voraussetzung dafür, um überhaupt kreativ werden zu können. Wenn du in einer Institution – im WDR, in der Süddeutschen Zeitung – garantieren willst, dass keine kreativen Lösungen rauskommen, musst du einfach sagen: „Setzen Sie sich jetzt mal eine Stunde zusammen. Es gibt keine Vorgaben, es gibt keine Begrenzung. Und jetzt seien Sie mal kreativ!“

Dennis Horn: Das ist interessant. Das wird ja manchmal als Gegensatz genannt: Ein Rahmen tötet Kreativität. Deine These wäre also: Ein Rahmen ermöglicht sie erst?

Dirk von Gehlen: Ich bin total davon überzeugt, dass die Voraussetzung für Kreativität ist, dass man weiß, was der Rahmen ist. Sonst habe ich ja gar keine Bewertungskriterien. Also machen wir es erst mal nur persönlich: Ich möchte für mich eine Lösung für ein Problem finden. Dann muss dieses Problem als erstes hinterfragt werden. Ich muss erst mal rausfinden: Was ist das Schloss, für das ich einen Schlüssel brauche? Und natürlich ist es leichter, zu sagen, wir suchen mal Schlüssel ohne Schloss. Da finden wir bestimmt auch total schöne und können uns die alle angucken, in der Bewertung bleibt es aber dann eine sehr subjektive Frage von: „Wie finden wir die Schlüssel?“ Und nicht mehr ein möglichst objektives Annähern an: „Öffnet dieser Schlüssel auch ein Schloss?“ Das wäre ja am Ende die Wirksamkeit von Kreativität: Ich habe mit dem, was ich mir ausgedacht habe, tatsächlich ein Problem einer Lösung näher gebracht.

Dennis Horn: Das heißt, Häuser, die innovativ sein möchten und für diese Innovation Kreativität benötigen, tun sich gut darin, als Grundlage für Kreativität und Innovation, erst einmal einen Rahmen festzulegen, Probleme zu benennen, zu sagen, wo sie überhaupt hin möchten – möglichst konkret?

Dirk von Gehlen: Absolut. Das ist es, was man auch in der letzten Folge über Formatentwicklung noch mal total genau raushören kann: dass du ein Format nicht entwickeln kannst, ohne zu wissen, für wen. Das ist ein ganz, ganz klassisches Dilemma, das man vor zehn Jahren in deutschen Medienhäusern aller Facetten, immer wieder hatte, dass man gesagt hat: Jetzt denken wir uns mal was aus. Und sich produzierendenlastig überlegt hat: Was können wir gut? Das machen wir jetzt. Das ist Kreativität.

Dennis Horn: Darum ist auch so ein Geniekult entstanden.

Dirk von Gehlen: Total, absolut. In der Werbung gibt es dann diesen genialen Art Director – ich gendere hier absichtlich nicht, weil es eigentlich immer Männer sind, die reinkommen, einen Pinselstrich auf ein Flipchart malen, und ab da ist dann alles eine Goldidee. Das ist aber solange eine rein imaginäre Idee und keine wirkliche Kreativität, wie ich nicht die Zielgruppe, das angestrebte Ziel kenne. Deswegen ist es eine total entscheidende Veränderung in deutschen Medienhäusern, dass wir user-centric Ideenentwicklung machen, dass wir wissen, für wen wir das entwickeln. Das ist die zentrale Frage, bevor man loslegt. Das ist etwas, worin Innovationsabteilungen in den letzten 15 Jahren total erfolgreich waren, denn das ist heute, glaube ich, in vielen Bereichen anerkannt – und es ist eine Grenze für Kreativität. Ich sage also: Für diese Zielgruppe möchte ich jetzt etwas erreichen. Und daraus ergibt sich, dass ich ganz viele andere tolle Ideen gerade nicht machen kann, weil sie da nicht drauf passen. Dieser Zuschnitt auf eine Zielgruppe ist eine erste Begrenzung. Es gibt dann tausend andere, die man auch durchgehen kann, die sind meiner Meinung nach aber große Hilfen, um Lösungen zu finden. Und ein – meiner Meinung nach – großer Fehler ist, die Grenzen wegzunehmen. Dann sagen Intendanten, Chefredakteure und Ressortleiter: Jetzt dürft ihr mal ganz frei denken. Tipp von mir: sofort den Raum verlassen, weil es gut wäre, wenn eine konkrete Frage gestellt wird. Wenn man sagt, es gibt keine Begrenzungen, Herr Horn, denken Sie sich mal eine gute Lösung aus für die Süddeutsche Zeitung – dann kannst du das nicht. Du musst erst eine Frage haben, um eine Antwort zu formulieren.

Dennis Horn: „Gut wäre, wenn eine konkrete Frage gestellt wird“ und „Du musst erst eine Frage haben, um eine Antwort zu formulieren“. Da taucht zweimal der Begriff „Frage“ auf. Du hast eben dein Buch schon reingeworfen, darin schreibst du sehr viel über Fragen. Im Grunde ist das deine Methode: sehr, sehr viele Fragen zu stellen. Vielleicht kannst du einmal darauf eingehen, was das heißt: in diesem Kreativprozess erst einmal nur Fragen zu stellen, statt die ganze Zeit tausend Ideen runterzurattern.

Dirk von Gehlen: Es gibt dieses schöne Zitat, das Albert Einstein zugeschrieben wird. Es ist ja so mit Zitaten im Internet: Man weiß nicht genau, ob er es wirklich gesagt hat. Aber selbst, wenn nicht: Die Idee dahinter ist gut. Er sagt: Wenn er eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, würde er 54 Minuten darauf verwenden, Fragen zu stellen, und 6 Minuten darauf, das Problem auf Basis dieser Fragen zu lösen. Darin steckt ganz viel, was kreative Lösungskompetenz angeht. Kreativität hat meiner Meinung nach ganz viel mit Perspektivwechsel zu tun, also Dinge aus einer anderen Sichtweise zu betrachten. Das kann man lernen, indem man ganz, ganz viele Fragen stellt, und zwar auch die Sachen in Frage stellt, die gemeinhin schon als gesetzt gelten. Ich würde sogar sagen, gerade die Voraussetzungen noch mal zu hinterfragen, ist besonders erfolgreich, weil man dann oft feststellt: Es geht gar nicht zwingend darum, dass man das große Ganze löst, sondern dass man einen kleinen Teil löst. Ich illustriere das in dem Buch mit der Idee eines Kreisverkehrs. Der Kreisverkehr ist ja eigentlich nichts anderes als eine Kreuzung. Trotzdem fließt der Verkehr an Kreisverkehren schneller als an Kreuzungen mit Ampeln. Das liegt daran, dass irgendjemand mal auf die Idee gekommen ist, am Kreisverkehr das Problem des Verkehrsflusses kleiner zu machen und zu sagen: Wir lösen das jetzt mal nur für jeweils ein Auto oder ein Fahrzeug. Ein Fahrzeug kann in den Kreisverkehr reinfahren, und es gilt nur eine Regel: „Im Kreis“ hat immer Vorfahrt. Damit fließt der Verkehr leichter, als wenn man immer schubweise die Ampel von Rot auf Grün springen lässt. Es hat sich eigentlich nichts verändert an diesem Verkehrsfluss, außer dass man das ganz große Problem kleiner gefragt hat. Geht es also wirklich darum, dass alle da durchfahren müssen? Oder geht es nicht erst mal darum, dass nur ein Auto fahren muss? Es ist eine winzige Kleinigkeit in der Fragestellung, die aber am Ende zu einem großen Unterschied führt. Deswegen glaube ich, dass die allererste Voraussetzung für persönliche Kreativität, aber auch für institutionelle Kreativität, die Fähigkeit ist, zu fragen. Und fragen traut man sich nur dann, wenn man Autoritäten hinterfragen darf. Institutionell gesprochen heißt das: Innovationsabteilungen müssen das Recht haben, zu fragen: Warum beginnt die Tagesschau eigentlich mit einem Gong? Um mal die größte Tradition im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu nehmen. Oder: Warum beginnt die Süddeutsche Zeitung mit einem Streiflicht oben links? Also eine Frage zu stellen, mit der ich ja nichts in Zweifel ziehe oder sage, es soll nicht so sein. Aber ich möchte herausfinden, warum das so ist. In neun von zehn Fällen ist die Antwort: Weil es schon immer so war. Und das ist noch keine gute Begründung. Damit kommst du an Punkte, die Innovation auf einmal ganz anders dastehen lassen, weil es gar nicht mehr darum geht, den Gong in der Tagesschau zu verändern, sondern rausgefunden zu haben: Das finden wir auch gut, dass es damit beginnt. Das ist ein Zeichen, das bedeutet es und das soll es beim Nutzer, bei der Nutzerin auslösen. Diese Fragen zu stellen, das ist ein ganz, ganz wichtiger, innovativer Prozess, den man am Ende aber gar nicht so zwingend in Ergebnissen messen kann.

Dennis Horn: Zwei Dinge dazu – zwei Fragen. Erstens: Wir haben ja vorher darüber gesprochen, dass das Haus erst einmal sagen sollte, wo es hin möchte: Was ist das Problem? Was ist die grundlegende Fragestellung? Das heißt, dann kommen die Innovationsleute und stellen erst mal das, was ihnen vorgegeben wurde in Frage – vielleicht, um es zu verbessern. So verstehe ich das richtig?

Dirk von Gehlen: Ja. Auch die Aufgabe richtig verstehen.

Dennis Horn: Und zweitens: Wie verhindert man an so einer Stelle, dass die Bedenkenträger sich in Form von Fragen äußern und vorgeben, damit ja nur die Innovation fördern zu wollen?

Dirk von Gehlen: Ja, das ist tatsächlich ein Problem. Ich habe dafür mal die Domain zerreden.de reserviert. Filibuster nennt man das glaube ich im parlamentarischen Kontext. Du kannst natürlich mit Fragen auch alles zerreden, das ist total richtig. Ich glaube, wir waren ja jetzt sozusagen auf der ersten Startebene. Irgendwann kommt man zu einem Punkt, wo man sich dann auf einen Weg einigt. Wenn man die Frage gestellt hat, wo wir eigentlich hinwollen, und den Zielkorridor definiert hat, dann verändert man den Charakter der Fragen. Die Fragen werden dann spitzer, es sind keine offenen Fragen mehr, sondern es sind geschlossene. Sie sind zielgerichteter, und man hat ein gemeinsames Commitment, noch ein schlimmes Wort, einen Purpose, ein Ziel, das man erreichen möchte. Darauf versucht man gemeinsam hinzugehen. Da gibt es dann immer wieder Leute – ich habe dazu so ein Bullshit-Bingo-Spiel im Feedbacken gemacht -, die einfach durch ihr Feedback Ideen zerstören. Der Trick, der sich meiner Meinung nach am besten eignet, um damit auf institutioneller Ebene umzugehen: sich immer wieder auf die vorher definierte Zielvorgabe zurückzuziehen. Also zu sagen: Wir hatten uns doch geeinigt, wir wollten gemeinsam dieses Problem lösen. Wenn wir das gemeinsam immer noch wollen, dann ist deine Frage so, wie du sie jetzt formulierst, erstens nicht besonders wertschätzend und zweitens: Wie führt sie uns denn jetzt zu einem Ziel? In ganz vielen Fällen löst man damit diese Zerreden-Feedbackkultur, die einfach immer nur blöde Fragen stellt. Ein wahnsinnig schönes Fundstück dazu, das schon länger durchs Internet geistert, ist eine CIA-Vorgabe, ich glaube aus dem Zweiten Weltkrieg, dazu, wie man Institutionen von innen zersetzen kann. Ich habe das alles genau so schon von Menschen in normalen Kontexten gesehen, die sicher nicht als feindliche Spione versucht haben, kreative Runden zu zersetzen, sondern einfach nur dachten, das müsse man jetzt mal so tun. Also dieses berühmte: Ich spiele jetzt mal Advocatus Diaboli. Ich bin jetzt einfach mal nur ein bisschen provokant.

Dennis Horn: Ich höre diesen Satz so oft.

Dirk von Gehlen: Genau. Und da muss man einfach fragen: Warum spielst du jetzt diese Rolle? Was möchtest du damit erreichen? Glaubst du, das hilft uns auf dem Weg? Also gar nicht zwingend in die Konfrontation zu gehen, sondern zu sagen: Was möchtest du damit erreichen? Du hast einen Zweifel, du hast Angst, dass diese Idee irgendetwas, das dir wichtig ist, zerstören könnte. Aber warum ist dir das wichtig? Wie kann man diesen Zweifel in die Idee integrieren? Das klingt jetzt ein bisschen wie betreutes Ideenentwickeln, ist aber meiner Erfahrung nach ein ganz, ganz wichtiger Prozess, um zumindest entscheidende Leute auf dem Weg nicht zu verlieren und auch deren – häufig sogar relevante – Bedenken mit zu integrieren, um auf diesem Weg die Idee zu schärfen oder passender zu machen. Das ist dieses alte Kinderspiel, das du vielleicht auch kennst, von Kleinkindern oft gespielt: ob man einen runden, dreieckigen oder viereckigen Bauklotz durch Löcher kriegen kann. Da muss man immer ein bisschen rumfummeln. Und manchmal ist es tatsächlich sinnvoller, noch mal und noch mal zurückzugehen, statt einfach den runden Bauklotz durch das viereckige Loch zu prügeln. Das ist meiner Meinung nach Teil von kreativen Entwicklungsprozessen: In der aktuellen Situation ist diese Idee noch nicht gut. Es kann aber sein, dass sie in zwei Jahren perfekt ist. Das meinte ich ganz am Anfang mit langfristiger Ideenentwicklung: Wir entwickeln eine Idee für ein Format, sind dann megaenttäuscht, dass es nicht funktioniert. Und in zwei Jahren ist die Zeit dafür reif. Dann funktioniert es, und da war man trotzdem erfolgreich.

Dennis Horn: Ich habe vor dem inneren Auge eine Pyramide, wie die Bedürfnispyramide – und ich möchte jetzt mal rauszoomen, über all die Elemente, über die wir gerade gesprochen haben. Ganz oben ist das Thema Innovation. Da wollen wir hin. Also: etwas Neues schaffen und gut darin sein. Dann sagst du: Die Bedingung dafür ist Kreativität. Jetzt höre ich raus: Die Bedingung für Kreativität wiederum ist die Feedbackkultur?

Dirk von Gehlen: Ich glaube, das ist ein sehr schönes Bild mit der Pyramide. Ich würde auf die unterste Ebene, auf die Basis, den Begriff der Marke schreiben. Oder eine Grundübereinkunft darüber, was man will. Simon Sinek nennt es das Why, also diese Grundidee: Warum sind wir eigentlich hier?

Dennis Horn: Viele Medienhäuser beantworten diese Frage ja nicht, weil sie denken: Why? Ja, Journalismus halt …

Dirk von Gehlen: Genau. Wir haben bei der Süddeutschen vor zwei Jahren einen Markenprozess gestartet – es war nicht ganz einfach und nicht komplikationsfrei -, wo wir genau diese Fragen gestellt haben. Warum machen wir das eigentlich? Was ist der Kern dessen, was wir hier tun wollen? Und kann man das miteinander verbinden? Dabei ist ein Markenkern rausgekommen, der intern als „Mehr Licht“ beschrieben wird. Also ein Erkenntnisgewinn, in allen unterschiedlichen Ausprägungen, also im Investigativressort genauso wie bei den Menschen, die Aboanfragen annehmen, sozusagen als verbindendes, übergeordnetes Warum. Das klingt jetzt erst mal komisch. Und wenn man über die Marke redet, denken die meisten Leute sofort an Reklame. Es ist aber total hilfreich für die interne Kultur und für die gemeinsame Ideenentwicklung, am Ende immer zu sagen: Wir hatten uns doch etwas Gemeinsames vorgenommen. Und sind wir eigentlich noch dabei, auf dieses Ziel hinzuarbeiten? Oder sind wir gerade dabei, uns in internen Ressourcenkämpfen zu verstricken, weil wir nicht wollen, dass Abteilung A Abteilung B irgendwelche Budgets wegnimmt? Da hilft es total, auf der untersten Ebene der Pyramide eine Übereinkunft darüber zu haben, warum man eigentlich gemeinsam in die Arbeit geht und welche Ziele man gemeinsam verfolgt. Es ist nämlich nicht per se definiert, einfach weil es eine Institution schon lange gibt, sondern weil man das gemeinsam rausfindet. Auf dieser Basis kann man eine Feedbackkultur entwickeln. Auf dieser Basis kann man Kreativität entwickeln, kann man eine Form von psychologischer Sicherheit in der Institution haben – und dann kann daraus Innovation entstehen.

Dennis Horn: Das ist gleichzeitig aber ja ein bisschen top down, weil eine solche Entscheidung, die Marke zu benennen und das auszuarbeiten, ja von oben kommen muss – oder zumindest muss man „denen“ das einflüstern. Ich mag einen Gedanken aus deinem Buch, der eher von unten kommt, nämlich den „kreativen Imperativ“. Du schreibst: „Gib in der Weise Feedback zu Ideen, wie du dir selbst Feedback für deine Ideen wünschst.“ Das pusht dann Kreativität, so wie wir es gerade auch besprochen haben. Ist also Kreativität auch eine Möglichkeit, von unten, so ein bisschen graswurzelmäßig, die Kultur in einer Redaktion, in einem Medienhaus zu verändern?

Dirk von Gehlen: Das glaube ich, unbedingt. Ich finde den Satz, den ich ganz oft höre aus ganz, ganz vielen Unternehmen, ganz interessant: „Bei uns haben wir so eine schlechte Unternehmenskultur.“ Nehmen wir mal den Vergleich mit dem Umweltschutz: Du siehst jemanden bei dir im Ort, der gerade vor dir steht und sagt: „Hier kümmert sich niemand um Umweltschutz.“ Dann fragt man ihn: „Trennst du denn deinen Müll?“ Und dann sagt er: „Nein, hier ist echt so eine Katastrophe, mache ich nicht.“ Man fängt selber damit an, Umweltschutz zu machen, bei ganz kleinen Dingen. Dass man sich kein Atomkraftwerk in den Garten stellt, scheint eine Selbstverständlichkeit. Aber es gibt halt eben den eigenen ökologischen Fußabdruck. Und so kann man sich, glaube ich, auch einen eigenen kreativen Fußabdruck anschauen. Es gibt ein paar Eigenschaften – um es kurz pathetisch zu machen: Liebe gehört glaube ich dazu; Freude, die man teilen kann und die dabei mehr wird; und Kreativität gehört dazu. Wenn ich eine schlechte Unternehmenskultur beklage, ist ein allererster Schritt, zu fragen: Was tue ich selber denn eigentlich für die Unternehmenskultur? Wie reagiere ich denn, wenn die Idioten aus der anderen Abteilung ein Thema vorschlagen? Es gibt ja in jedem Haus die doofe Abteilung – es ist einfach so. Es gibt in jedem Haus jemanden, den man bescheuert findet – oft zurecht, ja. Aber wie reagiere ich, wenn der was vorschlägt? An dem Punkt entscheidet sich, wie die Unternehmenskultur im Haus ist. Da brauchst du gar keinen Chef, da brauchst du keinen Change Manager, keinen Feel-good-Manager. Da musst du einfach nur dich selber fragen: Halte ich es aus, dass die Doofen mal eine gute Idee haben? Wenn ich das aushalte, dann ist man auf einem sehr, sehr guten Weg zu einer guten Unternehmenskultur, und die wächst dann quasi von unten nach oben. Wenn man diesen Markenweg geht, den ich zuerst beschrieben habe – da reicht es nicht, dass von oben festgelegt wird, unsere Unternehmensfarbe ist jetzt Grün, und dann sind alle gedanklich grün, sondern das ist ja auch ein Ergebnis eines Prozesses auf allen Ebenen. Ich mag dieses Bild von „Innovationsmenschen sind eigentlich Führungskräfte der neuen Generation“, die gar nicht zwingend weit oben angesiedelt sind, gar nicht in Eckbüros sitzen und große Budgets verwalten, sondern sich als Führungskräfte dadurch auszeichnen, dass sie im Unternehmen extrem vernetzt sind und auf der zweiten Führungsebene Leute finden, die als Komplizinnen und Komplizen funktionieren können. Und die – nicht, weil es angeordnet ist, sondern weil es sinnvoll ist – Projekte mit ansteuern und unterstützen.

Dennis Horn: Das ist interessant. Ich habe mir in meiner Arbeit immer gesagt, es gibt eigentlich nur zwei Wege, die ich gehen kann: mich erstens frusten zu lassen von diesen Zuständen, die manchmal auch einfach systemisch sind und für die niemand direkt etwas kann. Oder mir zweitens Verbündete zu suchen. Ich bin ein einfacher, freier Mitarbeiter, aber mir gegenüber sitzt vielleicht eine Führungskraft, die auch so tickt. Das war für mich immer ein Erfolgsgeheimnis, so kann man Dinge auf den Weg bringen. Ich habe das Gefühl, wir haben jetzt wie bei einem Zauberwürfel alles mal gedreht und gewendet und auseinandergenommen und uns die verschiedenen Ebenen angeguckt. Jetzt habe ich noch die Fragen nach dem methodischen Wissen …

Dirk von Gehlen: Ein Gedanke noch, weil du eine – zumindest auf der persönlichen Ebene – zentrale Antwort gegeben hast, nämlich die nach Selbstwirksamkeit: Wenn ich mit dem Ziel von Kreativität oder mit dem Ziel, innovative Ideen zu produzieren, in einem Unternehmen arbeite, muss ich mir meiner Meinung nach die Frage stellen: Wie merke ich das Ergebnis meiner Arbeit? Und wenn man sich anguckt, woran Leute scheitern, also auch krankheitsbedingt scheitern, an Burnout und Überforderung, dann gibt es ein deutliches Muster: dass Menschen nicht mehr sehen, wofür ihre eigene Arbeit eigentlich gut ist. Da wird dann immer ein bisschen Fynn-Kliemann-artig gesagt: Jetzt muss ich mal wieder richtig was mit Händen bauen und ein Schiff oder eine Mauer errichten, denn dann sehe ich, was ich gemacht habe. Was das Gegenteil von Bei-SAP-Zahlen-Eingeben sein soll. Ich glaube, eine gesunde Form von Arbeit führt dazu, dass ich erkennen kann: Durch mein Zutun ist das passiert. Und da schließt sich ein bisschen der Kreis zu dem, wo wir angefangen haben: Welche Erwartungen habe ich eigentlich? Ein ganz, ganz wichtiger Punkt für innovatives Arbeiten kann sein, dass man sagt: Diese drei Leute, mit denen ich Projekt A oder B gemacht habe, mit denen habe ich eine neue Form des Zusammenarbeitens entwickelt, die für das Unternehmen langfristig vielleicht beispielhaften Charakter haben kann. Das war nicht hierarchisch, sondern gemeinsam. Es war iterativ. Wir haben neue Prozesse eingeführt. Das Projekt ist zwar abgelehnt worden, aber wir haben damit etwas erreicht. Das ist, glaube ich, ganz bedeutsam, sich a) Verbündete zu suchen b) nicht vom objektiven Projekterfolg das ganze Projekt und die ganze Selbstwirksamkeit nehmen zu lassen. Manchmal werden Projekte der Umstände halber abgelehnt, obwohl sie aus sich heraus eigentlich gut sind. Das nennt man dann, glaube ich, Resilienz: damit umgehen zu lernen, dass trotzdem was Positives da drin ist. Auch, wenn man das Spiel verloren haben kann, kann man trotzdem gut gespielt haben. Das ist ganz, ganz entscheidend, dass man das a) auf institutioneller Ebene findet, also in einer Feedbackkultur, im Austausch, in Verbündeten, aber b) auch für sich selber zu sagen: Das Projekt ist jetzt zwar abgelehnt worden, und wir setzen das nicht so um, wie wir es uns gewünscht haben. Aber ich habe für mich total viel daraus gelernt. Ich habe dafür neue Leute kennengelernt, neue Methoden kennengelernt und angewandt. Wenn das gelingt, dann hat man eine Form von kreativer Selbstwirksamkeit, die einen ein bisschen stabiler macht, auf diesem sehr wackeligen Balance Board.

Dennis Horn: Ich höre da ein wenig das Stichwort Fehlerkultur raus. Deswegen stelle ich jetzt noch mal meine Methodenfrage, auf die ich gerade hinauswollte, ein bisschen zurück, denn über Fehler wollte ich mit dir auch sprechen. Ich habe den Eindruck, dass zum Teil eine Fehlerkultur gefordert wird, propagiert wird, unter dieser Schlagzeile: Wir wollen scheitern! Da denke ich immer: Nee, scheitern will keiner. Ist es das richtige Ziel, scheitern zu wollen? Oder ist es nicht das richtige Ziel, dass man schon etwas schaffen will – aber wenn etwas schiefgeht, hat auch das seinen Wert?

Dirk von Gehlen: Ich glaube, dass man Fehlerkultur an zwei Dingen im Haus ablesen kann. Beispiel eins ist, wenn wirklich was Substanzielles in die Hose gegangen ist: Wie reagiert die soziale Gruppe, also das Team, das Ressort, die Abteilung? Da gibt es nämlich zwei Möglichkeiten. Erstens: Der Chef oder die Chefin sagt, dieser Fehler ist passiert, dafür ist federführend diese Person zuständig, diese Person erklärt uns jetzt, was sie daraus gelernt hat, und wir alle versuchen, diesen Fehler zu vermeiden, wenn er das nächste Mal passiert. Kein Finger Pointing, keine Schuldzuweisungen, sondern einfach gemeinsames Lernen daraus. Das ist eine meiner Meinung nach sinnvolle Fehlerkultur. Die andere Variante ist, dass Menschen versuchen, den Fehler möglichst zu vertuschen oder in ewig langen E-Mail-Ketten, in denen Menschen in cc gesetzt sind, nachzuweisen, dass sie schon im Frühjahr 2017 gesagt haben, „dass es total gefährlich ist, xyz zu machen“, und sich damit reinzuwaschen. Eine gute Fehlerkultur hält aus, dass Sachen schiefgehen, und lernt daraus.

Dennis Horn: Worauf ich hinauswollte, ist noch vielleicht eine dritte Variante, nämlich das zu überzeichnen. Diese Mischung aus Fuck-up-Nights und der manchmal propagierten Haltung: Du musst die Fehler machen, also arbeite auf die Fehler hin. Das ist es ja nun auch nicht.

Dirk von Gehlen: Das stimmt total. Mein Lieblingszitat dazu ist von Kevin Kelly, der sagt: „Machen Sie jeden Tag einen Fehler, aber jeden Tag einen neuen.“ Und das, was du sagst, ist genau das: jeden Tag einen Fehler machen – super! „Lass uns gegen die Wand rennen, dann haben wir auf unserer Innovations-To-do-Liste für heute schon mal was falsch gemacht.“ Das alleine ist natürlich überhaupt noch nicht zielführend, sondern man muss halt auch da wissen: Warum und wozu mache ich einen Fehler? Und was lernen wir daraus? Wie lasse ich andere daran teilhaben? Das finde ich einen spannenden Prozess, dafür sind so Fuck-up-Nights eigentlich ja gut, dass man sagt: Bei uns ist was schiefgelaufen, und wir teilen unsere Lehren daraus. Es ist ein bisschen dieser Cargo-Kult, dass man es halt einfach macht, weil andere Unternehmen es auch machen. Und dann fühlt man sich dadurch schon innovativ. Da teile ich dein Unwohlsein, wenn man Fehler um der Fehler Willen macht. Da muss man dann nur die unterschiedlichen Geschwindigkeiten sehen. Wir beide bewegen uns, glaube ich, in Bereichen, wo man sagt: Ja, da gibt es schon eher ein offenes Gefühl dafür, auch mal was falsch zu machen. Ich kenne aber auch Abteilungen, wo die Tatsache, dass man etwas falsch macht, möglichst verschwiegen wird, das kommt eigentlich nicht vor. Also eher alte, sehr hierarchische Führungsstrukturen. Da macht der Chef halt nie was falsch. Und dafür ist es dann schon mal sinnvoll, eine Fuck-up-Night mit einem Chef zu machen und Entscheider oder Leitfiguren auch mal in einer Schwächephase zu zeigen, um eine andere Grundperspektive zu transportieren.

Dennis Horn: Ich verstehe. Jetzt die Methoden.

Dirk von Gehlen: Ja!

Dennis Horn: Ich habe verstanden, dass gute Fragen und viele Fragen zu stellen eine Methode sein kann, um mich diesem ganzen kreativen Dasein näherzubringen. Vielleicht fangen wir mal mit der persönlichen Kreativität an und kommen dann gleich noch zur Kreativität auf Redaktionsebene. Was mache ich, um kreativ zu werden? Was sind Methoden, die erst einmal handwerklich anmuten, aber dann trotzdem etwas bei mir einstreuen und verändern?

Dirk von Gehlen: Ich sage mal zwei sehr einfache Sachen. Mein erster Punkt wäre, anzuerkennen: Du bist kreativ. Viele Unternehmen funktionieren so, dass sie sagen: Da gibt es die Kreativen, und die sind so ein bisschen verrückt. Die haben vielleicht einen kleinen Gendefekt, die sind nicht so wie wir. Das ist dann für manche Leute total toll, weil sie denken, sie sind was Besonderes. Ich glaube aber, dass es eine Fehlannahme ist. Ich glaube, dass es eine Offenheit und grundsätzliche Bereitschaft zu Kreativität bei nahezu allen Menschen gibt. Und es gibt viele Blockaden, die das dann unterdrücken. Und die Voraussetzung dafür ist die Offenheit, sich selber immer und immer wieder eine offene Haltung dem Neuen gegenüber beizubringen, sich nicht in Muster fallen zu lassen, sondern diese Muster, so weit es geht, zu hinterfragen und dabei auch die blinden Flecken einzuschließen, die jede und jeder hat. Aber das ist nur der erste Schritt. Wenn man dann wirklich sagt, ich möchte auch tatsächlich kreativer und offener werden, hilft es total, besondere Lösungen, die einem auffallen, zu notieren. Ich glaube, das ist wie ein Muskel. Je häufiger und regelmäßiger man das macht, umso besser wird man dabei. Ich habe dafür mal diese Idee eines Ideen-Tagebuchs aufgebracht: dass man sich jeden Tag einfach etwas aufschreibt, was einem aufgefallen ist. Das kann ein Plakat sein, an dem man vorbeigefahren ist. Es kann ein ein Zitat sein. Der Formatentwicklungs-Podcast war so voller Quotes, die ich mir gedanklich notiert habe. Ein Satz, eine Idee, eine Perspektive, die irgendwie anders ist, und das über einen möglichst langen Zeitraum – sechs, acht, zehn Wochen, vielleicht sogar ein ganzes Jahr. Das zu machen, zeigt so eine Offenheit. Und dann kommt man zu dem, wie ich es in dem Buch beschreibe: dass die kreative Idee dich finden kann. Dass gar nicht du die Aufgabe hast, eine Lösung zu finden, was immer nach Anstrengung und eigener Aktivität klingt. Sondern du machst dich bereit dafür, dass die Idee dich findet. Das klingt jetzt ein ganz klein bisschen esoterisch. Es zeigt aber, dass Ideenfindung nicht zwingend eine Anstrengungs-/Arbeitsleistung ist, sondern im Gegenteil: Ideen kommen eigentlich immer dann … Jede und jeder, der schon mal wirklich eine Problemlösung gefunden hat, weiß, dass es meistens kommt, wenn man sich gerade locker gemacht hat, an den See gegangen ist, nicht mehr dran gedacht hat. Das kann man tatsächlich auch aus der Hirnforschung herleiten, woher das kommt. Das heißt aber, dass ich die Bereitschaft haben muss, mich locker zu machen, mich finden zu lassen. Und diese beiden Punkte, also das häufige Üben – Sachen aufschreiben, möglichst auch breit gestreute Sachen, die gar nichts mit konkreten Themen zu tun haben – und im zweiten Schritt die Offenheit, Sachen neu zu rekombinieren und sich finden zu lassen – das wären die die sehr handwerklichen Dinge, wenn ich für mich persönlich mehr Kreativität in meinem Leben haben möchte.

Dennis Horn: Ich muss dabei ganz stark an die Bücher von Austin Kleon denken, die du mit Sicherheit auch kennst.

Dirk von Gehlen: „Steal like an artist“ ist super. Für Redaktionen oder für Teams gilt es am Ende so ähnlich. Deswegen mein Lob für Innovationsteams noch mal wiederholt: Allein, dass es Teams gibt, dass es den Raum gibt, in dem darüber nachgedacht wird, dass da einfach Leute sitzen können, die das recherchieren und nicht im Tagesgeschäft untergehen und die im Zweifel zwei, drei, vier Ideen einwerfen können, ist ein totaler Wert – selbst wenn kein konkretes Produkt dabei rauskommt. Wie auf der persönlichen Ebene jeden Tag Ideen aufzuschreiben, ist es auf der institutionellen Ebene, jemanden zu haben, der sich mit Themen beschäftigt, die weiter sind als von der Hand in den Mund – und daraus vielleicht sogar einen Newsletter, ein Podcast-Format, eine Veranstaltungsreihe, was auch immer zu machen, um das anderen zugänglich zu machen. Also, wenn NFTs aufkommen: Ist das was für uns? Muss der WDR jetzt auch einen NFT … die Maus als NFT anbieten? Wo ich sagen würde: Nein. Aber das muss man vielleicht auch begründen, warum. Diesen Freiheitsraum zu schaffen, ist für Unternehmen und für Strukturen meiner Meinung nach sehr wichtig. Organisationen neigen dazu, sich zu verfestigen. Dafür gibt es sie. Dafür gibt es die Idee einer Kostenstelle. Dafür gibt es die Idee einer Hierarchie, einer Visitenkarte, eines Namens. Alle, die da drin sind, haben eigentlich das Ziel, dass diese Organisation weiter besteht, weil aus der Organisation auch die eigene Bedeutung abgeleitet wird. Innovation und kreatives Hinterfragen arbeiten aber immer wieder an der Verflüssigung, an dem Infragestellen dieser Organisation. Es wird nie in die eine oder andere Richtung gelöst. Wenn man es in die eine oder andere Richtung löst, hat man entweder eine total verknöcherte Organisation, wo sich gar nichts mehr sich bewegt, oder die Organisation löst sich auf. Das heißt, der Regler wird immer irgendwo in der Mitte sein müssen, er wird sich aber mal sehr stark in die eine und dann hoffentlich auch wieder in die andere Richtung bewegen. Mit diesem Regler, mit diesem Skalierungsinstrument zu arbeiten, scheint mir eine ganz, ganz wichtige gedankliche Hilfe für Unternehmen. Dass das Unternehmen nicht sagt, jetzt haben wir dieses Innovationsteam und jetzt wird alles super. Das ist eine Graustufe, die man damit im besten Fall erreicht. Es ist dann nicht mehr ganz so schwarz wie vorher.

Dennis Horn: Ich habe auf Seiten der Innovationsteams und auch einer Reihe von Redaktionen aktuell ein bisschen den Eindruck: Die versteifen sich beim Thema Innovation gerade auf einen Methodenzirkus. Ich muss da vor allem an Design Thinking denken und an ein Schablonendenken: Egal, was das Problem ist, wir hauen da jetzt mit unserer Methode drauf, die unser Haus zuletzt in vielen Workshops beigebracht bekommen hat. Ist das, was da am Ende rausspringt, dann wirklich kreativ?

Dirk von Gehlen: Kreativ ist es dann, wenn es hilft, das vordefinierte Problem einer Lösung näher zu bringen, und dafür sind Design Thinking und gewisse Methoden und handwerkliche Techniken sinnvoll. Aber wahrscheinlich hast du zum Teil Recht mit der Beschreibung. Ich teile deine Einschätzung, dass Innovationsabteilungen gerade auch dazu neigen, sich selber wieder zu verfestigen, und dafür ist natürlich so ein Methodenkoffer, auf den man immer wieder zurückgreifen kann, total hilfreich. Da hilft am ehesten der Teil, der auch in dem Podcast mit Sascha Friesike vorkam: eine Beschäftigung mit sich selber, die Methode der Selbstreflektion, zu sagen: Ist es tatsächlich das Sinnvollste, wieder mit dem gleichen Design-Thinking-Prozess das nächste Thema zu lösen? Oder ist nicht bei diesem Thema vielleicht mal eine andere Methode sinnvoll? Ist es bei dem Thema nicht vielleicht mal möglich, alle Leute, die bisher dagegen waren, einzubeziehen und so zu tun, als sei das Projekt schon gescheitert, also die Post-mortem-Methode. Ich glaube, das ist eine Aufgabe für Innovationsteams, die schon eine ganze Weile da sind: dass man versucht, sich als Team immer wieder mit neuen Ideen und Methoden zu konfrontieren. Das ist aber wahrscheinlich nicht so einfach zu lösen, dass man sich einen kleinen Reminder einstellt und dann noch mal neu draufguckt. Sondern es ist wahrscheinlich eher eine Frage von Diversität im Team, dass man nicht zu sehr und zu fest und zu eingefahren in den immer gleichen Strukturen und Teams denkt, sondern neue Impulse reinholt. Da weiß ich keine gute Methode – außer sich daran möglichst oft selber zu erinnern.

Dennis Horn: … und schon wären wir wieder dabei, Fragen zu stellen.

Dirk von Gehlen: Stimmt, ja.

Dennis Horn: Abschließende Frage von mir: Welche Rolle spielen beim Thema Kreativität und Innovation eigentlich Räume, also physische Räume?

Dirk von Gehlen: Ein sehr, sehr guter Punkt. Dazu gibt es ja im Design-Thinking-Framework auch ein paar Ideen. Ich habe darüber sehr lange nachgedacht. Ich bin Fußballfan, und die Tatsache, dass gerade beim Fußball keine Zuschauer da sein können, legt offen, wie wichtig Atmosphäre ist, finde ich. Also die klassische Gegenteil-Methode: einfach mal etwas auf den Kopf stellen. Fußball ohne Zuschauer – vor fünf Jahren hätten alle gesagt: Hä, wie soll das denn gehen? Jetzt gerade hat man allein durch die Gewöhnung als Fußballfan das Gefühl: Wie soll es eigentlich mal wieder mit Zuschauern gehen? Atmosphäre ist total zentral, und auch die Veränderung der Atmosphäre ist total zentral. Wenn du immer in diesem fensterlosem Raum mit Flipchart und verspiegelter Kaffeekanne sitzt, und da sind die immer gleichen Kekse, dann ist es echt schwierig, auf neue Ideen zu kommen. Der Begriff dafür ist „Vu Jade“, also das umgekehrte Déjà-vu. Ein Déjà-vu ist ja der Moment, in dem du in einem fremden Kontext etwas vermeintlich Vertrautes wiedererkennst. Für ganz, ganz viele Konzernstrukturen ist das Vu Jade viel wichtiger, nämlich in der immer gleichen grauen, Stromberg-artigen Atmosphäre was Neues zu entdecken. Das ist eine Fähigkeit, die kann man trainieren. Aber leichter ist es natürlich, den Raum zu ändern, die Atmosphäre zu ändern. Ganz, ganz billiger Trick – und ich weiß, wir sind alle müde spaziert – aber: mal ein Brainstorming im Gehen zu machen. Das ist wirklich – damit der Begriff hier gefallen ist – ein Game-Changer.

Dennis Horn: Jetzt habe ich die Bingo-Reihe voll.

Dirk von Gehlen: Es verändert das Denken. Und klar, wir sind alle, wie gesagt, müde spaziert. Aber das mal für eine Ideenrunde zu machen: Unser Team geht jetzt einmal um den Mediapark in Köln oder einmal ums Hochhaus der Süddeutschen Zeitung, und wir reden im Gehen aber über das Thema. Was fällt uns dabei auf? Oder: Wir haben die Aufgabe, Dinge, an denen wir vorbeigehen, in das Projekt zu integrieren. Dann kommt einem zufällig jemand entgegen, und diese Kraft des Zufalls in der Raum- und Atmosphärensetzung zu nutzen, das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Der Raum spielt eine total große Rolle. Damit meine ich nicht, dass wir einen Kicker brauchen und Sitzsäcke und eine Tafelwand, sondern die Bereitschaft zur Veränderung, zu neuen Impulsen von außen.

Dennis Horn: Dirk, vielen lieben Dank für deine Zeit.

Dirk von Gehlen: Es hat mir viel Spaß gemacht und – um den Rahmen zu schließen: Natürlich habe ich mich sehr, sehr gefreut, und ich habe es in keiner Sekunde bereut, dass ich gekommen bin.

(Hinweis: Ich habe das Gespräch aus dem Podcast zur besseren Lesbarkeit leicht geglättet.)


Feedback? Kritik? Fragen?

Wenn ihr das Innovationstheater interessant findet und ihm schon folgt: Ihr könnt mir helfen, wenn ihr meinem Podcast in eurer Podcast-App eine ordentliche Bewertung verpasst und einen Kommentar hinterlasst.

Ihr habt Gedanken zum Podcast? Feedback, Kritik, Fragen? Schickt mir gerne eine E-Mail an horn@dennishorn.de, meldet euch in den Kommentaren oder auf welchem Weg auch immer.

Und wenn ihr über den Podcast und Neuigkeiten zum Projekt auf dem Laufenden bleiben möchtet – abonniert jetzt den Newsletter!


Alle Episoden

Innovationstheater

  continue reading

23 Episoden

Artwork
iconTeilen
 

Archivierte Serien ("Inaktiver Feed" status)

When? This feed was archived on December 09, 2023 23:09 (5M ago). Last successful fetch was on April 25, 2023 11:31 (1y ago)

Why? Inaktiver Feed status. Unsere Server waren nicht in der Lage einen gültigen Podcast-Feed für einen längeren Zeitraum zu erhalten.

What now? You might be able to find a more up-to-date version using the search function. This series will no longer be checked for updates. If you believe this to be in error, please check if the publisher's feed link below is valid and contact support to request the feed be restored or if you have any other concerns about this.

Manage episode 292994812 series 2914447
Inhalt bereitgestellt von Dennis Horn. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Dennis Horn oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.
SpotifyApple PodcastsPocketCastsRSS

Dirk von Gehlen ist Director Think Tank beim SZ Institut der Süddeutschen Zeitung und hat zuletzt das Buch „Anleitung zum Unkreativsein“ veröffentlicht. Mit ihm spreche ich über kreative Methoden, gute Fragen und Feedbackkultur.

Kreativität ist Bedingung für Innovation. Aber was sind die Bedingungen für Kreativität? Wie frei darf sie sein – und wie sehr muss sie den Daten, Personas und Metriken gehorchen, über die wir in anderen Ausgaben des Innovationstheaters gesprochen haben?

Welches Level an Kreativität braucht Innovation? Und welchen Rahmen braucht Kreativität? Darüber spreche ich in dieser Ausgabe mit Dirk von Gehlen, der mit „Anleitung zum Unkreativsein“ ein ganzes Buch zum Thema verfasst hat – und sich als Leiter des Innovationsteams der Süddeutschen Zeitung auch damit beschäftigt, wie Medienhäuser und Redaktionen das Thema Kreativität gezielt angehen können.

Das Gespräch mit Dirk von Gehlen in Textform

Dennis Horn: Wie sieht die Wechselwirkung von Innovation und Kreativität aus? Was haben diese beiden Dinge miteinander zu tun? Welche Rolle spielt Kreativität für Innovation?

Dirk von Gehlen: Das beantworte ich total gerne – direkt mit dem Lob für alle Episoden, die ich schon gehört habe, die ich super finde und die mich aber dazu gebracht haben, eigentlich hier gar nicht zuzusagen. Das, was du hier machst, ist großartig. Ich habe so viel gelernt in der Formatentwicklungsfolge, aber auch in den anderen. Was mir aufgefallen ist: dass es ein bisschen zu viel „Innovation scheitert ja immer“ als Grundton ist. In der Folge mit Sascha Friesike kommt das sehr gut raus: „Wir gegen das System“ und „Wir fühlen uns ein bisschen ungerecht behandelt als innovative Menschen“. Das nimmst du mit dem Theater natürlich auch schön ironisch auf. Natürlich bin ich voll gerne gekommen. Trotzdem habe ich gedacht, eigentlich mag ich an diesem Narrativ gar nicht mitschreiben, dass Innovation immer scheitern muss. Dahinter steckt meiner Meinung nach eine nicht ganz richtige Erwartungshaltung. Man fängt an mit Innovation und denkt, dieser Innovationshub oder dieses Start-up-Lab, das wir jetzt in der Organisation gründen, das muss jetzt die Welt verändern, und alles unter „die Welt verändern“ gilt dann als Scheitern. Ich glaube, dass Innovationshubs überhaupt nicht scheitern, sondern dass wir viel, viel zu große Erwartungen haben und dabei in ein Dilemma laufen, dass wir die kurzfristigen Veränderungen massiv überschätzen und die langfristigen Folgen massiv unterschätzen. Das sind zwei Punkte, die ich vorwegschicken möchte, weil die sich in meiner Arbeit – ich bin seit fast 20 Jahren bei der Süddeutschen in diesen Bereichen tätig – sehr, sehr deutlich gezeigt haben und ich Wellen von Begeisterung erlebt habe – von „Die Welt verändert sich total durch innovative Arbeit“ bis zu, sagen wir mal, resilienten Phasen, in denen ich gelernt habe, dass es vielleicht doch nicht so schnell und groß und verändert ist. Hinter Innovation steckt meiner Meinung nach eine Haltung zum Neuen – eine gestaltende Haltung, die sich am ehesten in dem zeigt, was Kreativität für mich ist, nämlich eine Bereitschaft, immer wieder neu Lösungen zu finden, immer wieder neue Ansätze auszuprobieren, die helfen könnten, ein Problem zu lösen. Das können sehr, sehr kleine Sachen sein. Das kann aber eben auch das Unternehmen verändern, die Welt verändern, das große Rad sein. In den meisten Fällen ist man aber viel, viel erfolgreicher, wenn man kleiner denkt, wenn man kleinere Lösungen sucht. Deswegen bin ich vom Begriff Innovation auf den Begriff Kreativität gekommen.

Dennis Horn: Interessant. Du schreibst mir also erst einmal etwas ins Heft, über das ich ein bisschen nachdenken muss. Ich bin ja tatsächlich über den Gedanken „Innovation scheitert so oft“ zu diesem Podcast gekommen – um dann hier zu besprechen, wie sie eben nicht scheitert und wie man es hinbekommt. Dann lass uns das doch einmal genau so positiv angehen – und vor allem mit dem Gedanken an eigene Erwartungshaltung, denn nicht alles, was wir machen, ist das neue iPhone, nicht wahr?

Dirk von Gehlen: Richtig, das ist die Flughöhe. Und alles, was jetzt nicht unsere Kommunikationswelt komplett verändert, nehmen wir dann als Scheitern wahr. Ich verstehe das übrigens. Ich verstehe die Haltung, die du beschreibst, und die Podcasts gehen ja auch immer alle konstruktiv weiter. Es ist ja nicht so, dass du mit allen Gesprächspartnern in so ein selbstgefälliges „Die Welt versteht nur nicht, wie toll wir alle sind“ verfällst – im Gegenteil. Und es liegt vielleicht auch daran, dass ich alle en bloc noch mal gehört habe, dass dieser Eindruck ein bisschen zu stark da ist. Gleichzeitig gehört es eben auch dazu, dass innovative Menschen sich in Deutschland, in Europa zusammenschließen und von gemeinsamen Problemen sprechen. Das darf man auch nicht aus dem Blick nehmen. Wir hatten mal so eine Phase vor zehn Jahren, wo alle in Best Cases immer nur so getan haben, als wäre überall alles super – das stimmt ja auch nicht. Deswegen bin ich ja auch da, und ich bin großer Fan des Theaters. Aber dass es das Theater gibt … Vielleicht fangen wir damit schon mal an: Dass es Innovationshubs gibt, dass es Menschen gibt, die sich hauptberuflich damit beschäftigen, was übermorgen wichtig werden könnte – das allein ist schon ein Riesenerfolg. Das gab es vor 30 Jahren in der Medienbranche in der Form nicht. Da wurde sehr viel mehr von der Hand in den Mund gelebt. Und dass es Menschen gibt, die … Ich nehme jetzt mal bewusst den Post-it-Zettel sozusagen als Ausdruck eines Cargo-Kults … Dass es Menschen gibt, die mit Post-it-Zetteln in agilen Strukturen in Sprints arbeiten – all das ist total wertvoll, auch wenn wir das aus der Innovationswelt für Plattitüden halten. Langfristig hat es eine Auswirkung auf ein Haus, auf einen Konzern, auf eine bestehende Arbeitsstruktur, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Dennis Horn: Ich stelle mir das immer wie die Bewegung eines Pendels vor, das erst einmal solche Ausschläge hat, bevor es sich irgendwo einpendelt, wo es funktioniert und gut ist.

Dirk von Gehlen: Das Pendel finde ich gut. Ich habe mir vorher überlegt, was das Bild für funktionierende Innovation ist, das ich mitbringen will. Dann bin ich durch meine Instagram-Timeline gesurft, und da wurde mir ein Balance Board vorgestellt. Ich weiß nicht, ob du so etwas hast. Es ist die Variante von: Wir können uns gerade alle nicht richtig bewegen, also kauf dir doch so ein sehr teures Board, mit dem du zu Hause so eine Art Sport machen kannst. Und ich finde, das ist eine sehr, sehr schöne Metapher für das Ausbalancieren. Denn wenn man auf so einem Balance Board steht, steht man nie richtig fest, sondern muss immer wieder die richtige Balance finden. Wahrscheinlich sind innovative Menschen oder Einheiten, die Innovation vorantreiben sollen, in erster Linie Dolmetscher oder Übersetzer, die Teile der „neuen Welt“ in die alte bringen. Und ein – meiner Meinung nach – Fehler ist oft, zu glauben, die neue Welt einfach eins zu eins umsetzen zu können. Der Diskurs des Verhandelns, der Kompromiss darum, wie das zu tun ist, ist Teil von innovativer oder kreativer Arbeit. Ich finde „kreativ“ deswegen als Begriff noch ein bisschen stärker, weil „Innovation“ immer so was von VR-Zukunft und irgendwelchen blinkenden Knöpfen hat. Manchmal ist es auch sehr, sehr innovativ, eine vermeintlich alte Lösung zu verwenden. Deswegen habe ich mich selber ein bisschen auf diesen Begriff der Kreativität eingependelt.

Dennis Horn: Ich möchte mit dir bei der persönlichen Kreativität beginnen und dann irgendwann bei den größeren Fragen landen. Als ich über diesen Begriff Kreativität nachgedacht habe, habe ich an meine Zeit in einem Radiosender gedacht, in dem ich gearbeitet habe. 10.30 Uhr, Redaktionskonferenz für die Nachmittagssendung, eine Sendung, die sich als innovativ verstanden hat, weil sie Dinge ständig anders angehen wollte. Sie war so getrieben von einem Wir-sind-anders-als-das-andere-Radio-Ding. Themen aus einer anderen Perspektive betrachten, Humor, Personality. Und in dieser Redaktionskonferenz um 10.30 Uhr hieß es dann immer: „Was machen wir heute? Lass mal brainstormen!“ Dann wurde es ruhig. Einer sagt: „Ich habe eine Idee!“ Und die Chefin für den Nachmittag zerpflückt diese Idee: „Nee, da haben wir zu wenige Leute für.“ „Nee, versteht keiner.“ Und dann sagt der, der die Idee hatte: „Na ja, aber …“ Und dann findet ein anderer die Idee gut, eine andere mag sie nicht so. Zehn Minuten Gespräch, am Ende kommt nichts rum. Können wir bitte erst einmal festhalten: Brainstorming ist nie die Lösung!?

Dirk von Gehlen: Ja, aber Brainstorming ist trotzdem auch gut. Ich will keine Werbung für dieses Buch machen, aber ich habe ein Buch geschrieben, das heißt „Anleitung zum Unkreativsein“, weil ich genau diese Situationen zur Genüge kenne. Und weil ich ganz, ganz oft in diesen Sitzungen saß und dachte: Was machen wir hier eigentlich? Und dann auf die Idee gekommen bin: Vielleicht üben wir einfach Unkreativsein, denn genau diese Chefredaktionen, die du gerade beschrieben hast, sind ja Teil von: Wie trete ich möglichst schnell sprießende kleine Pflanzen kaputt und wie zerstöre ich Kreativität? Das Komische ist: Es gibt da sehr banale handwerkliche Regeln für. Also, dass man in einem Brainstorming keine Bewertungen treffen soll; dass man mit „und“ statt mit „aber“ antworten soll; dass man sich bemühen soll, aufzubauen statt niederzuschmettern und so; das kann man alles nachlesen. Wir haben aber so einen Reflex, das alles nicht zu tun, weil wir Kreativität und die Ergebnisse von Kreativität nicht aushalten, weil wir uns davon nicht überraschen lassen wollen. Stattdessen sitzen wir in dieser Morgenkonferenz, und eigentlich haben wir schon so eine Idee, in welchen „Kasten“ das rein müsste – und darüber hinaus zu denken ist immer anstrengend, ist immer herausfordernd und stellt die eigene Meinung in Frage. Und das ist brutal schwierig. Deswegen bin ich auf die Idee gekommen, es komplett umzudrehen und zu sagen: Gut, dann probieren wir jetzt mal absichtsvoll, unkreativ zu sein. Und wenn man aus der Perspektive darauf guckt, lernt man indirekt ganz viel darüber, wie man persönlich erst einmal neue Ideen erreicht, also wie man seine Komfortzone verlässt und out of the box denkt. Wobei out of the box auch der beste Kreativitätskiller sein kann, denn der Rahmen – also: Wohin muss die Lösung passen? – ist die Voraussetzung dafür, um überhaupt kreativ werden zu können. Wenn du in einer Institution – im WDR, in der Süddeutschen Zeitung – garantieren willst, dass keine kreativen Lösungen rauskommen, musst du einfach sagen: „Setzen Sie sich jetzt mal eine Stunde zusammen. Es gibt keine Vorgaben, es gibt keine Begrenzung. Und jetzt seien Sie mal kreativ!“

Dennis Horn: Das ist interessant. Das wird ja manchmal als Gegensatz genannt: Ein Rahmen tötet Kreativität. Deine These wäre also: Ein Rahmen ermöglicht sie erst?

Dirk von Gehlen: Ich bin total davon überzeugt, dass die Voraussetzung für Kreativität ist, dass man weiß, was der Rahmen ist. Sonst habe ich ja gar keine Bewertungskriterien. Also machen wir es erst mal nur persönlich: Ich möchte für mich eine Lösung für ein Problem finden. Dann muss dieses Problem als erstes hinterfragt werden. Ich muss erst mal rausfinden: Was ist das Schloss, für das ich einen Schlüssel brauche? Und natürlich ist es leichter, zu sagen, wir suchen mal Schlüssel ohne Schloss. Da finden wir bestimmt auch total schöne und können uns die alle angucken, in der Bewertung bleibt es aber dann eine sehr subjektive Frage von: „Wie finden wir die Schlüssel?“ Und nicht mehr ein möglichst objektives Annähern an: „Öffnet dieser Schlüssel auch ein Schloss?“ Das wäre ja am Ende die Wirksamkeit von Kreativität: Ich habe mit dem, was ich mir ausgedacht habe, tatsächlich ein Problem einer Lösung näher gebracht.

Dennis Horn: Das heißt, Häuser, die innovativ sein möchten und für diese Innovation Kreativität benötigen, tun sich gut darin, als Grundlage für Kreativität und Innovation, erst einmal einen Rahmen festzulegen, Probleme zu benennen, zu sagen, wo sie überhaupt hin möchten – möglichst konkret?

Dirk von Gehlen: Absolut. Das ist es, was man auch in der letzten Folge über Formatentwicklung noch mal total genau raushören kann: dass du ein Format nicht entwickeln kannst, ohne zu wissen, für wen. Das ist ein ganz, ganz klassisches Dilemma, das man vor zehn Jahren in deutschen Medienhäusern aller Facetten, immer wieder hatte, dass man gesagt hat: Jetzt denken wir uns mal was aus. Und sich produzierendenlastig überlegt hat: Was können wir gut? Das machen wir jetzt. Das ist Kreativität.

Dennis Horn: Darum ist auch so ein Geniekult entstanden.

Dirk von Gehlen: Total, absolut. In der Werbung gibt es dann diesen genialen Art Director – ich gendere hier absichtlich nicht, weil es eigentlich immer Männer sind, die reinkommen, einen Pinselstrich auf ein Flipchart malen, und ab da ist dann alles eine Goldidee. Das ist aber solange eine rein imaginäre Idee und keine wirkliche Kreativität, wie ich nicht die Zielgruppe, das angestrebte Ziel kenne. Deswegen ist es eine total entscheidende Veränderung in deutschen Medienhäusern, dass wir user-centric Ideenentwicklung machen, dass wir wissen, für wen wir das entwickeln. Das ist die zentrale Frage, bevor man loslegt. Das ist etwas, worin Innovationsabteilungen in den letzten 15 Jahren total erfolgreich waren, denn das ist heute, glaube ich, in vielen Bereichen anerkannt – und es ist eine Grenze für Kreativität. Ich sage also: Für diese Zielgruppe möchte ich jetzt etwas erreichen. Und daraus ergibt sich, dass ich ganz viele andere tolle Ideen gerade nicht machen kann, weil sie da nicht drauf passen. Dieser Zuschnitt auf eine Zielgruppe ist eine erste Begrenzung. Es gibt dann tausend andere, die man auch durchgehen kann, die sind meiner Meinung nach aber große Hilfen, um Lösungen zu finden. Und ein – meiner Meinung nach – großer Fehler ist, die Grenzen wegzunehmen. Dann sagen Intendanten, Chefredakteure und Ressortleiter: Jetzt dürft ihr mal ganz frei denken. Tipp von mir: sofort den Raum verlassen, weil es gut wäre, wenn eine konkrete Frage gestellt wird. Wenn man sagt, es gibt keine Begrenzungen, Herr Horn, denken Sie sich mal eine gute Lösung aus für die Süddeutsche Zeitung – dann kannst du das nicht. Du musst erst eine Frage haben, um eine Antwort zu formulieren.

Dennis Horn: „Gut wäre, wenn eine konkrete Frage gestellt wird“ und „Du musst erst eine Frage haben, um eine Antwort zu formulieren“. Da taucht zweimal der Begriff „Frage“ auf. Du hast eben dein Buch schon reingeworfen, darin schreibst du sehr viel über Fragen. Im Grunde ist das deine Methode: sehr, sehr viele Fragen zu stellen. Vielleicht kannst du einmal darauf eingehen, was das heißt: in diesem Kreativprozess erst einmal nur Fragen zu stellen, statt die ganze Zeit tausend Ideen runterzurattern.

Dirk von Gehlen: Es gibt dieses schöne Zitat, das Albert Einstein zugeschrieben wird. Es ist ja so mit Zitaten im Internet: Man weiß nicht genau, ob er es wirklich gesagt hat. Aber selbst, wenn nicht: Die Idee dahinter ist gut. Er sagt: Wenn er eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, würde er 54 Minuten darauf verwenden, Fragen zu stellen, und 6 Minuten darauf, das Problem auf Basis dieser Fragen zu lösen. Darin steckt ganz viel, was kreative Lösungskompetenz angeht. Kreativität hat meiner Meinung nach ganz viel mit Perspektivwechsel zu tun, also Dinge aus einer anderen Sichtweise zu betrachten. Das kann man lernen, indem man ganz, ganz viele Fragen stellt, und zwar auch die Sachen in Frage stellt, die gemeinhin schon als gesetzt gelten. Ich würde sogar sagen, gerade die Voraussetzungen noch mal zu hinterfragen, ist besonders erfolgreich, weil man dann oft feststellt: Es geht gar nicht zwingend darum, dass man das große Ganze löst, sondern dass man einen kleinen Teil löst. Ich illustriere das in dem Buch mit der Idee eines Kreisverkehrs. Der Kreisverkehr ist ja eigentlich nichts anderes als eine Kreuzung. Trotzdem fließt der Verkehr an Kreisverkehren schneller als an Kreuzungen mit Ampeln. Das liegt daran, dass irgendjemand mal auf die Idee gekommen ist, am Kreisverkehr das Problem des Verkehrsflusses kleiner zu machen und zu sagen: Wir lösen das jetzt mal nur für jeweils ein Auto oder ein Fahrzeug. Ein Fahrzeug kann in den Kreisverkehr reinfahren, und es gilt nur eine Regel: „Im Kreis“ hat immer Vorfahrt. Damit fließt der Verkehr leichter, als wenn man immer schubweise die Ampel von Rot auf Grün springen lässt. Es hat sich eigentlich nichts verändert an diesem Verkehrsfluss, außer dass man das ganz große Problem kleiner gefragt hat. Geht es also wirklich darum, dass alle da durchfahren müssen? Oder geht es nicht erst mal darum, dass nur ein Auto fahren muss? Es ist eine winzige Kleinigkeit in der Fragestellung, die aber am Ende zu einem großen Unterschied führt. Deswegen glaube ich, dass die allererste Voraussetzung für persönliche Kreativität, aber auch für institutionelle Kreativität, die Fähigkeit ist, zu fragen. Und fragen traut man sich nur dann, wenn man Autoritäten hinterfragen darf. Institutionell gesprochen heißt das: Innovationsabteilungen müssen das Recht haben, zu fragen: Warum beginnt die Tagesschau eigentlich mit einem Gong? Um mal die größte Tradition im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu nehmen. Oder: Warum beginnt die Süddeutsche Zeitung mit einem Streiflicht oben links? Also eine Frage zu stellen, mit der ich ja nichts in Zweifel ziehe oder sage, es soll nicht so sein. Aber ich möchte herausfinden, warum das so ist. In neun von zehn Fällen ist die Antwort: Weil es schon immer so war. Und das ist noch keine gute Begründung. Damit kommst du an Punkte, die Innovation auf einmal ganz anders dastehen lassen, weil es gar nicht mehr darum geht, den Gong in der Tagesschau zu verändern, sondern rausgefunden zu haben: Das finden wir auch gut, dass es damit beginnt. Das ist ein Zeichen, das bedeutet es und das soll es beim Nutzer, bei der Nutzerin auslösen. Diese Fragen zu stellen, das ist ein ganz, ganz wichtiger, innovativer Prozess, den man am Ende aber gar nicht so zwingend in Ergebnissen messen kann.

Dennis Horn: Zwei Dinge dazu – zwei Fragen. Erstens: Wir haben ja vorher darüber gesprochen, dass das Haus erst einmal sagen sollte, wo es hin möchte: Was ist das Problem? Was ist die grundlegende Fragestellung? Das heißt, dann kommen die Innovationsleute und stellen erst mal das, was ihnen vorgegeben wurde in Frage – vielleicht, um es zu verbessern. So verstehe ich das richtig?

Dirk von Gehlen: Ja. Auch die Aufgabe richtig verstehen.

Dennis Horn: Und zweitens: Wie verhindert man an so einer Stelle, dass die Bedenkenträger sich in Form von Fragen äußern und vorgeben, damit ja nur die Innovation fördern zu wollen?

Dirk von Gehlen: Ja, das ist tatsächlich ein Problem. Ich habe dafür mal die Domain zerreden.de reserviert. Filibuster nennt man das glaube ich im parlamentarischen Kontext. Du kannst natürlich mit Fragen auch alles zerreden, das ist total richtig. Ich glaube, wir waren ja jetzt sozusagen auf der ersten Startebene. Irgendwann kommt man zu einem Punkt, wo man sich dann auf einen Weg einigt. Wenn man die Frage gestellt hat, wo wir eigentlich hinwollen, und den Zielkorridor definiert hat, dann verändert man den Charakter der Fragen. Die Fragen werden dann spitzer, es sind keine offenen Fragen mehr, sondern es sind geschlossene. Sie sind zielgerichteter, und man hat ein gemeinsames Commitment, noch ein schlimmes Wort, einen Purpose, ein Ziel, das man erreichen möchte. Darauf versucht man gemeinsam hinzugehen. Da gibt es dann immer wieder Leute – ich habe dazu so ein Bullshit-Bingo-Spiel im Feedbacken gemacht -, die einfach durch ihr Feedback Ideen zerstören. Der Trick, der sich meiner Meinung nach am besten eignet, um damit auf institutioneller Ebene umzugehen: sich immer wieder auf die vorher definierte Zielvorgabe zurückzuziehen. Also zu sagen: Wir hatten uns doch geeinigt, wir wollten gemeinsam dieses Problem lösen. Wenn wir das gemeinsam immer noch wollen, dann ist deine Frage so, wie du sie jetzt formulierst, erstens nicht besonders wertschätzend und zweitens: Wie führt sie uns denn jetzt zu einem Ziel? In ganz vielen Fällen löst man damit diese Zerreden-Feedbackkultur, die einfach immer nur blöde Fragen stellt. Ein wahnsinnig schönes Fundstück dazu, das schon länger durchs Internet geistert, ist eine CIA-Vorgabe, ich glaube aus dem Zweiten Weltkrieg, dazu, wie man Institutionen von innen zersetzen kann. Ich habe das alles genau so schon von Menschen in normalen Kontexten gesehen, die sicher nicht als feindliche Spione versucht haben, kreative Runden zu zersetzen, sondern einfach nur dachten, das müsse man jetzt mal so tun. Also dieses berühmte: Ich spiele jetzt mal Advocatus Diaboli. Ich bin jetzt einfach mal nur ein bisschen provokant.

Dennis Horn: Ich höre diesen Satz so oft.

Dirk von Gehlen: Genau. Und da muss man einfach fragen: Warum spielst du jetzt diese Rolle? Was möchtest du damit erreichen? Glaubst du, das hilft uns auf dem Weg? Also gar nicht zwingend in die Konfrontation zu gehen, sondern zu sagen: Was möchtest du damit erreichen? Du hast einen Zweifel, du hast Angst, dass diese Idee irgendetwas, das dir wichtig ist, zerstören könnte. Aber warum ist dir das wichtig? Wie kann man diesen Zweifel in die Idee integrieren? Das klingt jetzt ein bisschen wie betreutes Ideenentwickeln, ist aber meiner Erfahrung nach ein ganz, ganz wichtiger Prozess, um zumindest entscheidende Leute auf dem Weg nicht zu verlieren und auch deren – häufig sogar relevante – Bedenken mit zu integrieren, um auf diesem Weg die Idee zu schärfen oder passender zu machen. Das ist dieses alte Kinderspiel, das du vielleicht auch kennst, von Kleinkindern oft gespielt: ob man einen runden, dreieckigen oder viereckigen Bauklotz durch Löcher kriegen kann. Da muss man immer ein bisschen rumfummeln. Und manchmal ist es tatsächlich sinnvoller, noch mal und noch mal zurückzugehen, statt einfach den runden Bauklotz durch das viereckige Loch zu prügeln. Das ist meiner Meinung nach Teil von kreativen Entwicklungsprozessen: In der aktuellen Situation ist diese Idee noch nicht gut. Es kann aber sein, dass sie in zwei Jahren perfekt ist. Das meinte ich ganz am Anfang mit langfristiger Ideenentwicklung: Wir entwickeln eine Idee für ein Format, sind dann megaenttäuscht, dass es nicht funktioniert. Und in zwei Jahren ist die Zeit dafür reif. Dann funktioniert es, und da war man trotzdem erfolgreich.

Dennis Horn: Ich habe vor dem inneren Auge eine Pyramide, wie die Bedürfnispyramide – und ich möchte jetzt mal rauszoomen, über all die Elemente, über die wir gerade gesprochen haben. Ganz oben ist das Thema Innovation. Da wollen wir hin. Also: etwas Neues schaffen und gut darin sein. Dann sagst du: Die Bedingung dafür ist Kreativität. Jetzt höre ich raus: Die Bedingung für Kreativität wiederum ist die Feedbackkultur?

Dirk von Gehlen: Ich glaube, das ist ein sehr schönes Bild mit der Pyramide. Ich würde auf die unterste Ebene, auf die Basis, den Begriff der Marke schreiben. Oder eine Grundübereinkunft darüber, was man will. Simon Sinek nennt es das Why, also diese Grundidee: Warum sind wir eigentlich hier?

Dennis Horn: Viele Medienhäuser beantworten diese Frage ja nicht, weil sie denken: Why? Ja, Journalismus halt …

Dirk von Gehlen: Genau. Wir haben bei der Süddeutschen vor zwei Jahren einen Markenprozess gestartet – es war nicht ganz einfach und nicht komplikationsfrei -, wo wir genau diese Fragen gestellt haben. Warum machen wir das eigentlich? Was ist der Kern dessen, was wir hier tun wollen? Und kann man das miteinander verbinden? Dabei ist ein Markenkern rausgekommen, der intern als „Mehr Licht“ beschrieben wird. Also ein Erkenntnisgewinn, in allen unterschiedlichen Ausprägungen, also im Investigativressort genauso wie bei den Menschen, die Aboanfragen annehmen, sozusagen als verbindendes, übergeordnetes Warum. Das klingt jetzt erst mal komisch. Und wenn man über die Marke redet, denken die meisten Leute sofort an Reklame. Es ist aber total hilfreich für die interne Kultur und für die gemeinsame Ideenentwicklung, am Ende immer zu sagen: Wir hatten uns doch etwas Gemeinsames vorgenommen. Und sind wir eigentlich noch dabei, auf dieses Ziel hinzuarbeiten? Oder sind wir gerade dabei, uns in internen Ressourcenkämpfen zu verstricken, weil wir nicht wollen, dass Abteilung A Abteilung B irgendwelche Budgets wegnimmt? Da hilft es total, auf der untersten Ebene der Pyramide eine Übereinkunft darüber zu haben, warum man eigentlich gemeinsam in die Arbeit geht und welche Ziele man gemeinsam verfolgt. Es ist nämlich nicht per se definiert, einfach weil es eine Institution schon lange gibt, sondern weil man das gemeinsam rausfindet. Auf dieser Basis kann man eine Feedbackkultur entwickeln. Auf dieser Basis kann man Kreativität entwickeln, kann man eine Form von psychologischer Sicherheit in der Institution haben – und dann kann daraus Innovation entstehen.

Dennis Horn: Das ist gleichzeitig aber ja ein bisschen top down, weil eine solche Entscheidung, die Marke zu benennen und das auszuarbeiten, ja von oben kommen muss – oder zumindest muss man „denen“ das einflüstern. Ich mag einen Gedanken aus deinem Buch, der eher von unten kommt, nämlich den „kreativen Imperativ“. Du schreibst: „Gib in der Weise Feedback zu Ideen, wie du dir selbst Feedback für deine Ideen wünschst.“ Das pusht dann Kreativität, so wie wir es gerade auch besprochen haben. Ist also Kreativität auch eine Möglichkeit, von unten, so ein bisschen graswurzelmäßig, die Kultur in einer Redaktion, in einem Medienhaus zu verändern?

Dirk von Gehlen: Das glaube ich, unbedingt. Ich finde den Satz, den ich ganz oft höre aus ganz, ganz vielen Unternehmen, ganz interessant: „Bei uns haben wir so eine schlechte Unternehmenskultur.“ Nehmen wir mal den Vergleich mit dem Umweltschutz: Du siehst jemanden bei dir im Ort, der gerade vor dir steht und sagt: „Hier kümmert sich niemand um Umweltschutz.“ Dann fragt man ihn: „Trennst du denn deinen Müll?“ Und dann sagt er: „Nein, hier ist echt so eine Katastrophe, mache ich nicht.“ Man fängt selber damit an, Umweltschutz zu machen, bei ganz kleinen Dingen. Dass man sich kein Atomkraftwerk in den Garten stellt, scheint eine Selbstverständlichkeit. Aber es gibt halt eben den eigenen ökologischen Fußabdruck. Und so kann man sich, glaube ich, auch einen eigenen kreativen Fußabdruck anschauen. Es gibt ein paar Eigenschaften – um es kurz pathetisch zu machen: Liebe gehört glaube ich dazu; Freude, die man teilen kann und die dabei mehr wird; und Kreativität gehört dazu. Wenn ich eine schlechte Unternehmenskultur beklage, ist ein allererster Schritt, zu fragen: Was tue ich selber denn eigentlich für die Unternehmenskultur? Wie reagiere ich denn, wenn die Idioten aus der anderen Abteilung ein Thema vorschlagen? Es gibt ja in jedem Haus die doofe Abteilung – es ist einfach so. Es gibt in jedem Haus jemanden, den man bescheuert findet – oft zurecht, ja. Aber wie reagiere ich, wenn der was vorschlägt? An dem Punkt entscheidet sich, wie die Unternehmenskultur im Haus ist. Da brauchst du gar keinen Chef, da brauchst du keinen Change Manager, keinen Feel-good-Manager. Da musst du einfach nur dich selber fragen: Halte ich es aus, dass die Doofen mal eine gute Idee haben? Wenn ich das aushalte, dann ist man auf einem sehr, sehr guten Weg zu einer guten Unternehmenskultur, und die wächst dann quasi von unten nach oben. Wenn man diesen Markenweg geht, den ich zuerst beschrieben habe – da reicht es nicht, dass von oben festgelegt wird, unsere Unternehmensfarbe ist jetzt Grün, und dann sind alle gedanklich grün, sondern das ist ja auch ein Ergebnis eines Prozesses auf allen Ebenen. Ich mag dieses Bild von „Innovationsmenschen sind eigentlich Führungskräfte der neuen Generation“, die gar nicht zwingend weit oben angesiedelt sind, gar nicht in Eckbüros sitzen und große Budgets verwalten, sondern sich als Führungskräfte dadurch auszeichnen, dass sie im Unternehmen extrem vernetzt sind und auf der zweiten Führungsebene Leute finden, die als Komplizinnen und Komplizen funktionieren können. Und die – nicht, weil es angeordnet ist, sondern weil es sinnvoll ist – Projekte mit ansteuern und unterstützen.

Dennis Horn: Das ist interessant. Ich habe mir in meiner Arbeit immer gesagt, es gibt eigentlich nur zwei Wege, die ich gehen kann: mich erstens frusten zu lassen von diesen Zuständen, die manchmal auch einfach systemisch sind und für die niemand direkt etwas kann. Oder mir zweitens Verbündete zu suchen. Ich bin ein einfacher, freier Mitarbeiter, aber mir gegenüber sitzt vielleicht eine Führungskraft, die auch so tickt. Das war für mich immer ein Erfolgsgeheimnis, so kann man Dinge auf den Weg bringen. Ich habe das Gefühl, wir haben jetzt wie bei einem Zauberwürfel alles mal gedreht und gewendet und auseinandergenommen und uns die verschiedenen Ebenen angeguckt. Jetzt habe ich noch die Fragen nach dem methodischen Wissen …

Dirk von Gehlen: Ein Gedanke noch, weil du eine – zumindest auf der persönlichen Ebene – zentrale Antwort gegeben hast, nämlich die nach Selbstwirksamkeit: Wenn ich mit dem Ziel von Kreativität oder mit dem Ziel, innovative Ideen zu produzieren, in einem Unternehmen arbeite, muss ich mir meiner Meinung nach die Frage stellen: Wie merke ich das Ergebnis meiner Arbeit? Und wenn man sich anguckt, woran Leute scheitern, also auch krankheitsbedingt scheitern, an Burnout und Überforderung, dann gibt es ein deutliches Muster: dass Menschen nicht mehr sehen, wofür ihre eigene Arbeit eigentlich gut ist. Da wird dann immer ein bisschen Fynn-Kliemann-artig gesagt: Jetzt muss ich mal wieder richtig was mit Händen bauen und ein Schiff oder eine Mauer errichten, denn dann sehe ich, was ich gemacht habe. Was das Gegenteil von Bei-SAP-Zahlen-Eingeben sein soll. Ich glaube, eine gesunde Form von Arbeit führt dazu, dass ich erkennen kann: Durch mein Zutun ist das passiert. Und da schließt sich ein bisschen der Kreis zu dem, wo wir angefangen haben: Welche Erwartungen habe ich eigentlich? Ein ganz, ganz wichtiger Punkt für innovatives Arbeiten kann sein, dass man sagt: Diese drei Leute, mit denen ich Projekt A oder B gemacht habe, mit denen habe ich eine neue Form des Zusammenarbeitens entwickelt, die für das Unternehmen langfristig vielleicht beispielhaften Charakter haben kann. Das war nicht hierarchisch, sondern gemeinsam. Es war iterativ. Wir haben neue Prozesse eingeführt. Das Projekt ist zwar abgelehnt worden, aber wir haben damit etwas erreicht. Das ist, glaube ich, ganz bedeutsam, sich a) Verbündete zu suchen b) nicht vom objektiven Projekterfolg das ganze Projekt und die ganze Selbstwirksamkeit nehmen zu lassen. Manchmal werden Projekte der Umstände halber abgelehnt, obwohl sie aus sich heraus eigentlich gut sind. Das nennt man dann, glaube ich, Resilienz: damit umgehen zu lernen, dass trotzdem was Positives da drin ist. Auch, wenn man das Spiel verloren haben kann, kann man trotzdem gut gespielt haben. Das ist ganz, ganz entscheidend, dass man das a) auf institutioneller Ebene findet, also in einer Feedbackkultur, im Austausch, in Verbündeten, aber b) auch für sich selber zu sagen: Das Projekt ist jetzt zwar abgelehnt worden, und wir setzen das nicht so um, wie wir es uns gewünscht haben. Aber ich habe für mich total viel daraus gelernt. Ich habe dafür neue Leute kennengelernt, neue Methoden kennengelernt und angewandt. Wenn das gelingt, dann hat man eine Form von kreativer Selbstwirksamkeit, die einen ein bisschen stabiler macht, auf diesem sehr wackeligen Balance Board.

Dennis Horn: Ich höre da ein wenig das Stichwort Fehlerkultur raus. Deswegen stelle ich jetzt noch mal meine Methodenfrage, auf die ich gerade hinauswollte, ein bisschen zurück, denn über Fehler wollte ich mit dir auch sprechen. Ich habe den Eindruck, dass zum Teil eine Fehlerkultur gefordert wird, propagiert wird, unter dieser Schlagzeile: Wir wollen scheitern! Da denke ich immer: Nee, scheitern will keiner. Ist es das richtige Ziel, scheitern zu wollen? Oder ist es nicht das richtige Ziel, dass man schon etwas schaffen will – aber wenn etwas schiefgeht, hat auch das seinen Wert?

Dirk von Gehlen: Ich glaube, dass man Fehlerkultur an zwei Dingen im Haus ablesen kann. Beispiel eins ist, wenn wirklich was Substanzielles in die Hose gegangen ist: Wie reagiert die soziale Gruppe, also das Team, das Ressort, die Abteilung? Da gibt es nämlich zwei Möglichkeiten. Erstens: Der Chef oder die Chefin sagt, dieser Fehler ist passiert, dafür ist federführend diese Person zuständig, diese Person erklärt uns jetzt, was sie daraus gelernt hat, und wir alle versuchen, diesen Fehler zu vermeiden, wenn er das nächste Mal passiert. Kein Finger Pointing, keine Schuldzuweisungen, sondern einfach gemeinsames Lernen daraus. Das ist eine meiner Meinung nach sinnvolle Fehlerkultur. Die andere Variante ist, dass Menschen versuchen, den Fehler möglichst zu vertuschen oder in ewig langen E-Mail-Ketten, in denen Menschen in cc gesetzt sind, nachzuweisen, dass sie schon im Frühjahr 2017 gesagt haben, „dass es total gefährlich ist, xyz zu machen“, und sich damit reinzuwaschen. Eine gute Fehlerkultur hält aus, dass Sachen schiefgehen, und lernt daraus.

Dennis Horn: Worauf ich hinauswollte, ist noch vielleicht eine dritte Variante, nämlich das zu überzeichnen. Diese Mischung aus Fuck-up-Nights und der manchmal propagierten Haltung: Du musst die Fehler machen, also arbeite auf die Fehler hin. Das ist es ja nun auch nicht.

Dirk von Gehlen: Das stimmt total. Mein Lieblingszitat dazu ist von Kevin Kelly, der sagt: „Machen Sie jeden Tag einen Fehler, aber jeden Tag einen neuen.“ Und das, was du sagst, ist genau das: jeden Tag einen Fehler machen – super! „Lass uns gegen die Wand rennen, dann haben wir auf unserer Innovations-To-do-Liste für heute schon mal was falsch gemacht.“ Das alleine ist natürlich überhaupt noch nicht zielführend, sondern man muss halt auch da wissen: Warum und wozu mache ich einen Fehler? Und was lernen wir daraus? Wie lasse ich andere daran teilhaben? Das finde ich einen spannenden Prozess, dafür sind so Fuck-up-Nights eigentlich ja gut, dass man sagt: Bei uns ist was schiefgelaufen, und wir teilen unsere Lehren daraus. Es ist ein bisschen dieser Cargo-Kult, dass man es halt einfach macht, weil andere Unternehmen es auch machen. Und dann fühlt man sich dadurch schon innovativ. Da teile ich dein Unwohlsein, wenn man Fehler um der Fehler Willen macht. Da muss man dann nur die unterschiedlichen Geschwindigkeiten sehen. Wir beide bewegen uns, glaube ich, in Bereichen, wo man sagt: Ja, da gibt es schon eher ein offenes Gefühl dafür, auch mal was falsch zu machen. Ich kenne aber auch Abteilungen, wo die Tatsache, dass man etwas falsch macht, möglichst verschwiegen wird, das kommt eigentlich nicht vor. Also eher alte, sehr hierarchische Führungsstrukturen. Da macht der Chef halt nie was falsch. Und dafür ist es dann schon mal sinnvoll, eine Fuck-up-Night mit einem Chef zu machen und Entscheider oder Leitfiguren auch mal in einer Schwächephase zu zeigen, um eine andere Grundperspektive zu transportieren.

Dennis Horn: Ich verstehe. Jetzt die Methoden.

Dirk von Gehlen: Ja!

Dennis Horn: Ich habe verstanden, dass gute Fragen und viele Fragen zu stellen eine Methode sein kann, um mich diesem ganzen kreativen Dasein näherzubringen. Vielleicht fangen wir mal mit der persönlichen Kreativität an und kommen dann gleich noch zur Kreativität auf Redaktionsebene. Was mache ich, um kreativ zu werden? Was sind Methoden, die erst einmal handwerklich anmuten, aber dann trotzdem etwas bei mir einstreuen und verändern?

Dirk von Gehlen: Ich sage mal zwei sehr einfache Sachen. Mein erster Punkt wäre, anzuerkennen: Du bist kreativ. Viele Unternehmen funktionieren so, dass sie sagen: Da gibt es die Kreativen, und die sind so ein bisschen verrückt. Die haben vielleicht einen kleinen Gendefekt, die sind nicht so wie wir. Das ist dann für manche Leute total toll, weil sie denken, sie sind was Besonderes. Ich glaube aber, dass es eine Fehlannahme ist. Ich glaube, dass es eine Offenheit und grundsätzliche Bereitschaft zu Kreativität bei nahezu allen Menschen gibt. Und es gibt viele Blockaden, die das dann unterdrücken. Und die Voraussetzung dafür ist die Offenheit, sich selber immer und immer wieder eine offene Haltung dem Neuen gegenüber beizubringen, sich nicht in Muster fallen zu lassen, sondern diese Muster, so weit es geht, zu hinterfragen und dabei auch die blinden Flecken einzuschließen, die jede und jeder hat. Aber das ist nur der erste Schritt. Wenn man dann wirklich sagt, ich möchte auch tatsächlich kreativer und offener werden, hilft es total, besondere Lösungen, die einem auffallen, zu notieren. Ich glaube, das ist wie ein Muskel. Je häufiger und regelmäßiger man das macht, umso besser wird man dabei. Ich habe dafür mal diese Idee eines Ideen-Tagebuchs aufgebracht: dass man sich jeden Tag einfach etwas aufschreibt, was einem aufgefallen ist. Das kann ein Plakat sein, an dem man vorbeigefahren ist. Es kann ein ein Zitat sein. Der Formatentwicklungs-Podcast war so voller Quotes, die ich mir gedanklich notiert habe. Ein Satz, eine Idee, eine Perspektive, die irgendwie anders ist, und das über einen möglichst langen Zeitraum – sechs, acht, zehn Wochen, vielleicht sogar ein ganzes Jahr. Das zu machen, zeigt so eine Offenheit. Und dann kommt man zu dem, wie ich es in dem Buch beschreibe: dass die kreative Idee dich finden kann. Dass gar nicht du die Aufgabe hast, eine Lösung zu finden, was immer nach Anstrengung und eigener Aktivität klingt. Sondern du machst dich bereit dafür, dass die Idee dich findet. Das klingt jetzt ein ganz klein bisschen esoterisch. Es zeigt aber, dass Ideenfindung nicht zwingend eine Anstrengungs-/Arbeitsleistung ist, sondern im Gegenteil: Ideen kommen eigentlich immer dann … Jede und jeder, der schon mal wirklich eine Problemlösung gefunden hat, weiß, dass es meistens kommt, wenn man sich gerade locker gemacht hat, an den See gegangen ist, nicht mehr dran gedacht hat. Das kann man tatsächlich auch aus der Hirnforschung herleiten, woher das kommt. Das heißt aber, dass ich die Bereitschaft haben muss, mich locker zu machen, mich finden zu lassen. Und diese beiden Punkte, also das häufige Üben – Sachen aufschreiben, möglichst auch breit gestreute Sachen, die gar nichts mit konkreten Themen zu tun haben – und im zweiten Schritt die Offenheit, Sachen neu zu rekombinieren und sich finden zu lassen – das wären die die sehr handwerklichen Dinge, wenn ich für mich persönlich mehr Kreativität in meinem Leben haben möchte.

Dennis Horn: Ich muss dabei ganz stark an die Bücher von Austin Kleon denken, die du mit Sicherheit auch kennst.

Dirk von Gehlen: „Steal like an artist“ ist super. Für Redaktionen oder für Teams gilt es am Ende so ähnlich. Deswegen mein Lob für Innovationsteams noch mal wiederholt: Allein, dass es Teams gibt, dass es den Raum gibt, in dem darüber nachgedacht wird, dass da einfach Leute sitzen können, die das recherchieren und nicht im Tagesgeschäft untergehen und die im Zweifel zwei, drei, vier Ideen einwerfen können, ist ein totaler Wert – selbst wenn kein konkretes Produkt dabei rauskommt. Wie auf der persönlichen Ebene jeden Tag Ideen aufzuschreiben, ist es auf der institutionellen Ebene, jemanden zu haben, der sich mit Themen beschäftigt, die weiter sind als von der Hand in den Mund – und daraus vielleicht sogar einen Newsletter, ein Podcast-Format, eine Veranstaltungsreihe, was auch immer zu machen, um das anderen zugänglich zu machen. Also, wenn NFTs aufkommen: Ist das was für uns? Muss der WDR jetzt auch einen NFT … die Maus als NFT anbieten? Wo ich sagen würde: Nein. Aber das muss man vielleicht auch begründen, warum. Diesen Freiheitsraum zu schaffen, ist für Unternehmen und für Strukturen meiner Meinung nach sehr wichtig. Organisationen neigen dazu, sich zu verfestigen. Dafür gibt es sie. Dafür gibt es die Idee einer Kostenstelle. Dafür gibt es die Idee einer Hierarchie, einer Visitenkarte, eines Namens. Alle, die da drin sind, haben eigentlich das Ziel, dass diese Organisation weiter besteht, weil aus der Organisation auch die eigene Bedeutung abgeleitet wird. Innovation und kreatives Hinterfragen arbeiten aber immer wieder an der Verflüssigung, an dem Infragestellen dieser Organisation. Es wird nie in die eine oder andere Richtung gelöst. Wenn man es in die eine oder andere Richtung löst, hat man entweder eine total verknöcherte Organisation, wo sich gar nichts mehr sich bewegt, oder die Organisation löst sich auf. Das heißt, der Regler wird immer irgendwo in der Mitte sein müssen, er wird sich aber mal sehr stark in die eine und dann hoffentlich auch wieder in die andere Richtung bewegen. Mit diesem Regler, mit diesem Skalierungsinstrument zu arbeiten, scheint mir eine ganz, ganz wichtige gedankliche Hilfe für Unternehmen. Dass das Unternehmen nicht sagt, jetzt haben wir dieses Innovationsteam und jetzt wird alles super. Das ist eine Graustufe, die man damit im besten Fall erreicht. Es ist dann nicht mehr ganz so schwarz wie vorher.

Dennis Horn: Ich habe auf Seiten der Innovationsteams und auch einer Reihe von Redaktionen aktuell ein bisschen den Eindruck: Die versteifen sich beim Thema Innovation gerade auf einen Methodenzirkus. Ich muss da vor allem an Design Thinking denken und an ein Schablonendenken: Egal, was das Problem ist, wir hauen da jetzt mit unserer Methode drauf, die unser Haus zuletzt in vielen Workshops beigebracht bekommen hat. Ist das, was da am Ende rausspringt, dann wirklich kreativ?

Dirk von Gehlen: Kreativ ist es dann, wenn es hilft, das vordefinierte Problem einer Lösung näher zu bringen, und dafür sind Design Thinking und gewisse Methoden und handwerkliche Techniken sinnvoll. Aber wahrscheinlich hast du zum Teil Recht mit der Beschreibung. Ich teile deine Einschätzung, dass Innovationsabteilungen gerade auch dazu neigen, sich selber wieder zu verfestigen, und dafür ist natürlich so ein Methodenkoffer, auf den man immer wieder zurückgreifen kann, total hilfreich. Da hilft am ehesten der Teil, der auch in dem Podcast mit Sascha Friesike vorkam: eine Beschäftigung mit sich selber, die Methode der Selbstreflektion, zu sagen: Ist es tatsächlich das Sinnvollste, wieder mit dem gleichen Design-Thinking-Prozess das nächste Thema zu lösen? Oder ist nicht bei diesem Thema vielleicht mal eine andere Methode sinnvoll? Ist es bei dem Thema nicht vielleicht mal möglich, alle Leute, die bisher dagegen waren, einzubeziehen und so zu tun, als sei das Projekt schon gescheitert, also die Post-mortem-Methode. Ich glaube, das ist eine Aufgabe für Innovationsteams, die schon eine ganze Weile da sind: dass man versucht, sich als Team immer wieder mit neuen Ideen und Methoden zu konfrontieren. Das ist aber wahrscheinlich nicht so einfach zu lösen, dass man sich einen kleinen Reminder einstellt und dann noch mal neu draufguckt. Sondern es ist wahrscheinlich eher eine Frage von Diversität im Team, dass man nicht zu sehr und zu fest und zu eingefahren in den immer gleichen Strukturen und Teams denkt, sondern neue Impulse reinholt. Da weiß ich keine gute Methode – außer sich daran möglichst oft selber zu erinnern.

Dennis Horn: … und schon wären wir wieder dabei, Fragen zu stellen.

Dirk von Gehlen: Stimmt, ja.

Dennis Horn: Abschließende Frage von mir: Welche Rolle spielen beim Thema Kreativität und Innovation eigentlich Räume, also physische Räume?

Dirk von Gehlen: Ein sehr, sehr guter Punkt. Dazu gibt es ja im Design-Thinking-Framework auch ein paar Ideen. Ich habe darüber sehr lange nachgedacht. Ich bin Fußballfan, und die Tatsache, dass gerade beim Fußball keine Zuschauer da sein können, legt offen, wie wichtig Atmosphäre ist, finde ich. Also die klassische Gegenteil-Methode: einfach mal etwas auf den Kopf stellen. Fußball ohne Zuschauer – vor fünf Jahren hätten alle gesagt: Hä, wie soll das denn gehen? Jetzt gerade hat man allein durch die Gewöhnung als Fußballfan das Gefühl: Wie soll es eigentlich mal wieder mit Zuschauern gehen? Atmosphäre ist total zentral, und auch die Veränderung der Atmosphäre ist total zentral. Wenn du immer in diesem fensterlosem Raum mit Flipchart und verspiegelter Kaffeekanne sitzt, und da sind die immer gleichen Kekse, dann ist es echt schwierig, auf neue Ideen zu kommen. Der Begriff dafür ist „Vu Jade“, also das umgekehrte Déjà-vu. Ein Déjà-vu ist ja der Moment, in dem du in einem fremden Kontext etwas vermeintlich Vertrautes wiedererkennst. Für ganz, ganz viele Konzernstrukturen ist das Vu Jade viel wichtiger, nämlich in der immer gleichen grauen, Stromberg-artigen Atmosphäre was Neues zu entdecken. Das ist eine Fähigkeit, die kann man trainieren. Aber leichter ist es natürlich, den Raum zu ändern, die Atmosphäre zu ändern. Ganz, ganz billiger Trick – und ich weiß, wir sind alle müde spaziert – aber: mal ein Brainstorming im Gehen zu machen. Das ist wirklich – damit der Begriff hier gefallen ist – ein Game-Changer.

Dennis Horn: Jetzt habe ich die Bingo-Reihe voll.

Dirk von Gehlen: Es verändert das Denken. Und klar, wir sind alle, wie gesagt, müde spaziert. Aber das mal für eine Ideenrunde zu machen: Unser Team geht jetzt einmal um den Mediapark in Köln oder einmal ums Hochhaus der Süddeutschen Zeitung, und wir reden im Gehen aber über das Thema. Was fällt uns dabei auf? Oder: Wir haben die Aufgabe, Dinge, an denen wir vorbeigehen, in das Projekt zu integrieren. Dann kommt einem zufällig jemand entgegen, und diese Kraft des Zufalls in der Raum- und Atmosphärensetzung zu nutzen, das ist, glaube ich, ganz entscheidend. Der Raum spielt eine total große Rolle. Damit meine ich nicht, dass wir einen Kicker brauchen und Sitzsäcke und eine Tafelwand, sondern die Bereitschaft zur Veränderung, zu neuen Impulsen von außen.

Dennis Horn: Dirk, vielen lieben Dank für deine Zeit.

Dirk von Gehlen: Es hat mir viel Spaß gemacht und – um den Rahmen zu schließen: Natürlich habe ich mich sehr, sehr gefreut, und ich habe es in keiner Sekunde bereut, dass ich gekommen bin.

(Hinweis: Ich habe das Gespräch aus dem Podcast zur besseren Lesbarkeit leicht geglättet.)


Feedback? Kritik? Fragen?

Wenn ihr das Innovationstheater interessant findet und ihm schon folgt: Ihr könnt mir helfen, wenn ihr meinem Podcast in eurer Podcast-App eine ordentliche Bewertung verpasst und einen Kommentar hinterlasst.

Ihr habt Gedanken zum Podcast? Feedback, Kritik, Fragen? Schickt mir gerne eine E-Mail an horn@dennishorn.de, meldet euch in den Kommentaren oder auf welchem Weg auch immer.

Und wenn ihr über den Podcast und Neuigkeiten zum Projekt auf dem Laufenden bleiben möchtet – abonniert jetzt den Newsletter!


Alle Episoden

Innovationstheater

  continue reading

23 Episoden

Alle Folgen

×
 
Loading …

Willkommen auf Player FM!

Player FM scannt gerade das Web nach Podcasts mit hoher Qualität, die du genießen kannst. Es ist die beste Podcast-App und funktioniert auf Android, iPhone und im Web. Melde dich an, um Abos geräteübergreifend zu synchronisieren.

 

Kurzanleitung