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HINTERGRÜNDE NAHOSTKONFLIKT - Palästinenser und die Nakba

25:42
 
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Seit Jahrzehnten ist der Nahost-Konflikt ungelöst. Die Hintergründe sind kompliziert. Verbunden mit der Gründung Israels 1948 wurden Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser vertrieben oder flohen. Die Vertreibung ist in der arabischen Welt unter dem Begriff Nakba ("Katastrophe") bekannt. Bis heute sind weltweit mehrere Millionen Menschen mit palästinensischen Wurzeln staatenlos. Auch für Palästinenser, die im Westjordanland leben, ist die Lage seit langem schwierig - und im Gazastreifen inzwischen verzweifelt. Ein Rückblick. Von Claudia Steiner (BR 2024)

Credits
Autorin: Claudia Steiner
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Sebastian Fischer
Technik: Miriam Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Sarah El Bulbeisi, Dr. Jan Busse, Prof. Eckart Woertz

Ein besonderer Linktipp der Redaktion:
BR24: Lost in Nahost – Der Podcast zum Krieg in Israel und Gaza
Der Konflikt im Nahen Osten ist kompliziert. Es ist schwer den Überblick zu behalten. Was werfen die gegnerischen Seiten einander vor? Warum wird so hart gekämpft? In diesem Podcast haben die Korrespondentinnen und Korrespondenten der ARD aus dem Studio Tel Aviv zusammen mit Fachleuten aktuelle Fragen beantwortet, erklärt und eingeordnet.
ZUM PODCAST

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:
TC 00:15 – Intro
TC 02:26 – Wie alles begann
TC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung?
TC 06:55 – Tabu, Trauma & Identität
TC 10:51 – Die Folgen der Vertreibung
TC 15:34 – Im Gazastreifen
TC 20:52 - Wendepunkte
TC 24:30 – Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
TC 00:15 – Intro

ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)

SPRECHERIN
Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beschäftigt die Welt seit Jahrzehnten. Es ist ein Konflikt, mit dem sich die Vereinten Nationen und viele Staats- und Regierungschefs befasst haben – immer wieder. Es gab verschiedene Ideen und Ansätze. Doch eine Lösung wurde bisher nicht gefunden.

ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)

SPRECHERIN
Der Staat Palästina wurde 1988 formal proklamiert. Bis heute ist er von 139 Staaten anerkannt. Viele arabisch-sprechende Länder, aber auch Russland, große Teile Afrikas und Südamerikas, aber auch Schweden kennen den Staat Palästina an - die USA, Frankreich oder auch Deutschland nicht. Doch wer sind die Palästinenser? Was fordern sie? Und was bedeutet dieser Konflikt mit Israel für das Leben der Menschen im Gazastreifen, im Westjordanland, in den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten oder im Exil in anderen Ländern? Die Lebenswirklichkeiten der Palästinenser unterscheiden sich – je nachdem wo sie ansässig sind - teils stark; und damit auch ihre Probleme und Ängste. Was viele eint, ist das Trauma der Nakba, also die Flucht und Vertreibung im Jahr 1948 und die Hoffnung, wieder in ihre Dörfer und Städte zurückkehren zu können.

MUSIK (z.B. Dabke-Tanz/Musik)

SPRECHERIN
Die historische Region Palästina bezeichnet ein Gebiet an der südöstlichen Mittelmeerküste. In der Region herrschten unter anderem Philister, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Römer, Byzantiner, verschiedene arabische Dynastien und die Osmanen. Seit dem späten 7. Jahrhundert lebten dort Juden, Christen und Muslime. Ebenso wie Israelis verweisen Palästinenser auf biblische Vorläufer, sagt der Politologe Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München.

O-TON 1 (Busse, 1.04)
Also man beruft sich bei den Palästinensern ein Stück weit auf die Philister und sieht da auch eine sprachliche Nähe zu dem Begriff Palästinenser, ein Stück weit vielleicht auch zu den Kanaanitern, aber natürlich auch zu den großen arabischen Dynastien, den Umayyaden, Abbasiden, Fatimiden. (…) Aber ich glaube, entscheidend ist vielmehr diese Idee eines Nationalbewusstseins als modernes Phänomen.

TC 02:26 – Wie alles begann

MUSIK

SPRECHERIN
Im Jahr 1834 kam es im Osmanischen Reich zu einem Bauernaufstand, der sich gegen die Wehrpflicht und Steuerpolitik richtete. Manche Historiker betrachten diesen Aufstand als Geburtsstunde des palästinensischen Nationalismus. Andere sprechen erst gegen Ende des 19. beziehungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer nationalen Identität der Palästinenser.

O-TON 2 (Busse, 2.20)
Und die Soziologie hat es sehr gut gezeigt: Identitäten bilden sich eigentlich immer in Abgrenzung zu einem Gegenüber und vor dem Hintergrund – das gilt für beide Gruppen, für Israelis und Palästinenser - spielt eben dieses Andere, dieses Gegenüber da eine ganz zentrale Rolle.

SPRECHERIN
Im Ersten Weltkrieg eroberten britische Truppen Palästina – das Land wurde britisches Mandatsgebiet. 1882 waren noch mehr als 96 Prozent der Bevölkerung arabisch beziehungsweise palästinensisch. Juden machten nur etwas mehr als drei Prozent aus. Seit Ende des 19. Jahrhundert nahm die jüdische Zuwanderung zu – der in Europa entstehende politische Zionismus hatte das Ziel, einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Angesichts der Verfolgung in Europa wanderten schließlich immer mehr Juden ins biblische „Heilige Land“ ein. 1931 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung bereits 16 Prozent, 1946 dann 31 Prozent. Dies führte zu blutigen Zusammenstößen und Aufständen – die Gewalt ging von beiden Seiten aus:

O-TON 3 (Busse, 7.52)
Die britische Mandatsverwaltung hat selbst in den 30er-Jahren schon Teilungspläne vorgeschlagen, weil sie eben gemerkt hat, dass das eine Lösung darstellen könnte, weil es eben immer wieder zu Spannungen zwischen der damaligen arabischen und jüdischen Bevölkerung kam.

TC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung?

MUSIK

SPRECHERIN
Um die aufgeheizte Stimmung in den Griff zu bekommen, schränkte die britische Besatzung den Zuzug von Juden ein – zu einer Zeit, in der die Verfolgung von Juden in Deutschland unter der NSDAP immer weiter zunahm. Doch Unmut richtete sich nun nicht nur gegen die jeweils andere Bevölkerungsgruppe, sondern auch gegen die britische Besatzung. Sowohl Araber als auch Juden nahmen die Briten als Besatzungsmacht wahr, die den eigenen nationalen Bestrebungen im Weg standen. Die Briten bekamen den Konflikt nicht unter Kontrolle und wollten die Verantwortung für das Mandat abgeben, auch wegen der Kosten. Sie baten deshalb die 1945 neu gegründeten Vereinten Nationen um Hilfe. Ein UN-Sonderausschuss erarbeitete einen Lösungsvorschlag. Im November 1947 verabschiedete die UN-Generalversammlung einen Teilungsplan. In der Resolution 181 (II) hieß es. Die Generalversammlung…

ZITATOR
…empfiehlt dem Vereinigten Königreich als der Mandatsmacht für Palästina und allen anderen Mitgliedern der Vereinten Nationen hinsichtlich der künftigen Regierung Palästinas die Verabschiedung und Durchführung des nachstehend dargelegten Teilungsplans mit Wirtschaftsunion…

SPRECHERIN
33 Staaten stimmten für die Resolution, 13 dagegen, unter ihnen mehrere arabische Staaten. Es gab zehn Enthaltungen. Der Plan sah eine Teilung des Gebiets vor, sagt Jan Busse. Doch:

O-TON 4 (Busse, 6.02)
Das Problem war allerdings, dass eben 56 Prozent dieses Staates einem jüdischen Staat zugeschlagen werden sollten und 43 Prozent einem arabischen, wohingegen das Bevölkerungsverhältnis so aussah, dass wir 70 Prozent Araber hatten und 30 Prozent Juden. Und vor dem Hintergrund lehnte die arabische Seite diesen Plan ab und war nicht zu einer Teilung bereit, was ihr teilweise bis heute vorgeworfen wird, wohingegen die Vertreter des politischen Zionismus auf jüdischer Seite
diesen Plan eben zugestimmt haben.

SPRECHERIN
Offiziell zumindest, tatsächlich spekulierte die jüdische Seite auch auf Gebiete, die laut UN-Plan der arabischen Seite zustanden, sagt Professor Eckart Woertz. Er ist Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg.

O-TON 5 (Woertz, 7.22)
Wir wissen aus Hintergrundgesprächen, Tagebuchnotizen und so weiter vom israelischen Staatsgründer Ben-Gurion, dass das Verständnis auf israelischer Seite war: Na ja, jetzt akzeptieren wir das erst mal. Danach können wir immer noch vielleicht irgendwie expandieren.

TC 06:55 – Tabu, Trauma & Identität

SPRECHERIN
Am 14. Mai 1948 verließen die letzten britischen Truppen Palästina. Der designierte Ministerpräsident David Ben-Gurion rief den Staat Israel aus. Schon in der darauffolgenden Nacht griffen Ägypten, Transjordanien, Syrien, der Libanon und der Irak Israel an. Das israelische Militär bestand aus Kämpfern aus Untergrundorganisationen und Freiwilligen. Dieser Krieg ging mit zwei Namen in die Geschichte ein: Für Juden ist es der Unabhängigkeitskrieg, für Araber die Nakba, die Katastrophe. Israelische Einheiten eroberten im Laufe des Kriegs etwa 40 Prozent des Gebiets, das laut UN-Teilungsplan der arabischen Bevölkerung zustand. Viele arabische Dörfer und Städte wurden zerstört. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen etwa 700.000 Palästinenser, die palästinensische Seite nennt höhere Zahlen. Die Menschen flüchteten unter anderem in den Libanon, nach Syrien, nach Jordanien, wo heute rund die Hälfte der Bevölkerung palästinensische Wurzeln hat, ins Westjordanland und in den Gazastreifen.

ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)

SPRECHERIN
Es folgten zahlreiche weitere militärische Konflikte: 1967 kam es zum Sechstagekrieg. Israel reagierte auf eine Bedrohungslage durch Ägypten, Jordanien und Syrien mit einem Präventivschlag gegen die Luftwaffenbasen seiner Nachbarstaaten. Israel eroberte im Zuge des Kriegs das Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem, den Gazastreifen, Teile der Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Erneut flüchteten Hunderttausende Palästinenser, zum Teil auch, weil ihr Land annektiert und ihnen damit ihre Lebensgrundlage entzogen wurde. Diejenigen, die blieben, lebten nun im Westjordanland, in Jerusalem und im Gazastreifen unter israelischer Besatzung und Militärverwaltung. Sarah El Bulbeisi vom Orient-Institut in Beirut spricht von einem kollektiven Trauma. Die Wissenschaftlerin, deren Familienangehörige im Gazastreifen leben, promovierte zum Thema Tabu, Trauma und Identität von Palästinensern in Deutschland und der Schweiz.

O-TON 6 (Bulbeisi, 3.57)
Mittlerweile verstehen Palästinenserinnen unter Nakba eben nicht nur diese Massenvertreibungen von 1947, 48, sondern die Vertreibungen, die bis heute andauern, also auch die Vertreibungen zur Zeit des Kriegs (…) 1967, die Vertreibungen, die im Zuge der Besatzung erfolgten, wo wieder mehrere Hunderttausend Palästinenser vertrieben wurden. (…) Aber mittlerweile verstehen Palästinenser unter Nakba auch die Vertreibung, deren Zeugen wir heute sind, die Vertreibungen, die im Zuge des Gazakriegs, die 2023 und 2024 erfolgen.

SPRECHERIN
Gemeint ist die jüngste Flucht der Menschen im abgeriegelten Gazastreifen vom Norden in den Süden nach dem brutalen Angriff der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Nach israelischen Angaben wurden mehr als 1.200 Menschen getötet, mehr als 2.700 verletzt. Es gab Vergewaltigungen and andere Gräueltaten. Mehr als 250 Geiseln wurden verschleppt. Auf diesen Angriff reagierte Israel mit einem Gegenangriff. Nach Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza sind bei diesen Militäraktionen mit Stand Anfang April mehr als 33.000 Menschen getötet worden, knapp 76.000 Menschen wurden verletzt, und tausende Opfer, die noch nicht geborgen werden konnten, werden unter den Trümmern vermutet. Das palästinensische Gesundheitsministerium wird von der Hamas geführt, die Vereinten Nationen erachten aber die Zahlen als weitgehend richtig.

TC 10:51 – Die Folgen der Vertreibung

SPRECHERIN
Viele Palästinenser kennen die Geschichte der Vertreibung aus Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern. Viele jüngere Menschen mussten selbst schon fliehen oder wurden vertrieben. Die Folgen dieser Fluchterfahrungen seien verheerend, betont Sarah El Bulbeisi.

O-TON 7 (Bulbeisi, 8.49)
Also Vertreibung ist eigentlich nur eine Hälfte der Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung dieser Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung der (…) systematischen Vertreibung ist eigentlich das, was mindestens so prägend ist. Und wir wissen auch aus der Traumaforschung, dass Trauma nicht einfach ein einzelnes Ereignis ist, dass Trauma immer ein Prozess ist, und es ist essenziell, wie Gesellschaft, wie die Umwelt auf Gewalterfahrung reagiert. Und im palästinensischen Kontext war es eben so, dass diese Gewalterfahrung negiert und einem aberkannt wurde und diese Tabuisierung der palästinensischen Gewalterfahrung, die hat dazu geführt, dass Menschen, ganze Biografien (…) zerbrochen sind an diesem Gefühl, eigentlich keine Menschen zu sein.

SPRECHERIN
Das Trauma der Vertreibung beeinflusst das Leben vieler Palästinenser, in den besetzten Gebieten, aber auch in der Diaspora. Viele hegen den Wunsch auf Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren, betont Eckart Woertz.

O-TON 9 (Woertz, 19.02)
Selbst Kinder, die die Abstammungsregionen ihrer Eltern nie kennengelernt haben, sprechen dann von ihrem Heimatdorf, das da und da war und jetzt halt im heutigen israelischen Kernland ist. Also auch diese Vision, dass man da vielleicht noch einmal zurückkehren kann, das - denke ich - auch in einer Zwei-Staaten-Lösung so nicht realisierbar ist. Das ist, glaube ich, eine Pille, die die Palästinenser werden schlucken müssen, dass es ein Rückkehrrecht so nicht geben wird. Aber klar, das ist ganz klar ein Sehnsuchtsort auch für Palästinenser in der Diaspora.

MUSIK

SPRECHERIN
Als Folge der ersten großen Vertreibung wurde Ende 1949 das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, gegründet. Die Organisation soll palästinensischen Flüchtlingen Hilfe und Schutz gewähren. Eckart Woertz:

O-TON 10 (Woertz, 21.07)
Das UNRWA, das Hilfswerk speziell für die Palästinenser (…) ist ein ganz wichtiger Dienstleistungsfaktor in den palästinensischen Gebieten, von Nahrungsmittellieferung bis zum Schulwesen und so weiter. Wird hier auch von Israel kritisiert, dass die sagen: Da wird so ein Flüchtlingsstatus,- sagen wir mal - verewigt, weil, das gilt ja normalerweise nur für Leute, die diese Fluchterfahrung noch haben.
SPRECHERIN
Beim Palästinenserflüchtlingshilfswerk UNRWA sind 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge registriert. Sie nehmen völkerrechtlich eine Sonderstellung ein: Nur den palästinensischen Flüchtlingen der ersten Vertreibung wird der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Status wird aber auf Nachkommen vererbt. UNRWA kümmert sich um die Versorgung von registrierten Palästina-Flüchtlingen im Gazastreifen, im Westjordanland, Jordanien, Syrien und im Libanon. Weil sich mehrere Mitarbeiter des Hilfswerks am Angriff gegen Israel am 7. Oktober beteiligt haben sollen, gab es zuletzt scharfe Kritik an der UNRWA.

MUSIK
SPRECHERIN
Viele UNRWA-Flüchtlinge und Palästinenser sind staatenlos. Das heißt: Sie können nicht eingebürgert werden, nicht arbeiten, nicht reisen. In Deutschland können sie zum Beispiel auch kein Asyl beantragen. Sie werden nur geduldet. Auch die Tatsache, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation 1988 einen unabhängigen palästinensischen Staat ausrief, ändert daran nichts, denn Berlin hat zwar ein Vertretungsbüro in Ramallah, erkennt Palästina aber nicht als unabhängigen Staat an. Weltweit gibt es etwa 14,5 Millionen Palästinenser, davon etwa fünfeinhalb Millionen im Westjordanland und im Gazastreifen. Viele Palästinenser leben zudem in Golfstaaten, in Mitteleuropa, in Nordamerika oder auch in Chile. Jan Busse:

O-TON 11 (Busse, 3.16)
Und dann gibt es natürlich auch noch knapp zwei Millionen arabische Israelis, also Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft und auch einen Teil in Ost-Jerusalem, was unter israelischer Kontrolle ist.

TC 15:34 – Im Gazastreifen

SPRECHERIN
Im Gazastreifen, dem Küstenstreifen, dessen Grenzen von Israel und Ägypten kontrolliert werden, war die Lebenssituation der Menschen schon vor dem 7. Oktober 2023 schwierig. Nach Angaben der Weltbank waren dort rund die Hälfte der Menschen arbeitslos, mehr als zwei Drittel von Hilfslieferungen abhängig: Als Folge der israelischen Angriffe auf die Hamas im Gazastreifen liegen inzwischen weite Teile des Küstenstreifens in Trümmern. Auch im Westjordanland gibt es seit langem starke Einschränkungen. Jan Busse:

O-TON 12 (Busse, 19.44)
Es ist im Grunde so, dass das Leben im Westjordanland geprägt ist dadurch, dass es eben die israelische Besatzung gibt und die Präsenz von inzwischen, wenn man Ost-Jerusalem mitzählt, 700.000 Siedlerinnen und Siedlern. Das sorgt dafür, dass die Menschen dort mit einer extremen Unsicherheit konfrontiert sind, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen von militanten Siedlern, die teilweise Olivenbäume zerstören oder auch gewalttätig Personen angreifen.

SPRECHERIN
Zudem ist im Westjordanland die Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv eingeschränkt, es gibt zahlreiche Kontrollpunkte. Viele Ortschaften sind abgeriegelt. 2016 bezeichnete der UN-Sicherheitsrat den Siedlungsbau als Verletzung des internationalen Rechts und forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Die Einflussmöglichkeiten der palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung sind begrenzt. Abbas, Nachfolger des einst populären ersten Palästinenser-Präsidenten Jassir Arafat, wird von vielen Palästinensern als kraftlos angesehen. Hinzu kommt, dass der Autonomiebehörde Korruption vorgeworden wird. Die Zustimmungswerte für Abbas waren 2023 Umfragen zufolge auf einem Tiefpunkt, zugleich stiegen die Zustimmungswerte für die Hamas. Die aus der Muslimbruderschaft entstandene Hamas verwaltet seit den Parlamentswahlen 2006 den Gazastreifen. 2007 kam es zum Bruch zwischen Hamas und Fatah, die Hamas riss in einer gewaltsamen Konfrontation die Macht an sich. Von der Europäischen Union und den USA wird die Hamas, die immer wieder Anschläge auf Zivilisten verübt und die Vernichtung Israels zum Ziel hat, als Terrororganisation eingestuft. Demokratisch legitimiert waren zuletzt weder die Hamas, noch die Fatah. Neuwahlen wurde zwar mehrmals angekündigt, fanden jedoch wegen Streitigkeiten zwischen beiden Seiten nicht statt.

O-TON 13 (Busse, 21.50)
Und wenn man sich dann vor Augen führt, dass im Gazastreifen rund die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist, dann hat niemand von denen jemals die Hamas wählen können oder auch abwählen können. Diese Menschen konnten den Gazastreifen nie verlassen, weil es seit dieser Blockade kaum möglich ist, und haben dafür aber tatsächlich mehrere Kriege schon miterlebt seit dieser Zeit 2008, 2009, 2012, 2014, 2022 und eben auch jetzt.

SPRECHERIN
Vertreibung, Flucht, Krieg, Gewalt – dies könnte zu einer weiteren Radikalisierung führen, befürchten Experten wie Jan Busse.

O-TON 14 (Busse, 23.19)
Ich denke, dass die Tatsache, dass der aktuelle Krieg, den Israel im Gazastreifen führt, mit der massiven Zerstörung, die dort stattfindet, sicherlich perspektivisch dazu führen wird, dass es eben alles andere als ein De-Radikalisierungsprogramm ist. Es gibt unzählige, es gibt Tausende Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Es gibt zahlreiche Menschen, die Familienangehörige verloren haben, die ihr Zuhause verloren haben. Und ich befürchte, dass das sicherlich die Grundlage sein könnte, dass sich in Zukunft mehr Menschen radikalen-bewaffneten Gruppen anschließen werden.

SPRECHERIN
Viele Palästinenser werfen dem Westen vor, dass er sich nicht kümmert. Sie fühlen sich allein gelassen und vergessen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International kritisieren die israelische Politik: Amnesty legte 2022 einen Bericht vor, in dem die Menschenrechtsorganisation Israel vorwarf, an den Palästinenserinnen und Palästinensern Apartheid zu verüben und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Die israelische Regierung wies den Bericht als – Zitat - „falsch, einseitig und antisemitisch“ zurück. Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik empfahl damals:

ZITATOR
Die Bundesregierung sollte sich den Apartheid-Vorwurf vor einer sorgfältigen Prüfung durch die zuständigen Organe weder zu eigen machen noch ihn abtun. Sie sollte den AI-Bericht aber als Weckruf verstehen, gravierende Menschenrechts¬verletzungen nicht länger als eine Normalität hinzunehmen, und die andauernde Be¬satzung nicht als einen Zustand zu betrach¬ten, der losgelöst von einem „demokrati¬schen Israel“ existiert.

SPRECHERIN
Inzwischen ist auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag involviert. Das Gericht muss entscheiden, ob der palästinensische Vorwurf zutrifft, dass Israel in den besetzten Gebieten eine Form von Apartheid praktiziere. Das Gutachten steht noch aus.

TC 20:52 - Wendepunkte

MUSIK

SPRECHERIN
Die Lage seit dem 7. Oktober 2023 erscheint aussichtslos – in den 1990er Jahren hatte es zeitweise berechtigte Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung und Frieden gegeben. In der Präambel des Abkommen Oslo I erkannte die PLO das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967, also nach dem Sechstagekrieg, an und Israel akzeptierte die PLO als Vertreter des palästinensischen Volkes. Für die Friedensverhandlungen erhielten PLO-Chef Jassir Arafat, Israels Außenminister Shimon Peres und Premier Jitzchak Rabin 1994 gemeinsam den Friedensnobelpreis. Doch die Gründung eines palästinensischen Staates scheiterte.

O-TON 15 (Busse, 9.45)
Die Rahmenbedingungen dafür waren tatsächlich sehr, sehr schlecht. Und das lag vor allem daran, dass es eben auf beiden Seiten auch Akteure gab, die diesen Oslo-Friedensprozess abgelehnt haben. Auf palästinensischer Seite ist allen voran sicherlich die Hamas und ähnliche Akteure zu nennen, die unter anderem durch Selbstmordattentate auch versucht haben, diesen Friedensprozess zu sabotieren. Auf israelischer Seite wurde der Siedlungsbau unvermindert fortgesetzt, also zwischen 1992 und 2000, also eigentlich dieser Oslo-Phase ungefähr, hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland verdoppelt, gleichzeitig gab es auch dort radikale Kräfte. Der Oppositionspolitiker Netanjahu hat damals sehr stark gegen den Premierminister Rabin gehetzt und ein rechtsextremer, ein jüdischer Attentäter hat Itzhak Rabin dann auch ermordet.

SPRECHERIN
Nach Oslo I und Oslo II 1995, das unter anderem den gestaffelten Rückzug israelischer Streitkräfte aus palästinensischen Regionen vorsah, gab es mehrere Anläufe, den Friedensprozess wiederzubeleben und mindestens ebenso viele Rückschläge. Die rechts-religiöse Koalition des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu legte 2022 im Regierungsprogramm ein – Zitat – „exklusives und unveräußerliches Recht des jüdischen Volkes auf das ganze Land“ fest. Die radikale Hamas fordert ein Palästina „From the river to the sea“ – also vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer - und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage. Derzeit ist keine Lösung in Sicht, allerdings gab es in der Geschichte des Nahost-Konflikts schon oft beachtliche Wendungen. Jan Busse:

O-TON 16 (Busse, 15.33)
Ich glaube, es ist auch wichtig, die Hamas nicht als Blackbox zu behandeln, sondern sich auch vor Augen zu führen, dass es dort Hardliner gibt. Das sind diejenigen aus meiner Sicht, die eben hauptverantwortlich sind, auch für das Attentat vom 7. Oktober, aber eben auch potenziell Kräfte vorhanden sein könnten, die irgendwann mal einen gewissen Wandel einleiten könnten. Denn letzten Endes: Jassir Arafat ist ursprünglich als Terrorist aktiv gewesen, hat später den Friedensnobelpreis gekriegt.

MUSIK

SPRECHERIN
Eine vergleichbare Wandlung gab es auch bei dem israelischen Politiker Menachem Begin, der von 1977 bis 1983 Ministerpräsident war.

O-TON 17 (Weiter)
Der hat den Friedensnobelpreis gekriegt für den Frieden mit Ägypten und die britische Mandatsmacht hat ihn Ende der 40er-Jahre noch als Terroristen steckbrieflich gesucht. Also so schnell kann sich da auch einen Wandel im Laufe der Jahrzehnte einziehen, auch wenn das momentan sicherlich schwer vorstellbar ist.

MUSIK
TC 24:30 – Outro

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Der Staat Palästina wurde 1988 formal proklamiert. Bis heute ist er von 139 Staaten anerkannt. Viele arabisch-sprechende Länder, aber auch Russland, große Teile Afrikas und Südamerikas, aber auch Schweden kennen den Staat Palästina an - die USA, Frankreich oder auch Deutschland nicht. Doch wer sind die Palästinenser? Was fordern sie? Und was bedeutet dieser Konflikt mit Israel für das Leben der Menschen im Gazastreifen, im Westjordanland, in den Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten oder im Exil in anderen Ländern? Die Lebenswirklichkeiten der Palästinenser unterscheiden sich – je nachdem wo sie ansässig sind - teils stark; und damit auch ihre Probleme und Ängste. Was viele eint, ist das Trauma der Nakba, also die Flucht und Vertreibung im Jahr 1948 und die Hoffnung, wieder in ihre Dörfer und Städte zurückkehren zu können.

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Die historische Region Palästina bezeichnet ein Gebiet an der südöstlichen Mittelmeerküste. In der Region herrschten unter anderem Philister, Israeliten, Assyrer, Babylonier, Perser, Römer, Byzantiner, verschiedene arabische Dynastien und die Osmanen. Seit dem späten 7. Jahrhundert lebten dort Juden, Christen und Muslime. Ebenso wie Israelis verweisen Palästinenser auf biblische Vorläufer, sagt der Politologe Jan Busse von der Universität der Bundeswehr München.

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Also man beruft sich bei den Palästinensern ein Stück weit auf die Philister und sieht da auch eine sprachliche Nähe zu dem Begriff Palästinenser, ein Stück weit vielleicht auch zu den Kanaanitern, aber natürlich auch zu den großen arabischen Dynastien, den Umayyaden, Abbasiden, Fatimiden. (…) Aber ich glaube, entscheidend ist vielmehr diese Idee eines Nationalbewusstseins als modernes Phänomen.

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Im Jahr 1834 kam es im Osmanischen Reich zu einem Bauernaufstand, der sich gegen die Wehrpflicht und Steuerpolitik richtete. Manche Historiker betrachten diesen Aufstand als Geburtsstunde des palästinensischen Nationalismus. Andere sprechen erst gegen Ende des 19. beziehungsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer nationalen Identität der Palästinenser.

O-TON 2 (Busse, 2.20)
Und die Soziologie hat es sehr gut gezeigt: Identitäten bilden sich eigentlich immer in Abgrenzung zu einem Gegenüber und vor dem Hintergrund – das gilt für beide Gruppen, für Israelis und Palästinenser - spielt eben dieses Andere, dieses Gegenüber da eine ganz zentrale Rolle.

SPRECHERIN
Im Ersten Weltkrieg eroberten britische Truppen Palästina – das Land wurde britisches Mandatsgebiet. 1882 waren noch mehr als 96 Prozent der Bevölkerung arabisch beziehungsweise palästinensisch. Juden machten nur etwas mehr als drei Prozent aus. Seit Ende des 19. Jahrhundert nahm die jüdische Zuwanderung zu – der in Europa entstehende politische Zionismus hatte das Ziel, einen jüdischen Nationalstaat zu gründen. Angesichts der Verfolgung in Europa wanderten schließlich immer mehr Juden ins biblische „Heilige Land“ ein. 1931 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung bereits 16 Prozent, 1946 dann 31 Prozent. Dies führte zu blutigen Zusammenstößen und Aufständen – die Gewalt ging von beiden Seiten aus:

O-TON 3 (Busse, 7.52)
Die britische Mandatsverwaltung hat selbst in den 30er-Jahren schon Teilungspläne vorgeschlagen, weil sie eben gemerkt hat, dass das eine Lösung darstellen könnte, weil es eben immer wieder zu Spannungen zwischen der damaligen arabischen und jüdischen Bevölkerung kam.

TC 04:16 – Zwei Staaten, eine Lösung?

MUSIK

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Um die aufgeheizte Stimmung in den Griff zu bekommen, schränkte die britische Besatzung den Zuzug von Juden ein – zu einer Zeit, in der die Verfolgung von Juden in Deutschland unter der NSDAP immer weiter zunahm. Doch Unmut richtete sich nun nicht nur gegen die jeweils andere Bevölkerungsgruppe, sondern auch gegen die britische Besatzung. Sowohl Araber als auch Juden nahmen die Briten als Besatzungsmacht wahr, die den eigenen nationalen Bestrebungen im Weg standen. Die Briten bekamen den Konflikt nicht unter Kontrolle und wollten die Verantwortung für das Mandat abgeben, auch wegen der Kosten. Sie baten deshalb die 1945 neu gegründeten Vereinten Nationen um Hilfe. Ein UN-Sonderausschuss erarbeitete einen Lösungsvorschlag. Im November 1947 verabschiedete die UN-Generalversammlung einen Teilungsplan. In der Resolution 181 (II) hieß es. Die Generalversammlung…

ZITATOR
…empfiehlt dem Vereinigten Königreich als der Mandatsmacht für Palästina und allen anderen Mitgliedern der Vereinten Nationen hinsichtlich der künftigen Regierung Palästinas die Verabschiedung und Durchführung des nachstehend dargelegten Teilungsplans mit Wirtschaftsunion…

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33 Staaten stimmten für die Resolution, 13 dagegen, unter ihnen mehrere arabische Staaten. Es gab zehn Enthaltungen. Der Plan sah eine Teilung des Gebiets vor, sagt Jan Busse. Doch:

O-TON 4 (Busse, 6.02)
Das Problem war allerdings, dass eben 56 Prozent dieses Staates einem jüdischen Staat zugeschlagen werden sollten und 43 Prozent einem arabischen, wohingegen das Bevölkerungsverhältnis so aussah, dass wir 70 Prozent Araber hatten und 30 Prozent Juden. Und vor dem Hintergrund lehnte die arabische Seite diesen Plan ab und war nicht zu einer Teilung bereit, was ihr teilweise bis heute vorgeworfen wird, wohingegen die Vertreter des politischen Zionismus auf jüdischer Seite
diesen Plan eben zugestimmt haben.

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Offiziell zumindest, tatsächlich spekulierte die jüdische Seite auch auf Gebiete, die laut UN-Plan der arabischen Seite zustanden, sagt Professor Eckart Woertz. Er ist Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg.

O-TON 5 (Woertz, 7.22)
Wir wissen aus Hintergrundgesprächen, Tagebuchnotizen und so weiter vom israelischen Staatsgründer Ben-Gurion, dass das Verständnis auf israelischer Seite war: Na ja, jetzt akzeptieren wir das erst mal. Danach können wir immer noch vielleicht irgendwie expandieren.

TC 06:55 – Tabu, Trauma & Identität

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Am 14. Mai 1948 verließen die letzten britischen Truppen Palästina. Der designierte Ministerpräsident David Ben-Gurion rief den Staat Israel aus. Schon in der darauffolgenden Nacht griffen Ägypten, Transjordanien, Syrien, der Libanon und der Irak Israel an. Das israelische Militär bestand aus Kämpfern aus Untergrundorganisationen und Freiwilligen. Dieser Krieg ging mit zwei Namen in die Geschichte ein: Für Juden ist es der Unabhängigkeitskrieg, für Araber die Nakba, die Katastrophe. Israelische Einheiten eroberten im Laufe des Kriegs etwa 40 Prozent des Gebiets, das laut UN-Teilungsplan der arabischen Bevölkerung zustand. Viele arabische Dörfer und Städte wurden zerstört. Nach Angaben der Vereinten Nationen flohen etwa 700.000 Palästinenser, die palästinensische Seite nennt höhere Zahlen. Die Menschen flüchteten unter anderem in den Libanon, nach Syrien, nach Jordanien, wo heute rund die Hälfte der Bevölkerung palästinensische Wurzeln hat, ins Westjordanland und in den Gazastreifen.

ATMO (aus Archiv, z.B. Kampf-Geräusche)

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Es folgten zahlreiche weitere militärische Konflikte: 1967 kam es zum Sechstagekrieg. Israel reagierte auf eine Bedrohungslage durch Ägypten, Jordanien und Syrien mit einem Präventivschlag gegen die Luftwaffenbasen seiner Nachbarstaaten. Israel eroberte im Zuge des Kriegs das Westjordanland inklusive Ost-Jerusalem, den Gazastreifen, Teile der Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel. Erneut flüchteten Hunderttausende Palästinenser, zum Teil auch, weil ihr Land annektiert und ihnen damit ihre Lebensgrundlage entzogen wurde. Diejenigen, die blieben, lebten nun im Westjordanland, in Jerusalem und im Gazastreifen unter israelischer Besatzung und Militärverwaltung. Sarah El Bulbeisi vom Orient-Institut in Beirut spricht von einem kollektiven Trauma. Die Wissenschaftlerin, deren Familienangehörige im Gazastreifen leben, promovierte zum Thema Tabu, Trauma und Identität von Palästinensern in Deutschland und der Schweiz.

O-TON 6 (Bulbeisi, 3.57)
Mittlerweile verstehen Palästinenserinnen unter Nakba eben nicht nur diese Massenvertreibungen von 1947, 48, sondern die Vertreibungen, die bis heute andauern, also auch die Vertreibungen zur Zeit des Kriegs (…) 1967, die Vertreibungen, die im Zuge der Besatzung erfolgten, wo wieder mehrere Hunderttausend Palästinenser vertrieben wurden. (…) Aber mittlerweile verstehen Palästinenser unter Nakba auch die Vertreibung, deren Zeugen wir heute sind, die Vertreibungen, die im Zuge des Gazakriegs, die 2023 und 2024 erfolgen.

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Gemeint ist die jüngste Flucht der Menschen im abgeriegelten Gazastreifen vom Norden in den Süden nach dem brutalen Angriff der radikal-islamischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Nach israelischen Angaben wurden mehr als 1.200 Menschen getötet, mehr als 2.700 verletzt. Es gab Vergewaltigungen and andere Gräueltaten. Mehr als 250 Geiseln wurden verschleppt. Auf diesen Angriff reagierte Israel mit einem Gegenangriff. Nach Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza sind bei diesen Militäraktionen mit Stand Anfang April mehr als 33.000 Menschen getötet worden, knapp 76.000 Menschen wurden verletzt, und tausende Opfer, die noch nicht geborgen werden konnten, werden unter den Trümmern vermutet. Das palästinensische Gesundheitsministerium wird von der Hamas geführt, die Vereinten Nationen erachten aber die Zahlen als weitgehend richtig.

TC 10:51 – Die Folgen der Vertreibung

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Viele Palästinenser kennen die Geschichte der Vertreibung aus Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern. Viele jüngere Menschen mussten selbst schon fliehen oder wurden vertrieben. Die Folgen dieser Fluchterfahrungen seien verheerend, betont Sarah El Bulbeisi.

O-TON 7 (Bulbeisi, 8.49)
Also Vertreibung ist eigentlich nur eine Hälfte der Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung dieser Gewalterfahrung, die Nichtanerkennung der (…) systematischen Vertreibung ist eigentlich das, was mindestens so prägend ist. Und wir wissen auch aus der Traumaforschung, dass Trauma nicht einfach ein einzelnes Ereignis ist, dass Trauma immer ein Prozess ist, und es ist essenziell, wie Gesellschaft, wie die Umwelt auf Gewalterfahrung reagiert. Und im palästinensischen Kontext war es eben so, dass diese Gewalterfahrung negiert und einem aberkannt wurde und diese Tabuisierung der palästinensischen Gewalterfahrung, die hat dazu geführt, dass Menschen, ganze Biografien (…) zerbrochen sind an diesem Gefühl, eigentlich keine Menschen zu sein.

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Das Trauma der Vertreibung beeinflusst das Leben vieler Palästinenser, in den besetzten Gebieten, aber auch in der Diaspora. Viele hegen den Wunsch auf Rückkehr in das Land ihrer Vorfahren, betont Eckart Woertz.

O-TON 9 (Woertz, 19.02)
Selbst Kinder, die die Abstammungsregionen ihrer Eltern nie kennengelernt haben, sprechen dann von ihrem Heimatdorf, das da und da war und jetzt halt im heutigen israelischen Kernland ist. Also auch diese Vision, dass man da vielleicht noch einmal zurückkehren kann, das - denke ich - auch in einer Zwei-Staaten-Lösung so nicht realisierbar ist. Das ist, glaube ich, eine Pille, die die Palästinenser werden schlucken müssen, dass es ein Rückkehrrecht so nicht geben wird. Aber klar, das ist ganz klar ein Sehnsuchtsort auch für Palästinenser in der Diaspora.

MUSIK

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Als Folge der ersten großen Vertreibung wurde Ende 1949 das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, kurz UNRWA, gegründet. Die Organisation soll palästinensischen Flüchtlingen Hilfe und Schutz gewähren. Eckart Woertz:

O-TON 10 (Woertz, 21.07)
Das UNRWA, das Hilfswerk speziell für die Palästinenser (…) ist ein ganz wichtiger Dienstleistungsfaktor in den palästinensischen Gebieten, von Nahrungsmittellieferung bis zum Schulwesen und so weiter. Wird hier auch von Israel kritisiert, dass die sagen: Da wird so ein Flüchtlingsstatus,- sagen wir mal - verewigt, weil, das gilt ja normalerweise nur für Leute, die diese Fluchterfahrung noch haben.
SPRECHERIN
Beim Palästinenserflüchtlingshilfswerk UNRWA sind 5,9 Millionen palästinensische Flüchtlinge registriert. Sie nehmen völkerrechtlich eine Sonderstellung ein: Nur den palästinensischen Flüchtlingen der ersten Vertreibung wird der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Status wird aber auf Nachkommen vererbt. UNRWA kümmert sich um die Versorgung von registrierten Palästina-Flüchtlingen im Gazastreifen, im Westjordanland, Jordanien, Syrien und im Libanon. Weil sich mehrere Mitarbeiter des Hilfswerks am Angriff gegen Israel am 7. Oktober beteiligt haben sollen, gab es zuletzt scharfe Kritik an der UNRWA.

MUSIK
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Viele UNRWA-Flüchtlinge und Palästinenser sind staatenlos. Das heißt: Sie können nicht eingebürgert werden, nicht arbeiten, nicht reisen. In Deutschland können sie zum Beispiel auch kein Asyl beantragen. Sie werden nur geduldet. Auch die Tatsache, dass die Palästinensische Befreiungsorganisation 1988 einen unabhängigen palästinensischen Staat ausrief, ändert daran nichts, denn Berlin hat zwar ein Vertretungsbüro in Ramallah, erkennt Palästina aber nicht als unabhängigen Staat an. Weltweit gibt es etwa 14,5 Millionen Palästinenser, davon etwa fünfeinhalb Millionen im Westjordanland und im Gazastreifen. Viele Palästinenser leben zudem in Golfstaaten, in Mitteleuropa, in Nordamerika oder auch in Chile. Jan Busse:

O-TON 11 (Busse, 3.16)
Und dann gibt es natürlich auch noch knapp zwei Millionen arabische Israelis, also Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft und auch einen Teil in Ost-Jerusalem, was unter israelischer Kontrolle ist.

TC 15:34 – Im Gazastreifen

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Im Gazastreifen, dem Küstenstreifen, dessen Grenzen von Israel und Ägypten kontrolliert werden, war die Lebenssituation der Menschen schon vor dem 7. Oktober 2023 schwierig. Nach Angaben der Weltbank waren dort rund die Hälfte der Menschen arbeitslos, mehr als zwei Drittel von Hilfslieferungen abhängig: Als Folge der israelischen Angriffe auf die Hamas im Gazastreifen liegen inzwischen weite Teile des Küstenstreifens in Trümmern. Auch im Westjordanland gibt es seit langem starke Einschränkungen. Jan Busse:

O-TON 12 (Busse, 19.44)
Es ist im Grunde so, dass das Leben im Westjordanland geprägt ist dadurch, dass es eben die israelische Besatzung gibt und die Präsenz von inzwischen, wenn man Ost-Jerusalem mitzählt, 700.000 Siedlerinnen und Siedlern. Das sorgt dafür, dass die Menschen dort mit einer extremen Unsicherheit konfrontiert sind, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen von militanten Siedlern, die teilweise Olivenbäume zerstören oder auch gewalttätig Personen angreifen.

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Zudem ist im Westjordanland die Bewegungsfreiheit der Palästinenser massiv eingeschränkt, es gibt zahlreiche Kontrollpunkte. Viele Ortschaften sind abgeriegelt. 2016 bezeichnete der UN-Sicherheitsrat den Siedlungsbau als Verletzung des internationalen Rechts und forderte Israel auf, alle Siedlungsaktivitäten zu stoppen. Die Einflussmöglichkeiten der palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas von der Fatah-Bewegung sind begrenzt. Abbas, Nachfolger des einst populären ersten Palästinenser-Präsidenten Jassir Arafat, wird von vielen Palästinensern als kraftlos angesehen. Hinzu kommt, dass der Autonomiebehörde Korruption vorgeworden wird. Die Zustimmungswerte für Abbas waren 2023 Umfragen zufolge auf einem Tiefpunkt, zugleich stiegen die Zustimmungswerte für die Hamas. Die aus der Muslimbruderschaft entstandene Hamas verwaltet seit den Parlamentswahlen 2006 den Gazastreifen. 2007 kam es zum Bruch zwischen Hamas und Fatah, die Hamas riss in einer gewaltsamen Konfrontation die Macht an sich. Von der Europäischen Union und den USA wird die Hamas, die immer wieder Anschläge auf Zivilisten verübt und die Vernichtung Israels zum Ziel hat, als Terrororganisation eingestuft. Demokratisch legitimiert waren zuletzt weder die Hamas, noch die Fatah. Neuwahlen wurde zwar mehrmals angekündigt, fanden jedoch wegen Streitigkeiten zwischen beiden Seiten nicht statt.

O-TON 13 (Busse, 21.50)
Und wenn man sich dann vor Augen führt, dass im Gazastreifen rund die Hälfte der Bevölkerung minderjährig ist, dann hat niemand von denen jemals die Hamas wählen können oder auch abwählen können. Diese Menschen konnten den Gazastreifen nie verlassen, weil es seit dieser Blockade kaum möglich ist, und haben dafür aber tatsächlich mehrere Kriege schon miterlebt seit dieser Zeit 2008, 2009, 2012, 2014, 2022 und eben auch jetzt.

SPRECHERIN
Vertreibung, Flucht, Krieg, Gewalt – dies könnte zu einer weiteren Radikalisierung führen, befürchten Experten wie Jan Busse.

O-TON 14 (Busse, 23.19)
Ich denke, dass die Tatsache, dass der aktuelle Krieg, den Israel im Gazastreifen führt, mit der massiven Zerstörung, die dort stattfindet, sicherlich perspektivisch dazu führen wird, dass es eben alles andere als ein De-Radikalisierungsprogramm ist. Es gibt unzählige, es gibt Tausende Kinder, die ihre Eltern verloren haben. Es gibt zahlreiche Menschen, die Familienangehörige verloren haben, die ihr Zuhause verloren haben. Und ich befürchte, dass das sicherlich die Grundlage sein könnte, dass sich in Zukunft mehr Menschen radikalen-bewaffneten Gruppen anschließen werden.

SPRECHERIN
Viele Palästinenser werfen dem Westen vor, dass er sich nicht kümmert. Sie fühlen sich allein gelassen und vergessen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International kritisieren die israelische Politik: Amnesty legte 2022 einen Bericht vor, in dem die Menschenrechtsorganisation Israel vorwarf, an den Palästinenserinnen und Palästinensern Apartheid zu verüben und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Die israelische Regierung wies den Bericht als – Zitat - „falsch, einseitig und antisemitisch“ zurück. Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik empfahl damals:

ZITATOR
Die Bundesregierung sollte sich den Apartheid-Vorwurf vor einer sorgfältigen Prüfung durch die zuständigen Organe weder zu eigen machen noch ihn abtun. Sie sollte den AI-Bericht aber als Weckruf verstehen, gravierende Menschenrechts¬verletzungen nicht länger als eine Normalität hinzunehmen, und die andauernde Be¬satzung nicht als einen Zustand zu betrach¬ten, der losgelöst von einem „demokrati¬schen Israel“ existiert.

SPRECHERIN
Inzwischen ist auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag involviert. Das Gericht muss entscheiden, ob der palästinensische Vorwurf zutrifft, dass Israel in den besetzten Gebieten eine Form von Apartheid praktiziere. Das Gutachten steht noch aus.

TC 20:52 - Wendepunkte

MUSIK

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Die Lage seit dem 7. Oktober 2023 erscheint aussichtslos – in den 1990er Jahren hatte es zeitweise berechtigte Hoffnung auf eine Zwei-Staaten-Lösung und Frieden gegeben. In der Präambel des Abkommen Oslo I erkannte die PLO das Existenzrecht Israels in den Grenzen von 1967, also nach dem Sechstagekrieg, an und Israel akzeptierte die PLO als Vertreter des palästinensischen Volkes. Für die Friedensverhandlungen erhielten PLO-Chef Jassir Arafat, Israels Außenminister Shimon Peres und Premier Jitzchak Rabin 1994 gemeinsam den Friedensnobelpreis. Doch die Gründung eines palästinensischen Staates scheiterte.

O-TON 15 (Busse, 9.45)
Die Rahmenbedingungen dafür waren tatsächlich sehr, sehr schlecht. Und das lag vor allem daran, dass es eben auf beiden Seiten auch Akteure gab, die diesen Oslo-Friedensprozess abgelehnt haben. Auf palästinensischer Seite ist allen voran sicherlich die Hamas und ähnliche Akteure zu nennen, die unter anderem durch Selbstmordattentate auch versucht haben, diesen Friedensprozess zu sabotieren. Auf israelischer Seite wurde der Siedlungsbau unvermindert fortgesetzt, also zwischen 1992 und 2000, also eigentlich dieser Oslo-Phase ungefähr, hat sich die Zahl der Siedler im Westjordanland verdoppelt, gleichzeitig gab es auch dort radikale Kräfte. Der Oppositionspolitiker Netanjahu hat damals sehr stark gegen den Premierminister Rabin gehetzt und ein rechtsextremer, ein jüdischer Attentäter hat Itzhak Rabin dann auch ermordet.

SPRECHERIN
Nach Oslo I und Oslo II 1995, das unter anderem den gestaffelten Rückzug israelischer Streitkräfte aus palästinensischen Regionen vorsah, gab es mehrere Anläufe, den Friedensprozess wiederzubeleben und mindestens ebenso viele Rückschläge. Die rechts-religiöse Koalition des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu legte 2022 im Regierungsprogramm ein – Zitat – „exklusives und unveräußerliches Recht des jüdischen Volkes auf das ganze Land“ fest. Die radikale Hamas fordert ein Palästina „From the river to the sea“ – also vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer - und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage. Derzeit ist keine Lösung in Sicht, allerdings gab es in der Geschichte des Nahost-Konflikts schon oft beachtliche Wendungen. Jan Busse:

O-TON 16 (Busse, 15.33)
Ich glaube, es ist auch wichtig, die Hamas nicht als Blackbox zu behandeln, sondern sich auch vor Augen zu führen, dass es dort Hardliner gibt. Das sind diejenigen aus meiner Sicht, die eben hauptverantwortlich sind, auch für das Attentat vom 7. Oktober, aber eben auch potenziell Kräfte vorhanden sein könnten, die irgendwann mal einen gewissen Wandel einleiten könnten. Denn letzten Endes: Jassir Arafat ist ursprünglich als Terrorist aktiv gewesen, hat später den Friedensnobelpreis gekriegt.

MUSIK

SPRECHERIN
Eine vergleichbare Wandlung gab es auch bei dem israelischen Politiker Menachem Begin, der von 1977 bis 1983 Ministerpräsident war.

O-TON 17 (Weiter)
Der hat den Friedensnobelpreis gekriegt für den Frieden mit Ägypten und die britische Mandatsmacht hat ihn Ende der 40er-Jahre noch als Terroristen steckbrieflich gesucht. Also so schnell kann sich da auch einen Wandel im Laufe der Jahrzehnte einziehen, auch wenn das momentan sicherlich schwer vorstellbar ist.

MUSIK
TC 24:30 – Outro

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