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Polen und Russland - Im Schatten des imperialen Nachbarn

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Manage episode 398841630 series 1833401
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Polens Kampf um nationale Souveränität wurde über die Jahrhunderte vor allem gegen das russische Imperium geführt. Traumatische Erfahrungen der Polen mit dem imperialen Nachbarn haben sich durch den russischen Krieg gegen die Ukraine erneut ins Bewusstsein gerufen. Autor: Jochen Rack

Credits
Autor dieser Folge: Jochen Rack
Regie: Silke Wolfrum
Es sprachen: Rainer Buck, Irina Wanka, Peter Veit
Technik: Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz

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Deportation und Exil - Eine polnische Odyssee im Zweiten Weltkrieg
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Literaturtipps:

Stephan Lehnstaedt, Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-20 und die Entstehung des modernen Osteuropa, Beck 2022.

Thomas Urban, Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens. Beck 2015.

Linktipps:

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Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK The boss (Z8033402103) 0’46

OT 01: Atmo Protest gegen den Besuch des russischen Botschafters am Militärfriedhof Warschau

Sprecher:

9. Mai 2023: Der russische Botschafter in Polen Sergej Andrejew will den sowjetischen Militärfriedhof in Warschau besuchen, um einen Kranz für die im Zweiten Weltkrieg gefallene Rotarmisten niederzulegen. Doch eine Menge wütender Demonstranten hält ihn auf. Um das Gelände des Ehrenmals haben sie die Kulissen zerbombter ukrainischer Wohnhäuser aufgestellt und auf die Grabstellen der Soldaten der Roten Armee ukrainische Fähnchen und Kreuze gesteckt. Sie tragen die Namen ukrainischer Zivilisten, die durch russische Luftangriffe getötet wurden.

OT 01

Sprecher:

„Raschisti, Raschisti“ skandieren die Demonstranten und nehmen damit den Neologismus auf, den die Ukrainer für die russischen Invasoren geprägt haben: die Wortverbindung von Russen und Faschisten.

Sprecherin

Aber nicht erst seit Putin seinen brutalen Feldzug gegen die Ukraine begonnen hat, ist das Verhältnis der Polen zu Russland von Feindschaft, wenn nicht Erbfeindschaft geprägt. Über die Jahrhunderte wurde es von dem imperialen Nachbarn als Beute betrachtet, zeitweise annektiert, mit Deutschland und Österreich geteilt, dem zaristischen Imperium, dann dem Sowjetreich einverleibt. Erst 1989 ermöglichte der Untergang der Sowjetunion die Wiedergeburt eines freiheitlichen demokratischen Polens, das heute Mitglied der EU und der NATO ist.

MUSIK Jour de Pluie (Z8028908112) 0‘20

Sprecher

Vergessen wird im Westen freilich oft, dass Polen in Mittelalter und Barock eine europäische Großmacht und Gegenspieler Russlands war. Mit der Union von Lublin nämlich waren das litauische Großfürstentum und das polnische Königreich 1569 zu einer gemeinsamen Adelsrepublik verschmolzen, der sog. Rzeczpospolita. Das polnisch-litauische Commonwealth erstreckte sich bis ins 18. Jahrhundert weit nach Osten, umfasste Teile der heutigen Ukraine, von Belarus und Russland. Anfang des 17. Jahrhunderts hatten polnisch-litauische Truppen sogar für zwei Jahre Moskau besetzt, erklärt der Osteuropahistoriker Stephan Lehnstaedt:

OT 2 Lehnstaedt:

1611 stehen polnische Truppen im Kreml in Moskau, aber schon Ende des 17. Jahrhundert sieht man ganz deutlich, dass sich dieses Kräfteverhältnis umkehrt. Polen verliert immer mehr Grund, muss ihn abgeben an Moskau, und spätestens mit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert, 1795 verschwindet Polen von der europäischen Landkarte, ist klar, dass Russland der Erbfeind ist.

Sprecher:

Am 4. November 1612 hatten die Russen die Polen aus Moskau wieder vertrieben – 2005 führte Putin das Datum 4. November als Feiertag der Nationalen Einheit ein - Teil seiner imperialistischen Erinnerungspolitik, die an den Expansionismus des Zarenreichs anknüpft.

MUSIK Gutenberg Galaxy (C1165540001) 0‘30

Sprecherin

Dieses hatte sich bis zum 18. Jahrhundert immer weiter nach Westen ausgedehnt. Peter der Große eroberte Anfang des 18. Jahrhunderts im Krieg gegen Schweden das heutige Estland, schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gliederte sich Russland den Ostteil der heutigen Ukraine an, dessen kosakische Hetmanate bis dahin von Polen beherrscht worden waren. So war Polen-Litauen von Norden wie Osten her von den Russen bedroht. Unter der Herrschaft von Katharina II. kam es Ende des 18. Jahrhunderts zu den drei polnischen Teilungen, 1772, 1793 und 95. Österreich annektierte Galizien, Preußen die Gebiete um Posen, Russland die westliche Ukraine und den größten Teil Polens - insgesamt 82 Prozent des polnischen Territoriums, berechnet der Krakauer Historiker Andrzej Nowak.

OT 3 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Katharina II. berief sich auf das Konzept der russischen Welt, das Putin heute wiederbelebt hat. Demnach gehört jeder, der die slawische Sprache spricht, zu Russland. Das war die ideologische Rechtfertigung. Wichtiger war die geopolitische Dimension: Wenn Russland eine europäische Macht sein wollte, brauchte es den Zugang zu Zentraleuropa, diese Achse führt durch Polen. Und es gab noch einen dritten Grund für die Teilung, nämlich dass Katharina Polen mit revolutionärer Freiheit identifizierte. Als die Polen sich gegen die Russen wehrten 1793/94 - kam es zu dem berühmten Aufstand unter Tadeusz Kosciuszko -, wurde das von Russland als jakobinische Revolution verstanden. Katharina benutzte das Argument gegen Polen: Wir wollten Ordnung, und die Polen stehen für revolutionäre Anarchie.

Sprecher:

Nur kurz erschien unter Napoleon das Großfürstentum Warschau als Rumpfpolen wieder auf der Landkarte, aber nach dessen Niederlage gegen Russland 1812 wurde es aufgelöst und im Wiener Kongress als sogenanntes Kongresspolen mit dem Kaiserreich Russland verbunden. Russlands Versuch, dieses konstitutionell verfasste Polen, das ein eigenes Parlament, den Sejm, und garantierte Rechte hatte, mit der zaristischen Autokratie in Übereinstimmung zu bringen, scheiterte. Das polnische Parlament kritisierte die Einschränkung von Freiheitsrechten und die Pressezensur, im November 1830 kam es zum Aufstand gegen Russland, Zar Nikolaj I. wurde für abgesetzt erklärt und schickte Truppen, die die polnische Armee 1831 besiegten. Der verhängte Kriegszustand dauerte 25 Jahre. Um die polnische Freiheitsbewegung dauerhaft zu unterdrücken, betrieben die Zaren eine Politik der Russifizierung, sagt Andrzej Nowak.

OT 4 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Die Sprache der höheren Erziehung war polnisch. Das hat man im östlichen Teil Polens schon ab 1830 untersagt und die russische Sprache als Bildungssprache vorgeschrieben. Auf dem Gebiet des ehemaligen Kongresspolens um Warschau herum wurde die Russifizierung sehr schnell nach dem zweiten Aufstand 1863 institutionalisiert. Das bedeutete: keine höhere Bildung in Polen, keine Universitäten, Restriktionen für polnischsprachige Gymnasien, Russisch als einzige obligatorische Sprache auf jeder Stufe des Bildungssystems. Das führte dahin, dass Schüler nicht einmal in den Pausen miteinander Polnisch sprechen durften.

MUSIK Open Prayer (C1568800111) 0‘05

OT 5 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Nach jedem missglückten Aufstand gab es schwere Verfolgungen, z.B. wurden nach 1863 40.000 Polen nach Sibirien deportiert. Das führte zu traumatischen Erinnerungen, aber auch zum Bedürfnis nach Rache.

Sprecher:

Polen überlebte die lange Zeit von 123 Jahren der Teilung, indem es sich als Kulturnation definierte, meint der ehemalige Polen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban.

OT 6 Urban:

Den Nationalgedanken haben im 19. Jahrhundert Künstler, Maler, Komponisten, Schriftsteller gepflegt und bewahrt. Ich nenne nur Adam Mickiewicz und Julius Slowacki, die großen Poeten. Ich nenne den Maler Matejko, der große historische Gemälde über die Highlights in der polnischen Geschichte gemalt hat, die jeder Pole kennt.

MUSIK Orchard (Z8024824115) 0‘32

Sprecherin:

Die Gelegenheit zur Neugründung des polnischen Staates nach über einem Jahrhundert der Teilung bot der Erste Weltkrieg. Deutschland besiegte Russland und wurde danach von der Entente besiegt, so entstand ein Machtvakuum im Osten, das die Polen für sich nutzen konnten. Vorbereitet hatten sie ihre Befreiung vom Joch der Fremdherrschaft schon in den Jahren davor.

Sprecher

Der Held der polnischen Freiheitsbewegung hieß Josef Pilsudski. Im Jahr 1887 wurde er von der russischen Polizei verhaftet, weil er sich an der Planung eines Attentats auf Zar Alexander III. beteiligt hatte. Nach fünf Jahren in der sibirischen Verbannung kehrte er ins russische Polen zurück, gründete die Polnische Sozialistische Partei und stellte paramilitärische Verbände auf, die in einem Guerillakrieg gegen die Russen kämpften. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches und der Oktoberrevolution in Russland 1917 konnte Pilsudski die polnischen Legionen, die auf Seiten der Österreicher gegen die Russen gekämpft hatten, zu einer Armee formen. Im polnisch-sowjetischen Krieg 1919-21 eroberten seine Truppen Teile des heutigen Litauens und Teile von Belarus, besetzten Minsk und Vilnius und rückten bis Kiew vor, wurden aber von der Roten Armee im August 1920 bis vor Warschau zurückgedrängt. Stephan Lehnstaedt, der ein Buch über den polnisch-sowjetischen Krieg geschrieben hat, skizziert, wie es dann zum so genannten „Wunder an der Weichsel“ kam, dem Sieg der Truppen Pilsudskis über die Rote Armee:

OT 7 Lehnstaedt:

Im polnisch-sowjetischen Krieg ist Pilsudski der Oberkommandierende. Seine Leistung besteht darin, dass er diesen Sieg herbeiführt. Er führt ihn herbei, indem er im entscheidenden Augenblick vor Warschau auf eine Gegenoffensive setzt, als ihm seine ausländischen Militärberater raten: Eingraben, Verbarrikadieren, Abwarten, Durchhalten. Aber Pilsudski hat verstanden, dass dieser Krieg nicht mehr der Schützengrabenkrieg der Westfront ist, sondern anders geführt wird und da schafft er es, den entscheidenden Gegenstoß durchzuführen. Und das wiederum ermöglicht das Überleben des polnischen Staates.

MUSIK Celestia mechanics (C1165540014) 0‘10

Sprecherin:

Im unabhängig gewordenen Polen begann die Entrussifizierung

OT 8 Urban

Straßennamen, Behördennamen, Schulnamen, kyrillische Inschriften wurden entfernt, es war ja die Pflicht, im polnischen Teilungsgebiet, alles müsse zweisprachig sein, Geschäfte, Fahrpläne usw. Das wurde alles abgeschafft, das wurde polnisch. Im Bildungssystem natürlich, es gab dann neue Schulbücher, es kamen polnische Klassiker auf die Theaterbühnen, es wurde alles polonisiert.

Sprecher:

Während Polen zur Republik wurde, entwickelte sich im Nachbarland Sowjetunion die stalinistische Diktatur. 140.000 Sowjetbürger polnischer Abstammung wurden in die Gulag-Lager deportiert oder erschossen. Die Sowjets fürchteten die Destabilisierung ihres Herrschaftssystems durch ein freies Polen und bereiteten mit Hilfe von Hitler-Deutschland eine erneute Annexion des Landes vor.

MUSIK shock scenes (NC015960006) 0‘17

Sprecherin

Der 23. August 1939, das Datum des Hitler-Stalin-Paktes bzw. Ribbentrop-Molotow-Paktes ist in Polen unvergessen und heute ein Tag nationaler Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. Nachdem die Wehrmacht die polnische Armee schnell geschlagen hatte, rückten die deutschen Truppen bis zur sog. Curzon-Linie vor, die durch den Fluss Bug gebildet wird. Die Sowjets besetzten die Gebiete östlich davon und begannen sogleich mit der Verhaftung und Ermordung der intellektuellen Elite des Landes. „Mehr als 420.000 polnische Bürger“, schreibt Irina Scherbakowa von der NGO „Memorial“, „wurden in den folgenden eineinhalb Jahren nach Sibirien und Kasachstan deportiert.“ Zum Symbol des stalinistischen Terrors wurde die Erschießung von 20.000 polnischen Offizieren im Frühjahr 1940 in Katyn und anderen Orten. Thomas Urban hat über dieses Verbrechen ein Buch geschrieben:

OT 9 Urban:

Katyn ist sozusagen der Begriff, in dem sich alle polnischen Gefühle, was die Sowjetunion und Russland angehen, fokussieren. Warum Katyn dieses Gewicht hat? Es wurde geleugnet von der sowjetischen Seite, es wurde den Deutschen zugeschrieben.

Sprecherin:

Die Deutschen hatten bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion Katyn erobert und erste Exhumierungen an den Massengräbern durchgeführt, Goebbels nutzte die Geschichte für antibolschewistische Propaganda. In einem 1943 veröffentlichten Dokumentarfilm werden Bilder des Waldes von Katyn gezeigt: Arbeiter bergen Leichen aus Sandgruben, der Kommentar nennt die Zahl von 12000 polnischen Offizieren, die durch Genickschüsse zu Tode kamen. In der polnischen Volksrepublik durfte später, nach dem Krieg, über Katyn nicht gesprochen werden, auch Gorbatschow, der die Wahrheit wusste, leugnete die sowjetische Verantwortung für das Verbrechen. Erst 1991 übergab er Jelzin die geheimen Dokumente über die Erschießung der polnischen Soldaten, die dieser 1992 veröffentlichen ließ.

OT 11 Urban:

Es gab ja dann auch Exhumierungen an fünf anderen Orten, es gab gemeinsame Dokumentationen von Katyn der polnischen und russischen Akademien der Wissenschaften. Und die russische Staatsanwaltschaft hat Untersuchungen eingeleitet und man hat noch ehemalige Offiziere des NKWD ausfindig gemacht und sie wurden befragt. Es kam zu keinem Prozess, weil keinem der Überlebenden die persönliche Beteiligung an den Erschießungen nachgewiesen werden konnte.

MUSIK Critical observation ( LC-00903) 0‘32

Sprecherin:

Die Russen fürchteten Entschädigungsforderungen, und die Polen sahen in Russlands Krieg gegen Tschetschenien einen Beleg dafür, dass die Russen zu friedlicher Konfliktlösung unfähig seien.

Sprecher

Dann zerschellte am 10. April 2010 das Flugzeug, das den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski und eine Delegation von Politikern zu einer Gedenkveranstaltung nach Katyn bringen sollte, beim Anflug auf Smolensk.

OT 12 Urban:

Da gab es dann Versöhnungsgesten und Putin und der damalige Premier Tusk haben sich umarmt. Der damalige Staatspräsident Medwedjew kam zum Staatsbegräbnis für Lech Kaczynski und seine Frau nach Krakau, und paar Tage später bei der Siegesparade zum 65. Jahrestag des Kriegsendes am 9.Mai 2010 war auch eine Abteilung der polnischen Armee, die in der Ehrenformation mitmarschierte, war ein polnisches Kontingent auf dem Roten Platz dabei. Und der polnische amtierende Staatspräsident war auf der Ehrentribüne des Kremls. Aber die Stimmung kippte, als offenkundig war, ein paar Monate später, dass die Russen bei der Untersuchung des Flugzeugabsturzes manipulieren.

Sprecher:

Vermutlich hatten nicht nur die Piloten des polnischen Flugzeuges Fehler gemacht, sondern auch die Verantwortlichen des russischen Flugplatzes. Doch die polnischen Ermittler durften die Fluglotsen nicht befragen, das führte zur Entstehung von Verschwörungstheorien, erklärt der Historiker Stephan Lehnstaedt:

OT 13 Lehnstaedt:

Wenn man Anhänger der PiS ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass man sagt, in Smolenks, da haben die Russen unseren Präsidenten Lech Kaczynski ermordet. Man hat jetzt einen doppelten Opfermythos, ein doppeltes Verbrechen gewissermaßen, und es sind immer die bösen Russen.

MUSIK Beauty in motion (LC-00903) ‘55

Sprecherin:

Als Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückkehrte, ließ er von der Webseite des Staatsarchivs die Dokumente löschen, die den Mord von Katyn bezeugten. Die Instrumentalisierung der Geschichte für politische Zwecke setzte sich fort. Der russischen Erzählung, dass die Rote Armee Polen von den Nazis befreit hatte, stand die andere der Polen gegenüber, dass die sowjetischen Truppen tatenlos vom östlichen Ufer der Weichsel zugesehen hatten, als die Deutschen den Warschauer Aufstand im August und September 1944 niederschlugen und die Stadt in Schutt und Asche legten. Und die Erfahrung, dass sich 1945 die Sowjetunion die östlich der Curzonlinie gelegenen Gebiete einverleibt und Polen nach Westen verschoben hatte.

OT 14 Lehnstaedt:

Polen ist ein Land mit unglaublich vielen Binnenvertriebenen, mehr prozentual als in Deutschland nach 1945. Und all diese Vertriebenen haben die doppelt schlechte Erfahrung mit den Sowjets gemacht, einmal 1939-41, dann durch die Vertreibung nochmals, denn die sind ja nicht freiwillig aus Lemberg und Wilna gegangen. sondern weil sie gehen mussten. Und wer war dafür verantwortlich? Die Sowjets.

Sprecher:

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Polen zur Volksrepublik, das heißt auch, zu einem sowjetischen Satellitenstaat geworden. Als Zeichen ihrer Herrschaft hatten die Sowjets in Warschau den hoch aufragenden Kulturpalast errichtet, den die Polen als Schuh bzw. Penis Stalins verspotteten. Ihr Widerstand gegen das kommunistische System speiste sich über die Jahrzehnte bis zur Solidarnosc-Bewegung auch aus der Erinnerung an den Freiheitshelden Josef Pilsudski, sagt Andrzej Nowak:

OT 15 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Ab dem Moment, als das totalitäre System unter Stalin in Polen installiert wurde bis zum Tauwetter 1956 bedeuteten die Erinnerungen an Pilsudski: Wir waren einmal fähig, die Russen zu schlagen. Das war eine Hoffnung auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Eine andere Quelle der Hoffnung war die katholische Kirche, die einzige Institution, die nicht völlig unter der sowjetischen Staatskontrolle stand. Und so interpretierten wir den Posener Aufstand von 1956 und die Studentenrevolte 1968 gegen die kommunistische Macht in Polen, dann besonders 1980 die Soliarnosc-Bewegung als antiimperiale und antirussische Aufstände. Es

Sprecherin:

Papst Johannes Paul II wurde zur Leitfigur des Widerstands gegen das kommunistische Regime, das im Sommer 1989 zusammenbrach. Der Warschauer Pakt löste sich auf, Polen konnte sich als demokratisches Land neu erfinden. Statt Lenin-Denkmälern gab es neue Pilsudski-Denkmäler. Und der geschichtspolitische Streit mit den Russen ging weiter. Diese wiesen nämlich, als sie mit den Verbrechen von Katyn konfrontiert wurden, darauf hin, dass die Polen verantwortlich seien für den Tod von tausenden kriegsgefangenen Russen im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919-21, sagt Stephan Lehnstaedt.

OT 16 Lehnstaedt, ca 10.00ff:

Interessant ist, dass diese Propaganda schlacht immer weiter geht, und wenn man auf den polnisch-sowjetischen Krieg 1921 schaut, haben wir polnische Kriegsgefangenenlager für gefangene Rotarmisten, und da gibt es den Streit darüber, wie viele gestorben sind, und die sowjetische und bis heute russische Forschung beharrt ja darauf, das waren genauso viele wie in Katyn ermordet wurden, das ist das polnische Katyn, da haben die unsere armen Soldaten so misshandelt.

Sprecherin:

Konsequenterweise fanden die polnischen Unabhängigkeitsfeiern 2018-`21 ohne russische Beteiligung statt.

MUSIK Freedom of expression (LC-00903) 0‘35

Sprecher:

Dann kam der russische Krieg gegen die Ukraine, und die Polen nahmen zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge auf. Die Solidarität mit dem Nachbarland war nicht unbedingt selbstverständlich, denn die Polen hatten auch einen geschichtspolitischen Streit mit der Ukraine. Dieser drehte sich um die Besetzung ukrainischer Gebiete durch Polen im ukrainisch-polnischen Krieg 1920 sowie um die Massaker von Ukrainern an Polen in Wolhynien 1943.

OT 17 Lehnstaedt:

Diese ganzen Konflikte gibt es, aber gleichzeitig ist man jederzeit bereit zu sagen, Russland ist der viel größere Feind, Russland ist der gemeinsame Feind, da müssen wir zusammenstehen, da müssen wir selbstverständlich Waffen liefern.

Sprecher:

Der russische Krieg hat die Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Ukrainern gefördert. Als Ausdruck der Annäherung kann man die Gedenkzeremonie für die Opfer der Wolhynien-Massaker ansehen, die Präsident Wolodymir Selenski und der polnische Staatspräsident Andrzej Duda im Juli 2023 gemeinsam besuchten. Die Grenzen zwischen beiden Ländern stellt niemand mehr in Frage. Prorussische Demonstrationen wie in Deutschland gab es in Polen nicht.

MUSIK curios question (Z8035149105) 0‘35

Sprecherin

Aus der leidvollen historischen Erfahrung hat Polen gelernt, dass es seine Unabhängigkeit gegen ein imperialistisches Russland auch militärisch verteidigen muss. So gibt das Land prozentual zu seinem Bruttoinlandsprodukt mehr Geld für seine Rüstung aus als Deutschland. Der Ukrainekrieg hat Polen in seiner antirussischen Haltung bestätigt.

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Polens Kampf um nationale Souveränität wurde über die Jahrhunderte vor allem gegen das russische Imperium geführt. Traumatische Erfahrungen der Polen mit dem imperialen Nachbarn haben sich durch den russischen Krieg gegen die Ukraine erneut ins Bewusstsein gerufen. Autor: Jochen Rack

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Stephan Lehnstaedt, Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919-20 und die Entstehung des modernen Osteuropa, Beck 2022.

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MUSIK The boss (Z8033402103) 0’46

OT 01: Atmo Protest gegen den Besuch des russischen Botschafters am Militärfriedhof Warschau

Sprecher:

9. Mai 2023: Der russische Botschafter in Polen Sergej Andrejew will den sowjetischen Militärfriedhof in Warschau besuchen, um einen Kranz für die im Zweiten Weltkrieg gefallene Rotarmisten niederzulegen. Doch eine Menge wütender Demonstranten hält ihn auf. Um das Gelände des Ehrenmals haben sie die Kulissen zerbombter ukrainischer Wohnhäuser aufgestellt und auf die Grabstellen der Soldaten der Roten Armee ukrainische Fähnchen und Kreuze gesteckt. Sie tragen die Namen ukrainischer Zivilisten, die durch russische Luftangriffe getötet wurden.

OT 01

Sprecher:

„Raschisti, Raschisti“ skandieren die Demonstranten und nehmen damit den Neologismus auf, den die Ukrainer für die russischen Invasoren geprägt haben: die Wortverbindung von Russen und Faschisten.

Sprecherin

Aber nicht erst seit Putin seinen brutalen Feldzug gegen die Ukraine begonnen hat, ist das Verhältnis der Polen zu Russland von Feindschaft, wenn nicht Erbfeindschaft geprägt. Über die Jahrhunderte wurde es von dem imperialen Nachbarn als Beute betrachtet, zeitweise annektiert, mit Deutschland und Österreich geteilt, dem zaristischen Imperium, dann dem Sowjetreich einverleibt. Erst 1989 ermöglichte der Untergang der Sowjetunion die Wiedergeburt eines freiheitlichen demokratischen Polens, das heute Mitglied der EU und der NATO ist.

MUSIK Jour de Pluie (Z8028908112) 0‘20

Sprecher

Vergessen wird im Westen freilich oft, dass Polen in Mittelalter und Barock eine europäische Großmacht und Gegenspieler Russlands war. Mit der Union von Lublin nämlich waren das litauische Großfürstentum und das polnische Königreich 1569 zu einer gemeinsamen Adelsrepublik verschmolzen, der sog. Rzeczpospolita. Das polnisch-litauische Commonwealth erstreckte sich bis ins 18. Jahrhundert weit nach Osten, umfasste Teile der heutigen Ukraine, von Belarus und Russland. Anfang des 17. Jahrhunderts hatten polnisch-litauische Truppen sogar für zwei Jahre Moskau besetzt, erklärt der Osteuropahistoriker Stephan Lehnstaedt:

OT 2 Lehnstaedt:

1611 stehen polnische Truppen im Kreml in Moskau, aber schon Ende des 17. Jahrhundert sieht man ganz deutlich, dass sich dieses Kräfteverhältnis umkehrt. Polen verliert immer mehr Grund, muss ihn abgeben an Moskau, und spätestens mit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert, 1795 verschwindet Polen von der europäischen Landkarte, ist klar, dass Russland der Erbfeind ist.

Sprecher:

Am 4. November 1612 hatten die Russen die Polen aus Moskau wieder vertrieben – 2005 führte Putin das Datum 4. November als Feiertag der Nationalen Einheit ein - Teil seiner imperialistischen Erinnerungspolitik, die an den Expansionismus des Zarenreichs anknüpft.

MUSIK Gutenberg Galaxy (C1165540001) 0‘30

Sprecherin

Dieses hatte sich bis zum 18. Jahrhundert immer weiter nach Westen ausgedehnt. Peter der Große eroberte Anfang des 18. Jahrhunderts im Krieg gegen Schweden das heutige Estland, schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gliederte sich Russland den Ostteil der heutigen Ukraine an, dessen kosakische Hetmanate bis dahin von Polen beherrscht worden waren. So war Polen-Litauen von Norden wie Osten her von den Russen bedroht. Unter der Herrschaft von Katharina II. kam es Ende des 18. Jahrhunderts zu den drei polnischen Teilungen, 1772, 1793 und 95. Österreich annektierte Galizien, Preußen die Gebiete um Posen, Russland die westliche Ukraine und den größten Teil Polens - insgesamt 82 Prozent des polnischen Territoriums, berechnet der Krakauer Historiker Andrzej Nowak.

OT 3 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Katharina II. berief sich auf das Konzept der russischen Welt, das Putin heute wiederbelebt hat. Demnach gehört jeder, der die slawische Sprache spricht, zu Russland. Das war die ideologische Rechtfertigung. Wichtiger war die geopolitische Dimension: Wenn Russland eine europäische Macht sein wollte, brauchte es den Zugang zu Zentraleuropa, diese Achse führt durch Polen. Und es gab noch einen dritten Grund für die Teilung, nämlich dass Katharina Polen mit revolutionärer Freiheit identifizierte. Als die Polen sich gegen die Russen wehrten 1793/94 - kam es zu dem berühmten Aufstand unter Tadeusz Kosciuszko -, wurde das von Russland als jakobinische Revolution verstanden. Katharina benutzte das Argument gegen Polen: Wir wollten Ordnung, und die Polen stehen für revolutionäre Anarchie.

Sprecher:

Nur kurz erschien unter Napoleon das Großfürstentum Warschau als Rumpfpolen wieder auf der Landkarte, aber nach dessen Niederlage gegen Russland 1812 wurde es aufgelöst und im Wiener Kongress als sogenanntes Kongresspolen mit dem Kaiserreich Russland verbunden. Russlands Versuch, dieses konstitutionell verfasste Polen, das ein eigenes Parlament, den Sejm, und garantierte Rechte hatte, mit der zaristischen Autokratie in Übereinstimmung zu bringen, scheiterte. Das polnische Parlament kritisierte die Einschränkung von Freiheitsrechten und die Pressezensur, im November 1830 kam es zum Aufstand gegen Russland, Zar Nikolaj I. wurde für abgesetzt erklärt und schickte Truppen, die die polnische Armee 1831 besiegten. Der verhängte Kriegszustand dauerte 25 Jahre. Um die polnische Freiheitsbewegung dauerhaft zu unterdrücken, betrieben die Zaren eine Politik der Russifizierung, sagt Andrzej Nowak.

OT 4 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Die Sprache der höheren Erziehung war polnisch. Das hat man im östlichen Teil Polens schon ab 1830 untersagt und die russische Sprache als Bildungssprache vorgeschrieben. Auf dem Gebiet des ehemaligen Kongresspolens um Warschau herum wurde die Russifizierung sehr schnell nach dem zweiten Aufstand 1863 institutionalisiert. Das bedeutete: keine höhere Bildung in Polen, keine Universitäten, Restriktionen für polnischsprachige Gymnasien, Russisch als einzige obligatorische Sprache auf jeder Stufe des Bildungssystems. Das führte dahin, dass Schüler nicht einmal in den Pausen miteinander Polnisch sprechen durften.

MUSIK Open Prayer (C1568800111) 0‘05

OT 5 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Nach jedem missglückten Aufstand gab es schwere Verfolgungen, z.B. wurden nach 1863 40.000 Polen nach Sibirien deportiert. Das führte zu traumatischen Erinnerungen, aber auch zum Bedürfnis nach Rache.

Sprecher:

Polen überlebte die lange Zeit von 123 Jahren der Teilung, indem es sich als Kulturnation definierte, meint der ehemalige Polen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban.

OT 6 Urban:

Den Nationalgedanken haben im 19. Jahrhundert Künstler, Maler, Komponisten, Schriftsteller gepflegt und bewahrt. Ich nenne nur Adam Mickiewicz und Julius Slowacki, die großen Poeten. Ich nenne den Maler Matejko, der große historische Gemälde über die Highlights in der polnischen Geschichte gemalt hat, die jeder Pole kennt.

MUSIK Orchard (Z8024824115) 0‘32

Sprecherin:

Die Gelegenheit zur Neugründung des polnischen Staates nach über einem Jahrhundert der Teilung bot der Erste Weltkrieg. Deutschland besiegte Russland und wurde danach von der Entente besiegt, so entstand ein Machtvakuum im Osten, das die Polen für sich nutzen konnten. Vorbereitet hatten sie ihre Befreiung vom Joch der Fremdherrschaft schon in den Jahren davor.

Sprecher

Der Held der polnischen Freiheitsbewegung hieß Josef Pilsudski. Im Jahr 1887 wurde er von der russischen Polizei verhaftet, weil er sich an der Planung eines Attentats auf Zar Alexander III. beteiligt hatte. Nach fünf Jahren in der sibirischen Verbannung kehrte er ins russische Polen zurück, gründete die Polnische Sozialistische Partei und stellte paramilitärische Verbände auf, die in einem Guerillakrieg gegen die Russen kämpften. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches und der Oktoberrevolution in Russland 1917 konnte Pilsudski die polnischen Legionen, die auf Seiten der Österreicher gegen die Russen gekämpft hatten, zu einer Armee formen. Im polnisch-sowjetischen Krieg 1919-21 eroberten seine Truppen Teile des heutigen Litauens und Teile von Belarus, besetzten Minsk und Vilnius und rückten bis Kiew vor, wurden aber von der Roten Armee im August 1920 bis vor Warschau zurückgedrängt. Stephan Lehnstaedt, der ein Buch über den polnisch-sowjetischen Krieg geschrieben hat, skizziert, wie es dann zum so genannten „Wunder an der Weichsel“ kam, dem Sieg der Truppen Pilsudskis über die Rote Armee:

OT 7 Lehnstaedt:

Im polnisch-sowjetischen Krieg ist Pilsudski der Oberkommandierende. Seine Leistung besteht darin, dass er diesen Sieg herbeiführt. Er führt ihn herbei, indem er im entscheidenden Augenblick vor Warschau auf eine Gegenoffensive setzt, als ihm seine ausländischen Militärberater raten: Eingraben, Verbarrikadieren, Abwarten, Durchhalten. Aber Pilsudski hat verstanden, dass dieser Krieg nicht mehr der Schützengrabenkrieg der Westfront ist, sondern anders geführt wird und da schafft er es, den entscheidenden Gegenstoß durchzuführen. Und das wiederum ermöglicht das Überleben des polnischen Staates.

MUSIK Celestia mechanics (C1165540014) 0‘10

Sprecherin:

Im unabhängig gewordenen Polen begann die Entrussifizierung

OT 8 Urban

Straßennamen, Behördennamen, Schulnamen, kyrillische Inschriften wurden entfernt, es war ja die Pflicht, im polnischen Teilungsgebiet, alles müsse zweisprachig sein, Geschäfte, Fahrpläne usw. Das wurde alles abgeschafft, das wurde polnisch. Im Bildungssystem natürlich, es gab dann neue Schulbücher, es kamen polnische Klassiker auf die Theaterbühnen, es wurde alles polonisiert.

Sprecher:

Während Polen zur Republik wurde, entwickelte sich im Nachbarland Sowjetunion die stalinistische Diktatur. 140.000 Sowjetbürger polnischer Abstammung wurden in die Gulag-Lager deportiert oder erschossen. Die Sowjets fürchteten die Destabilisierung ihres Herrschaftssystems durch ein freies Polen und bereiteten mit Hilfe von Hitler-Deutschland eine erneute Annexion des Landes vor.

MUSIK shock scenes (NC015960006) 0‘17

Sprecherin

Der 23. August 1939, das Datum des Hitler-Stalin-Paktes bzw. Ribbentrop-Molotow-Paktes ist in Polen unvergessen und heute ein Tag nationaler Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 mit dem Überfall Deutschlands auf Polen. Nachdem die Wehrmacht die polnische Armee schnell geschlagen hatte, rückten die deutschen Truppen bis zur sog. Curzon-Linie vor, die durch den Fluss Bug gebildet wird. Die Sowjets besetzten die Gebiete östlich davon und begannen sogleich mit der Verhaftung und Ermordung der intellektuellen Elite des Landes. „Mehr als 420.000 polnische Bürger“, schreibt Irina Scherbakowa von der NGO „Memorial“, „wurden in den folgenden eineinhalb Jahren nach Sibirien und Kasachstan deportiert.“ Zum Symbol des stalinistischen Terrors wurde die Erschießung von 20.000 polnischen Offizieren im Frühjahr 1940 in Katyn und anderen Orten. Thomas Urban hat über dieses Verbrechen ein Buch geschrieben:

OT 9 Urban:

Katyn ist sozusagen der Begriff, in dem sich alle polnischen Gefühle, was die Sowjetunion und Russland angehen, fokussieren. Warum Katyn dieses Gewicht hat? Es wurde geleugnet von der sowjetischen Seite, es wurde den Deutschen zugeschrieben.

Sprecherin:

Die Deutschen hatten bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion Katyn erobert und erste Exhumierungen an den Massengräbern durchgeführt, Goebbels nutzte die Geschichte für antibolschewistische Propaganda. In einem 1943 veröffentlichten Dokumentarfilm werden Bilder des Waldes von Katyn gezeigt: Arbeiter bergen Leichen aus Sandgruben, der Kommentar nennt die Zahl von 12000 polnischen Offizieren, die durch Genickschüsse zu Tode kamen. In der polnischen Volksrepublik durfte später, nach dem Krieg, über Katyn nicht gesprochen werden, auch Gorbatschow, der die Wahrheit wusste, leugnete die sowjetische Verantwortung für das Verbrechen. Erst 1991 übergab er Jelzin die geheimen Dokumente über die Erschießung der polnischen Soldaten, die dieser 1992 veröffentlichen ließ.

OT 11 Urban:

Es gab ja dann auch Exhumierungen an fünf anderen Orten, es gab gemeinsame Dokumentationen von Katyn der polnischen und russischen Akademien der Wissenschaften. Und die russische Staatsanwaltschaft hat Untersuchungen eingeleitet und man hat noch ehemalige Offiziere des NKWD ausfindig gemacht und sie wurden befragt. Es kam zu keinem Prozess, weil keinem der Überlebenden die persönliche Beteiligung an den Erschießungen nachgewiesen werden konnte.

MUSIK Critical observation ( LC-00903) 0‘32

Sprecherin:

Die Russen fürchteten Entschädigungsforderungen, und die Polen sahen in Russlands Krieg gegen Tschetschenien einen Beleg dafür, dass die Russen zu friedlicher Konfliktlösung unfähig seien.

Sprecher

Dann zerschellte am 10. April 2010 das Flugzeug, das den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski und eine Delegation von Politikern zu einer Gedenkveranstaltung nach Katyn bringen sollte, beim Anflug auf Smolensk.

OT 12 Urban:

Da gab es dann Versöhnungsgesten und Putin und der damalige Premier Tusk haben sich umarmt. Der damalige Staatspräsident Medwedjew kam zum Staatsbegräbnis für Lech Kaczynski und seine Frau nach Krakau, und paar Tage später bei der Siegesparade zum 65. Jahrestag des Kriegsendes am 9.Mai 2010 war auch eine Abteilung der polnischen Armee, die in der Ehrenformation mitmarschierte, war ein polnisches Kontingent auf dem Roten Platz dabei. Und der polnische amtierende Staatspräsident war auf der Ehrentribüne des Kremls. Aber die Stimmung kippte, als offenkundig war, ein paar Monate später, dass die Russen bei der Untersuchung des Flugzeugabsturzes manipulieren.

Sprecher:

Vermutlich hatten nicht nur die Piloten des polnischen Flugzeuges Fehler gemacht, sondern auch die Verantwortlichen des russischen Flugplatzes. Doch die polnischen Ermittler durften die Fluglotsen nicht befragen, das führte zur Entstehung von Verschwörungstheorien, erklärt der Historiker Stephan Lehnstaedt:

OT 13 Lehnstaedt:

Wenn man Anhänger der PiS ist, ist es sehr wahrscheinlich, dass man sagt, in Smolenks, da haben die Russen unseren Präsidenten Lech Kaczynski ermordet. Man hat jetzt einen doppelten Opfermythos, ein doppeltes Verbrechen gewissermaßen, und es sind immer die bösen Russen.

MUSIK Beauty in motion (LC-00903) ‘55

Sprecherin:

Als Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückkehrte, ließ er von der Webseite des Staatsarchivs die Dokumente löschen, die den Mord von Katyn bezeugten. Die Instrumentalisierung der Geschichte für politische Zwecke setzte sich fort. Der russischen Erzählung, dass die Rote Armee Polen von den Nazis befreit hatte, stand die andere der Polen gegenüber, dass die sowjetischen Truppen tatenlos vom östlichen Ufer der Weichsel zugesehen hatten, als die Deutschen den Warschauer Aufstand im August und September 1944 niederschlugen und die Stadt in Schutt und Asche legten. Und die Erfahrung, dass sich 1945 die Sowjetunion die östlich der Curzonlinie gelegenen Gebiete einverleibt und Polen nach Westen verschoben hatte.

OT 14 Lehnstaedt:

Polen ist ein Land mit unglaublich vielen Binnenvertriebenen, mehr prozentual als in Deutschland nach 1945. Und all diese Vertriebenen haben die doppelt schlechte Erfahrung mit den Sowjets gemacht, einmal 1939-41, dann durch die Vertreibung nochmals, denn die sind ja nicht freiwillig aus Lemberg und Wilna gegangen. sondern weil sie gehen mussten. Und wer war dafür verantwortlich? Die Sowjets.

Sprecher:

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Polen zur Volksrepublik, das heißt auch, zu einem sowjetischen Satellitenstaat geworden. Als Zeichen ihrer Herrschaft hatten die Sowjets in Warschau den hoch aufragenden Kulturpalast errichtet, den die Polen als Schuh bzw. Penis Stalins verspotteten. Ihr Widerstand gegen das kommunistische System speiste sich über die Jahrzehnte bis zur Solidarnosc-Bewegung auch aus der Erinnerung an den Freiheitshelden Josef Pilsudski, sagt Andrzej Nowak:

OT 15 Nowak, Englisch, dt.

OV:

Ab dem Moment, als das totalitäre System unter Stalin in Polen installiert wurde bis zum Tauwetter 1956 bedeuteten die Erinnerungen an Pilsudski: Wir waren einmal fähig, die Russen zu schlagen. Das war eine Hoffnung auf die Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Eine andere Quelle der Hoffnung war die katholische Kirche, die einzige Institution, die nicht völlig unter der sowjetischen Staatskontrolle stand. Und so interpretierten wir den Posener Aufstand von 1956 und die Studentenrevolte 1968 gegen die kommunistische Macht in Polen, dann besonders 1980 die Soliarnosc-Bewegung als antiimperiale und antirussische Aufstände. Es

Sprecherin:

Papst Johannes Paul II wurde zur Leitfigur des Widerstands gegen das kommunistische Regime, das im Sommer 1989 zusammenbrach. Der Warschauer Pakt löste sich auf, Polen konnte sich als demokratisches Land neu erfinden. Statt Lenin-Denkmälern gab es neue Pilsudski-Denkmäler. Und der geschichtspolitische Streit mit den Russen ging weiter. Diese wiesen nämlich, als sie mit den Verbrechen von Katyn konfrontiert wurden, darauf hin, dass die Polen verantwortlich seien für den Tod von tausenden kriegsgefangenen Russen im polnisch-sowjetischen Krieg von 1919-21, sagt Stephan Lehnstaedt.

OT 16 Lehnstaedt, ca 10.00ff:

Interessant ist, dass diese Propaganda schlacht immer weiter geht, und wenn man auf den polnisch-sowjetischen Krieg 1921 schaut, haben wir polnische Kriegsgefangenenlager für gefangene Rotarmisten, und da gibt es den Streit darüber, wie viele gestorben sind, und die sowjetische und bis heute russische Forschung beharrt ja darauf, das waren genauso viele wie in Katyn ermordet wurden, das ist das polnische Katyn, da haben die unsere armen Soldaten so misshandelt.

Sprecherin:

Konsequenterweise fanden die polnischen Unabhängigkeitsfeiern 2018-`21 ohne russische Beteiligung statt.

MUSIK Freedom of expression (LC-00903) 0‘35

Sprecher:

Dann kam der russische Krieg gegen die Ukraine, und die Polen nahmen zwei Millionen ukrainische Flüchtlinge auf. Die Solidarität mit dem Nachbarland war nicht unbedingt selbstverständlich, denn die Polen hatten auch einen geschichtspolitischen Streit mit der Ukraine. Dieser drehte sich um die Besetzung ukrainischer Gebiete durch Polen im ukrainisch-polnischen Krieg 1920 sowie um die Massaker von Ukrainern an Polen in Wolhynien 1943.

OT 17 Lehnstaedt:

Diese ganzen Konflikte gibt es, aber gleichzeitig ist man jederzeit bereit zu sagen, Russland ist der viel größere Feind, Russland ist der gemeinsame Feind, da müssen wir zusammenstehen, da müssen wir selbstverständlich Waffen liefern.

Sprecher:

Der russische Krieg hat die Verständigung und Versöhnung zwischen Polen und Ukrainern gefördert. Als Ausdruck der Annäherung kann man die Gedenkzeremonie für die Opfer der Wolhynien-Massaker ansehen, die Präsident Wolodymir Selenski und der polnische Staatspräsident Andrzej Duda im Juli 2023 gemeinsam besuchten. Die Grenzen zwischen beiden Ländern stellt niemand mehr in Frage. Prorussische Demonstrationen wie in Deutschland gab es in Polen nicht.

MUSIK curios question (Z8035149105) 0‘35

Sprecherin

Aus der leidvollen historischen Erfahrung hat Polen gelernt, dass es seine Unabhängigkeit gegen ein imperialistisches Russland auch militärisch verteidigen muss. So gibt das Land prozentual zu seinem Bruttoinlandsprodukt mehr Geld für seine Rüstung aus als Deutschland. Der Ukrainekrieg hat Polen in seiner antirussischen Haltung bestätigt.

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