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GESPONSERT
Squid Game is back, and so is Player 456. In the gripping Season 2 premiere, Player 456 returns with a vengeance, leading a covert manhunt for the Recruiter. Hosts Phil Yu and Kiera Please dive into Gi-hun’s transformation from victim to vigilante, the Recruiter’s twisted philosophy on fairness, and the dark experiments that continue to haunt the Squid Game. Plus, we touch on the new characters, the enduring trauma of old ones, and Phil and Kiera go head-to-head in a game of Ddakjji. Finally, our resident mortician, Lauren Bowser is back to drop more truth bombs on all things death. SPOILER ALERT! Make sure you watch Squid Game Season 2 Episode 1 before listening on. Let the new games begin! IG - @SquidGameNetflix X (f.k.a. Twitter) - @SquidGame Check out more from Phil Yu @angryasianman , Kiera Please @kieraplease and Lauren Bowser @thebitchinmortician on IG Listen to more from Netflix Podcasts . Squid Game: The Official Podcast is produced by Netflix and The Mash-Up Americans.…
Was liest Kamala Harris?
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Buchempfehlungen von Politprominenz sind meistens dreierlei: Fast immer geht es um Imagepflege, nicht selten um die Darstellung intellektueller oder politischer Positionen und oft auch um echte persönliche Interessen. Bei Kamala Harris treffen alle drei Aspekte zusammen. Und seit Präsident Joe Biden sie als demokratische Präsidentschaftskandidatin ins Spiel gebracht hat, ist das Interesse an ihren bevorzugten Lektüren umso größer. Da kommt das „Börsenblatt des Deutschen Buchhandels“ gerade recht, indem es uns verrät, was die Hoffnungsgestalt aller Trump-Gegner gerne liest und weiterempfiehlt. Neu ist das allerdings nicht, denn die fünf Titel, die Kamala Harris als ihre All-Time Favourites bezeichnet, sind seit rund zehn Jahren die gleichen. Was also steht auf dieser Bücherliste? Was lässt sich daraus ablesen?
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Fulminante Einwanderergeschichten
Sofort ins Auge fällt der Roman „Drachenläufer“ des afghanischen Diplomatensohnes Khaled Hosseini, dessen Familie 1980 Asyl in den USA erhielt. Der Roman handelt vom Niedergang Afghanistans unter den Taliban und von der Emigration in die USA. Er wurde nach der amerikanischen Erstausgabe 2003 zum Weltbestseller, es folgte die Verfilmung, der Autor gewann Prominentenstatus. Zu den Migranten mit fulminanter Einwanderungskarriere gehört auch die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie. Sie zählt mit ihrem Erzählband „Heimsuchung“ ebenfalls zu den Auserwählten von Kamala Harris. Mit 19 kam die Professorentochter zum Studium in die USA und absolvierte erfolgreiche Abschlüsse an den Ivy-League-Universitäten Princeton und Yale. Gute Voraussetzungen also, um aus feministischer Sicht über Erfahrungen zu schreiben, bei denen sich Identitätsprobleme und postkoloniale Verhältnisse reibungsvoll überlagern.Auch Harris‘ Eltern gehören zur migrantischen Oberklasse
Anders als Donald Trump, der für einen Kapitalismus der ungebremsten persönlichen Bereicherung steht, zeigt Kamala Harris viel Empathie für Zuwanderer und ihre Herkunftsgeschichten. Unverkennbar ist sie aber auch fasziniert von sozialem Aufstieg und Erfolg. Denn der Afghane Hosseini und die Nigerianerin Adichie stehen für die Literatur einer migrantischen Elite. Dasselbe Erfolgsmuster bestätigt auch Amy Tans Roman „Töchter des Himmels“, die dritte Buchempfehlung mit Migrationsthematik. In diesem Fall handelt es sich um die chinesische Variante einer Aufstiegsgeschichte in den USA. Parallelen mit Kamala Harris eigener Biographie sind leicht zu erkennen. Auch ihre Eltern gehören zur migrantischen Oberklasse. Die Tochter machte standesgemäß eine steile Karriere als Juristin und Politikerin.Rassismus, Polizeigewalt und Justizwillkür
Das andere große Thema der Reading List von Kamala Harris ist der Rassismus gegenüber Afroamerikanern. Dazu nennt sie zwei Bücher: Zum einen den afroamerikanischen Klassiker „Sohn dieses Landes“ von Richard Wright aus dem Jahr 1940 über den unaufhaltsamen Weg eines jungen Schwarzen vom armseligen Ghetto-Alltag bis hin zum elektrischen Stuhl. Wie ein aktueller Kommentar dazu liest sich die fünfte Empfehlung: Das ist ein Erfahrungsbericht des Strafverteidigers und Bürgerrechtlers Bryan Stevenson, der sich unter dem Titel „Ohne Gnade“ mit „Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ auseinandersetzt. Diese Empfehlung könnte bedeuten, dass eine Präsidentin Kamala Harris der Verbesserung eines ethnisch ungerechten Justizsystems besondere Aufmerksamkeit widmen möchte.Mehr menschliche Anteilnahme im Weißen Haus?
Kamala Harris setzt mit ihren Buchfavoriten starke Signale. Dazu gehört auch dieses: Alle fünf der genannten Bücher stammen von People of Colour. Weiße Literatur kommt nicht vor, die Liste all dessen, was Kamala Harris bei ihren Lektüren ignoriert, wäre lang. Das könnte zu einem Problem werden. Denn die schwierigen Wählergruppen der Modernisierungsverlierer, gleich ob schwarz oder weiß, werden sich in diesen Lektüreempfehlungen kaum wiedererkennen. Trotzdem verraten die literarischen Vorlieben von Kamala Harris einen großen Sinn für menschliche Anteilnahme. Und der wäre im Weißen Haus auf jeden Fall gut zu gebrauchen.971 Episoden
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Buchempfehlungen von Politprominenz sind meistens dreierlei: Fast immer geht es um Imagepflege, nicht selten um die Darstellung intellektueller oder politischer Positionen und oft auch um echte persönliche Interessen. Bei Kamala Harris treffen alle drei Aspekte zusammen. Und seit Präsident Joe Biden sie als demokratische Präsidentschaftskandidatin ins Spiel gebracht hat, ist das Interesse an ihren bevorzugten Lektüren umso größer. Da kommt das „Börsenblatt des Deutschen Buchhandels“ gerade recht, indem es uns verrät, was die Hoffnungsgestalt aller Trump-Gegner gerne liest und weiterempfiehlt. Neu ist das allerdings nicht, denn die fünf Titel, die Kamala Harris als ihre All-Time Favourites bezeichnet, sind seit rund zehn Jahren die gleichen. Was also steht auf dieser Bücherliste? Was lässt sich daraus ablesen?
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Fulminante Einwanderergeschichten
Sofort ins Auge fällt der Roman „Drachenläufer“ des afghanischen Diplomatensohnes Khaled Hosseini, dessen Familie 1980 Asyl in den USA erhielt. Der Roman handelt vom Niedergang Afghanistans unter den Taliban und von der Emigration in die USA. Er wurde nach der amerikanischen Erstausgabe 2003 zum Weltbestseller, es folgte die Verfilmung, der Autor gewann Prominentenstatus. Zu den Migranten mit fulminanter Einwanderungskarriere gehört auch die Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie. Sie zählt mit ihrem Erzählband „Heimsuchung“ ebenfalls zu den Auserwählten von Kamala Harris. Mit 19 kam die Professorentochter zum Studium in die USA und absolvierte erfolgreiche Abschlüsse an den Ivy-League-Universitäten Princeton und Yale. Gute Voraussetzungen also, um aus feministischer Sicht über Erfahrungen zu schreiben, bei denen sich Identitätsprobleme und postkoloniale Verhältnisse reibungsvoll überlagern.Auch Harris‘ Eltern gehören zur migrantischen Oberklasse
Anders als Donald Trump, der für einen Kapitalismus der ungebremsten persönlichen Bereicherung steht, zeigt Kamala Harris viel Empathie für Zuwanderer und ihre Herkunftsgeschichten. Unverkennbar ist sie aber auch fasziniert von sozialem Aufstieg und Erfolg. Denn der Afghane Hosseini und die Nigerianerin Adichie stehen für die Literatur einer migrantischen Elite. Dasselbe Erfolgsmuster bestätigt auch Amy Tans Roman „Töchter des Himmels“, die dritte Buchempfehlung mit Migrationsthematik. In diesem Fall handelt es sich um die chinesische Variante einer Aufstiegsgeschichte in den USA. Parallelen mit Kamala Harris eigener Biographie sind leicht zu erkennen. Auch ihre Eltern gehören zur migrantischen Oberklasse. Die Tochter machte standesgemäß eine steile Karriere als Juristin und Politikerin.Rassismus, Polizeigewalt und Justizwillkür
Das andere große Thema der Reading List von Kamala Harris ist der Rassismus gegenüber Afroamerikanern. Dazu nennt sie zwei Bücher: Zum einen den afroamerikanischen Klassiker „Sohn dieses Landes“ von Richard Wright aus dem Jahr 1940 über den unaufhaltsamen Weg eines jungen Schwarzen vom armseligen Ghetto-Alltag bis hin zum elektrischen Stuhl. Wie ein aktueller Kommentar dazu liest sich die fünfte Empfehlung: Das ist ein Erfahrungsbericht des Strafverteidigers und Bürgerrechtlers Bryan Stevenson, der sich unter dem Titel „Ohne Gnade“ mit „Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ auseinandersetzt. Diese Empfehlung könnte bedeuten, dass eine Präsidentin Kamala Harris der Verbesserung eines ethnisch ungerechten Justizsystems besondere Aufmerksamkeit widmen möchte.Mehr menschliche Anteilnahme im Weißen Haus?
Kamala Harris setzt mit ihren Buchfavoriten starke Signale. Dazu gehört auch dieses: Alle fünf der genannten Bücher stammen von People of Colour. Weiße Literatur kommt nicht vor, die Liste all dessen, was Kamala Harris bei ihren Lektüren ignoriert, wäre lang. Das könnte zu einem Problem werden. Denn die schwierigen Wählergruppen der Modernisierungsverlierer, gleich ob schwarz oder weiß, werden sich in diesen Lektüreempfehlungen kaum wiedererkennen. Trotzdem verraten die literarischen Vorlieben von Kamala Harris einen großen Sinn für menschliche Anteilnahme. Und der wäre im Weißen Haus auf jeden Fall gut zu gebrauchen.971 Episoden
Alle Folgen
×Im August 1939 begibt sich der Autor Witold Gombrowicz auf einem Transatlantikliner auf die Reise nach Buenos Aires. Die Rückfahrkarte, ausgestellt auf den 1. September, lässt er allerdings verfallen. An diesem Tag begann bekanntlich der Zweite Weltkrieg mit dem Angriff Nazideutschlands auf Polen. Gombrowicz bleibt für die nächsten 24 Jahre in Argentinien. Mit dieser autobiographischen Episode beginnt sein dritter Roman „Trans-Atlantik“, 1953 im Original und 1963 auch auf Deutsch erschienen. Der Roman „Ferdydurke“ aus dem Jahr 1938 hatte Gombrowicz bekannt gemacht, ein „Geniestreich“, wie der Übersetzer und Herausgeber Rolf Fieguth schreibt, aber eben kein einmaliger. Denn mit „Trans-Atlantik“, hochliterarisch wie der Vorgänger, habe er seinen Ruhm in der polnischen Literatur endgültig gefestigt. Rolf Fieguth: „Schlüsselroman, skandalisierende Satire, moral-humoristischer Traktat, doch zugleich und vor allem ist es das unbedingtere und auch geschlossenere Sprachkunstwerk, in welchem die artistische Fantasie, der Rausch, der Traum und die Schönheitssehnsucht inmitten aller Ekelhaftigkeit triumphieren.“ Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen Aber wie es mit solch epochemachenden, dem Realismus nicht zugeneigten Werken zuweilen ist: Sie müssen ihren Weg auch zu nachgeborenen Lesern finden. Mit der Wiederveröffentlichung der 37 Jahre alten Hanser-Ausgabe im Kampa Verlag ist ein erster Schritt getan. Allerdings sollte man nicht erwarten, dass es einem der Text selbst ganz einfach macht, denn was Fieguth als hochliterarisch bezeichnet, deutet schon hin auf den Anspielungsreichtum, die sprachspielerische Lust, das Balancieren auf verschiedenen Bedeutungsebenen. Die angesprochene moralisch-humoristische Dimension aber lässt sich leicht erkennen. Als der Titelheld, der den Namen des Autors trägt, in seinem Exil in Geldnöte gerät und seine polnischen Landsleute inklusive Minister anpumpt, ist das nicht ohne bitterernsten Witz. Gut gut, hier hast du 70 Pesos, (…).« Ich sehe also, dass er mich mit Geld abspeist; und nicht einfach mit Geld, sondern mit Kleingeld! Nach einer so schweren Beleidigung steigt mir das Blut in den Kopf, ich sage aber nichts. Ich sage erst: »Ich sehe, ich muss dem Hochwohlgeborenen Herrn sehr klein sein, denn Ihr speist mich auch mit Kleingeld ab, und sicher zählt Ihr mich unter die Zehntausend Literaten; aber ich bin nicht nur Literat, sondern auch Gombrowicz! Er fragt: »Was für ein Gombrowicz?« Ich spreche: »Gombrowicz, Gombrowicz.« Er rollt das Auge und spricht: »Wohlan, wenn du Gombrowicz bist, so hast du hier 80 Pesos (…).“ Quelle: Witold Gombrowicz – Trans-Atlantik Schelmische Naivität Das Spiel mit Paradoxien, Übertreibungen, Wiederholungen, Absurditäten und den umgangssprachlichen Plauderton, der diesen Roman prägt, kann man hier schon bemerken. Damit sollen einerseits der Gestus des mündlichen Erzählens, andererseits die primitivistischen Sprachdeformationen der historischen Avantgarden nachvollzogen werden. Auch der Rückgriff auf vormoderne Erzählungen wie den „Simplicissimus“ liegt Gombrowicz nicht fern. Das hat freilich einen höheren Zweck: Mit einer schelmischen, demaskierenden Naivität schlägt sich sein Held nicht nur mit seinen polnischen Landsleuten, sondern auch dem polnischen Nationalstolz herum, der hier satirisch verunstaltet wird. Wie Gombrowicz in einem der zahlreichen Vorworte zu seinem Buch schreibt, stellt er dem gängigen idyllischen Menschenbild sein eigenes gegenüber: Die Welt sei geprägt von Fiktion und Lüge. Von Wahrhaftigkeit keine Spur. Stattdessen sind wir konfrontiert mit der Leere des Menschen – das Wort „leer“ fällt häufig in diesem Roman. Sie steht der Tiefe entgegen, die man dem menschlichen Wesen gerne zubilligen würde. Tragisch und albern ist er stattdessen. Zum bösen Scherz oder heiteren Ernst des Buches gehört dementsprechend sein Schluss: „Da wummt das Lachen!“, heißt es auf der letzten Seite. Mit befreiendem, wummerndem Lachen endet dieser Roman einer Katastrophe, der den Autor Witold Gombrowicz auf die weltliterarische Landkarte gesetzt hat.…
Was rettet uns in Zeiten, in denen uns eine geliebte Person abhandenkommt? Wo finden unsere Gefühle und Gedanken Resonanz? Wie finden wir in unserem eigenen Leben Halt und wohin können wir unsere Energie richten, wenn jemand plötzlich fehlt? Das sind im Grunde die Ausgangsfragen, die Sarah Sands in ihrem Igel-Tagebuch erörtert. Explizit widmet sie ihr Werk ihrem Vater und „allen, die Igel lieben“. »Komme ich wieder nach Hause?«, fragte mein Vater. Ich hatte keine klaren Antworten, keine Versprechungen. Wir unterhielten uns über den Frühling, als Metapher für Hoffnung. Und um das ehrliche Schweigen zu füllen, erzählte ich von Peggys erstaunlicher Genesung. (…) Manchmal ist es einfach leichter, über Igel zu reden. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Wie Mensch und Tier mit den Kräften haushalten. Des alten Vaters Herz ist so schwach, dass er nicht mehr den Tätigkeiten nachgehen kann und möchte, die er liebt, nicht in der Natur sein und nicht mehr lesen, und schließlich palliativ in einem Pflegeheim liegt. Quasi gleichzeitig findet die Autorin in ihrem Garten einen sehr schwachen Igel. Angesichts der Befürchtung, der Igel könnte schnell wegsterben, taufen die Erzählerin und ihr Mann ihn mit dem sprechenden Namen Horace. Sie bringen ihn auf eine Igelpflegestation, wo sich herausstellt, dass der Igel weiblich und also besser eine Peggy ist. Es geht also ums Überleben. Vom Vater und Peggy. Mit den eigenen Kräften haushalten: Damit kennt sich der Igel aus, in seinem Bett aus Blättern und voller Insekten. (…) Der Igel rollt sich zusammen, und sein Herzschlag verlangsamt sich. Seine Körpertemperatur fällt von 34 °C auf 2 °C, und er atmet kaum noch. Er fühlt sich kalt an. Ich weiß, worauf ich bei meinem Vater achten muss. Sein Puls darf nicht zu schnell hämmern, sein Blutdruck nicht zu stark absinken, (…) jede Anstrengung würde ihn umbringen. So sieht sein Gleichgewicht aus – ganz knapp zu überleben. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Der Trauerprozess Die Eng- und Parallelführung von Igel und Vater gelingt über weite Strecken des Buches gut. Man erspürt im Text die Kraft, die es braucht, um gegen das befürchtete Ende eines Lebens anzuschreiben. Und es zeigt sich, dass Literatur, Natur und Recherche helfen. Man erfährt von nachlassenden Kräften beim Vater, vom Verlust von Möglichkeiten in der Krankheit, von der Grausamkeit, der Endlichkeit ins Auge schauen zu müssen. Und gleichzeitig wird man anhand des Igelfindlings Peggy zu einer igelkundigen Leserin. Das ist wohltuend. Wenn die Erzählung dabei manchmal hin und her mäandert zwischen Literatur über Tod und Igel oder auch mal zu Vogel- und Igelstatistiken während Corona abdriftet, nimmt man das hin. Solange man im Trauerprozess um den Vater bleiben darf, den nur des Igels Rettung erleichtern kann. Leider verliert sich der Text zunehmend in viele Richtungen. Mal landen wir in der britischen Politik, mal bei Nato-Symbolen oder in der Religion, mal bei CO2-Zielen. Dann blättert man und hofft, die Autorin findet den Faden wieder, aber so recht gelingt das erst ganz am Schluss: Wenn ich meinen Vater vor meinem inneren Auge sehe, hält er ein Fernglas hoch. Er nahm die Natur in sich auf, und jetzt nimmt die Natur ihn in sich auf. (…) Ich trauere nicht mehr, sondern beobachte (…) Neben dem Teich ist ein dunkler, rundlicher Umriss zu erkennen. Ein Igel. Für den Augenblick ist mit der Welt alles in Ordnung. Quelle: Sarah Sands – Das Igel-Tagebuch Uff, denkt man da, nochmals geschafft, aber mit der Ordnung der Erzählung hätte es ein Lektor genauer nehmen können.…
Karen Reyes ist wieder da. Ein Mädchen von zehn Jahren, das sein Leben im Jahr 1968 in sein Tagebuch zeichnet. Und zwar im Stil der von ihm heißgeliebten Horror-Comics, mit sich selbst als Werwolf im Mittelpunkt. Was nur zum Teil Karens blühender Fantasie geschuldet ist. Ihre Welt in einem Armenviertel Chicagos ist die der gesellschaftlich Geächteten. Für sie beginnt der Horror vor der Wohnungstür. Dan grinst immer wie verrückt, wenn er mich sieht und will etwas spielen, das er „Monsterspiel“ nennt. Manchmal spiele ich mit ihm, weil es mir leidtut, dass er so ein schweres Leben hat, und ich versuche, nicht sauer zu werden, wenn er oder sein kleiner Bruder oder seine zähnefletschende Oma dummes Zeug reden. Dans Oma: Dan, Junge, du gibst dich doch nicht mit Latinos oder Farbigen ab, oder? Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster Horror und Realität – kaum zu unterscheiden Gewalt und Rassismus im Jahr 1968, gesehen durch die Augen eines Mädchens mit Liebe zu Kunst und Trash - dieser erzählerische Kniff hat die US-amerikanische Zeichnerin Emil Ferris in der Comic-Welt berühmt gemacht. Dass sie in Karens Bildern harten Realismus und quietschbunte Horror-Motive nahtlos ineinander übergehen lässt, wirkt auch in Teil zwei ihrer Graphic Novel „Am liebsten mag ich Monster“ konsequent. Ghouls und andere Menschenfresser, die Karen in ihrem visuellen Tagebuch porträtiert, machen ihr weniger Angst als die Brutalität um sie herum. Und sind für sie weitaus glamouröser als ihr Alltag als Außenseiterin, die entdeckt hat, dass sie Mädchen lieber mag als Jungen. Emil Ferris spinnt die Erzählfäden des ersten Comic-Bandes fort: den der Coming of Age-Geschichte, weil Karen ihre erste zarte Romanze erlebt. Die Familientragödie, weil sich ihr großer Bruder nach dem Tod der Mutter als zunehmend gewalttätig entpuppt. Und den des Krimis, weil sie immer noch den Mord an ihrer Nachbarin Anka aufklären will. So geschickt wie im ersten Teil der Graphic Novel vermag Emil Ferris die Fäden allerdings nicht zu verknüpfen. Zu gewollt wirkt Karens erste Liebe; neu eingeführte Figuren spielen für die Handlung keine Rolle. Zeichnungen zwischen groben Skizzen und fein schraffierten Porträts Trotzdem setzt auch Teil Zwei von „Am liebsten mag ich Monster“ neue Maßstäbe im Medium Comic. Denn Ferris beherrscht ihr Handwerk so souverän, dass sie seine Regeln brechen kann, ohne gekünstelt zu wirken. Sie verweigert sich der leichten Lesbarkeit, von der der Comic lebt und gestaltet jede Seite anders, mal in groben Skizzen, mal so fein schraffiert und detailverliebt wie in einem Kupferstich. Sie zeichnet berühmte Gemälde ab und manchmal sogar Karen in sie hinein, während sie im Text dazu Karen mit Hilfe der Kunst über ihr Leben reflektieren lässt. Oder sie lässt Karen Kunst zitieren, um ihre Erlebnisse im Chicago des Jahres 1968 zu schildern. Grant Park war voller Hippies. Es erinnerte mich irgendwie an ein Bild von Georgia O'Keefe. (...) Aber als die Bullen aufkreuzten, verwandelte sich der schöne Tag in ein Gemälde von Leon Golub oder Jackson Pollock. Quelle: Emil Ferris – Am liebsten mag ich Monster Auf der Seite zu sehen: prügelnde Polizisten, wie Golub sie malte, und Farbklekse in Blutrot, wie Pollock sie auf seinen Bildern verspritzte. Mit solchen Anspielungen auf die Realität jenseits des Comics bremst Ferris zwar den Lesefluss, öffnet dabei aber einen Reflexionsraum für das, was Karens Lebenswelt mit der ihrer Stadt und ihres Landes verknüpft. Wie sehr vor allem Gewalt die Geschichte der USA geprägt hat und wie sie bis heute fortwirkt – in Ferris‘ Graphic Novel wird es nachvollziehbar. Bei aller Gesellschaftskritik verliert sie dabei ihre Hauptfigur nicht aus den Augen. Ihre Karen Reyes mag eine ziemlich frühreife Zehnjährige sein. Doch weil sie glaubwürdig zwischen klaren Einsichten über ihr Umfeld und pubertärer Unsicherheit schwankt, folgt man ihr über 400 Seiten gern bei ihrer Entwicklung zur jungen Frau – oder wie sie es vorziehen würde, jungen Werwölfin. Ihre Geschichte macht „Am liebsten mag ich Monster“ trotz seiner Schwächen zu einem Solitär in der Comic-Welt. Ein Werk von Weltrang, wie es nur alle Jubeljahre erscheint.…
Der Soziologieprofessor Andreas Reckwitz hat vor allem die Gesellschaft der westlichen Moderne bis in unsere Tage im Blick. „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ lautet der Titel seiner neuesten Publikation. Die Moderne beginnt bei Reckwitz ganz klassisch mit den 30er- und 40er- Jahren des 19. Jahrhunderts. Gewaltige Technisierungsschübe und naturwissenschaftliche Errungenschaften sind prägend, ebenso das Bürgertum und ein breiter werdender Wohlstand. Fortschritt und stetiges Wachstum versprechen ein zukünftiges Paradies – was allerdings in der Hölle endet, nämlich im Ersten Weltkrieg. Das Fortschrittsnarrativ wie es insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik und Lebensführung verankert worden ist, basiert auf einem einfachen Plot: Erzählt wird die Geschichte eines Prozesses der permanenten Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die Verlusterzählung in der Moderne und die Kunst Natürlich gibt es auch in der frühen Moderne Verlusterzählungen – etwa die Marginalisierung des Landlebens und der Agrarwirtschaft. Doch nach Reckwitz ist die Fortschrittsgläubigkeit bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu bremsen. Das alte Paris – es ist nicht mehr (ach, die Form der Stadt / wandelt sich viel schneller als das Herz des Sterblichen) Quelle: Charles Baudelaire: Le Cygne / Der Schwan Das Gedicht „Der Schwan“ hat Charles Baudelaire in etwa um 1850 verfasst. Mit dem Bau des Boulevard Hausmann verschwindet das alte Paris. Der Dichter formuliert also klar eine existentielle Verlustangst. Andreas Reckwitz bringt zwar einige Beispiele aus der Belletristik und der Kunst, aber er nennt nicht Künstlergruppen, die jenseits allen Fortschrittsglaubens den Verlust in der Moderne klar markiert haben: Die Symbolisten, später dann die Dadaisten und Surrealisten. Die Künstler des Surrealismus versuchten sich sogar an einem Gegenmodell zum rationalen Fortschritt – nämlich indem sie das Unbewusste und den Traumbereich des Menschen erforschten. Verlustverdrängung versus Verlustpotenzierung Von unschätzbarem Wert ist bei Reckwitz die genaue und breitgefächerte Darstellung der Verlusterfahrungen in der Moderne. Dabei kommt es auch zu Formen der Verlustverdrängung: Das so genannte Wirtschaftswunder nach 1945, das bis in die 1970er Jahre reicht. Oder die 1990er Jahre, in denen man mit dem Zerfall kommunistischer Staaten eine Art kapitalistisch organisierten Weltfrieden zu erkennen meinte. Das Fazit von Reckwitz lautet: Im Arrangement der modernen Gesellschaft ergibt sich eine prekäre Balance zwischen Fortschrittsorientierung, Verlustreduktion, Verlustpotenzierung, Verlustvisibilisierung und Verlustbearbeitung. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Und genau diese „prekäre Balance“ von Verlusterkennung und Verlustvergessenheit ist nach Reckwitz entscheidend, um die „Spätmoderne“, also unsere Zeit zu begreifen. Denn die positive Fortschrittserzählung kommt an ein klares Ende. Dass die katastrophische Zukunft eintreten kann, wird im spätmodernen Zeitregime zur neuen Gewissheit. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die vermeintliche Katastrophe und die „Reparatur der Moderne“ Diese negative Gewissheit äußert sich in drei Hauptsegmenten: Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis. Wie aber aus dem Sumpf der Skepsis wieder herauskommen? Andreas Reckwitz bietet drei Szenarien an: Erstens, wir machen weiter so wie bisher – wird schon gut gehen! Zweitens, die Moderne endet in der Katastrophe. Und drittens? Reckwitz nennt es die „Reparatur der Moderne“. Dabei richten wir unser zukunftsorientiertes Tun auf die Reduktion und Vermeidung von Verlusten. Wer allerdings die „Ingenieure“ dieses dritten Wegs sein sollen, sagt Reckwitz nicht. Denn sein Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ sollten alle die lesen, denen die Zukunft etwas wert ist und die nicht in einer Verlustphobie erstarren wollen.…
Die französische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Claudie Hunzinger wurde 1940 im Elsass geboren; im April wird sie also 85 Jahre alt. Seit den 1970er-Jahren publiziert Hunzinger Romane und Erzählungen. Ihren größten Erfolg feierte sie allerdings in ihrem Heimatland erst im Jahr 2022: Der Roman „Ein Hund an meiner Tafel“ wurde nicht nur mit dem „Prix Femina“ ausgezeichnet, einem Literaturpreis, der von einer ausschließlich weiblich besetzten Jury vergeben wird. Das Buch wurde in Frankreich auch zu einem Bestseller. Auf den Hund gekommen Nun ist „Ein Hund an meiner Tafel“ in der Übersetzung von Timea Tankó auch auf Deutsch erschienen. Christoph Schröder hat den Roman gelesen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein altes Paar: Sophie und Grieg. Eines Abends steht eine Hündin vor der Tür ihres Hauses in den Vogesen.…
„Die Spaltung, glaube ich, ist sicher meine Obsession.“ So Thomas Brasch. Und Spaltung bestimmt sein Leben: er gehört nirgends ganz dazu, er ist jüdischer Herkunft, er fliegt früh von der Universität, an der er Journalistik studiert, wegen existentialistischer Anschauungen, er kommt auf die Filmhochschule Potsdam, und landet im Gefängnis, weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag protestiert, er muss als Fräser arbeiten und ist doch immer Dichter. 1976 verlässt er das eine Deutschland, um ins andere überzusiedeln. Wieder also Spaltung. Spaltung im Kleinen und im Großen. Und sein berühmtestes Gedicht handelt von nichts anderem. Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Quelle: Thomas Brasch Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt Alles dreht sich um das Wort „aber“. Ein „aber“ und noch ein „Aber“ und noch ein „Aber“. Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt, wie auch sein Autor nicht. Viele Gedichte von Brasch klingen oft ganz einfach, zugänglich, fast liedhaft, immer auch mit dem Mut zum linken Kitsch, doch seine Reime sind kein ruhiger Hafen, seine lyrischen Texte eher getriebene, kleine poetische Maschinen, die atemlos vorwärtsstreben, ohne zu wissen, wo sie ankommen. Da schreibt einer gehetzt um sein Leben, weil nur durchs Schreiben Erfahrungen vollständig werden können. Was nicht beschrieben ist, ist nicht. Oder anders: ich schreibe, also bin ich. Es hatte ganz simple Gründe, Ehrgeiz und auch das Bedürfnis, Dinge anders auszudrücken, (…) Dinge zu beschreiben, die man nicht leben kann, Dinge nochmals zu erfahren, indem man sie beschreibt als eine Gegenwehr, als ein Bedürfnis, sie nicht zu vergessen, indem man sie nochmals lebt, beschreibbar. Quelle: Thomas Brasch Keine Erzählungen, sondern Montageroman 1977 erschienen Erzählungen unter dem schlagenden Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne.“ Aber sie durften nur im Westen publiziert werden. Sie eröffnen den neuen Band mit gesammelter Prosa, den der Suhrkamp Verlag zum 80. Geburtstag gerade herausgegeben hat. Bei ihrem Erscheinen waren sie eine Sensation, eine knappe, dichte Literatur um rebellische Jugend und erschöpfte Arbeiter, fast grob gefügt, wenn man so will: geschweißt, ohne dass die Nähte verdeckt würden. Brasch selbst nannte seine Prosa darum im Interview gerade nicht Erzählungen, sondern einen Montageroman. Aber gleichzeitig wurde Brasch zu dem, was er nie sein wollte, der Stardissident in Westdeutschland, geliebt von der konservativen Presse. Denn letztlich blieb sein „Meinland“ die DDR, und wenn schon Feind, dann der eigene, und nicht der fremde Feind im „Ausland“ BRD. Gefährdet durch das eigene Leben Irgendwann verlor die Öffentlichkeit das Interesse an ihm. Und er an der Öffentlichkeit? Er schrieb für die Schublade, ohne Kraft zur Ordnung, tausende Seiten über seine Idee fixe, den Mädchenmörder Brunke, die immer noch unveröffentlicht im Nachlass liegen. Was hat ihn an dem interessiert? Das radikale Außenseitertum? Die inszenierten Selbstmorde, die eben doch Morde waren? Oder einfach: Dass dieses Mädchenmörderleben um 1900 ein ganz anderes war, so dass man es nicht hätte auf seine Biographie herunterbrechen können. Also der Brasch hat im Gefängnis gesessen, also muss er gelitten haben, also muss seine Literatur Leidensdruck haben, so eindimensional, und außerdem noch dilettantisch. Quelle: Thomas Brasch Denn das ist die eigentliche Tragik des Künstlers Thomas Brasch. Er war immer gefährdet durch sein eigenes Leben, sein Image: gutaussehend, cool, Frauenheld, Dichter, Filmemacher, Rebell, Dissident. Oder wie er einmal bitter bemerkte: „Biographie war wichtiger als ein Stück, Gedicht oder Film.“ Vielleicht ist sogar etwas Wahres dran: Dass sein Leben den besten Roman schrieb.…
Das literarische Jahr 2025 hat gerade erst begonnen, trotzdem sind wir schon in bedächtiger Gedenkstimmung. Schließlich stehen auch in diesem Jahr einige wichtige Literaturtermine, Gedenktage und Jubiläen an. Wir feiern nicht nur das große Thomas-Mann-Jahr , erinnern uns am 19. Februar zu Thomas Braschs 80. Geburtstag an das Werk des Dichters oder gedenken der Berliner Großstadtlyrikerin Mascha Kaléko an ihrem 50. Todestag ... Nein, wir müssen 2025 einige Daten im Blick behalten. Dabei hilft der Reclam Verlag. Im „lesenswert Magazin" empfiehlt Nina Wolf ein Büchlein, das einen Überblick über alle wichtigen Literaturtermine bietet. Diese Neuerscheinungen erwarten wir Trotzdem lohnt sich nicht nur der Blick zurück, denn auch die Gegenwartsliteratur hat schon im jungen Jahr Bücher zu bieten, die mit höchstem Lob der Kritik bedacht werden. Etwa der neue Roman des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas. „Wackelkontakt“ heißt das Buch , in dem es um den Trauerredner Franz Escher geht, der auf einen Elektriker wartet und dabei ein Buch liest über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo, der im Gefängnis sitzt und sich die Zeit vertreibt, indem er ein Buch liest, das wiederum von Franz Escher handelt, der auf einen Elektriker wartet, weil seine Steckdose in der Küche einen Wackelkontakt hat. Haben wir damit schon einen Anwärter auf die kommenden Literaturpreise? Eine Gelegenheit um zu spekulieren: Welche Themen und welche Bücher erwarten uns in den kommenden Monaten? Science-Fiction von Christian Kracht Die Verlagsprogramme versprechen schon zu Jahresbeginn einige Titel, auf die wir gespannt warten können. Ein Beispiel, so SWR Kultur Literaturredakteurin Nina Wolf, im Gespräch: ein neuer Roman aus der Feder Christian Krachts . „Air" wird er heißen und der Autor geht mit einer Science-Fiction-Geschichte neue Genre-Wege. Neuer Roman der Deutschen Buchpreisträgerin In jedem Jahr bewegen sie auch die Literaturwelt: die Debatten. Ein Buch, das sich literarisch mit Debattenkultur, medialen Diskursen und „den Erregungsdynamiken, die sich, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr steuern lassen" auseinandersetzen will, kommt von der Deutschen Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel . Wieder ein Weltbestseller? Zehn Jahre sind seit Chimamanda Ngozi Adichies Weltbestseller „Americanah" mittlerweile vergangen. Es war der dritte Roman der 1977 in Nigeria geborenen Autorin, die heute in Lagos und in den USA lebt. Adichie gilt als feministische Ikone und es scheint, als würde sie auch in ihrem neuen Roman „Dream Count" ihren vertrauten Themen treu bleiben. Der Roman wird weltweit zeitgleich am 4. März erscheinen. Das Debüt einer Musikerin Sophie Hunger ist Musikerin , die Schweizerin Texte der Schweizerin überzeugen durch ihre lyrische Qualität. Ob auch ihr Debütroman sich durch dieses Können auszeichnet, wird sich zeigen. Angekündigt ist eine tragikomische Coming-Of-Age Geschichte über eine innige Freundschaft.…
Vier Männer und zwei Frauen leben zusammen an einem Ort außerhalb unserer Erde. Trotzdem tun sie erstmal, was die meisten von uns den Tag über tun: Essen, schlafen, arbeiten. Die sechs Astronauten haben feste Routinen, genaue Arbeitspläne und einen streng geregelten Schlaf- und Essensplan. Obwohl diese Abläufe an Alltägliches erinnern, so ist auf der Raumstation im All doch nichts alltäglich. Ein Tag bezeichnet bei uns auf der Erde die Dauer, die der Planet braucht, um einmal um sich selbst zu kreisen. Die Bewohner des Raumschiffs umkreisen die Erde in dieser Zeit rund 16 mal. Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete. Während sie die Erde umrunden, durch Anhäufungen von Licht und Dunkelheit reisen, sich der verwirrenden Arithmetik von Schubkraft und Fluglage, der Geschwindigkeit und den Sensoren hingeben, ertönt alle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Klarkommen in der ungewohnten Sphäre Die Normalität wie wir sie hier auf der Erde kennen, wird also lediglich simuliert – auch, damit Körper und Psyche der sechs Crewmitglieder überhaupt eine Chance haben, in der ungewohnten Sphäre zurecht zu kommen. Nicht nur das Erleben des veränderten Tag-Nacht-Rhythmus, auch die Abwesenheit der Schwerkraft, das ständige Schweben, bewirkt bei den sechs Protagonisten ein vollkommen neues Körpergefühl, mit dem mehr als nur lästige Kopfschmerzen und wiederholte Übelkeit einhergehen. Auch das Denken nimmt neue Formen an und spinnt mitunter spannende Überlegungen. Oft weiß sie nicht, was sie Familie und Freunden zuhause erzählen soll, hat sie festgestellt, die kleinen Dinge sind zu banal, der Rest zu überwältigend, dazwischen scheint es nichts zu geben. (…) Sie denken viel darüber nach, wie es möglich sein kann, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Erzählung verliert sich in ausschweifenden Sinnbildern Wie sich diese spezielle Reise, dieses Leben abseits der Erde anfühlt, das versucht der Roman von Samantha Harvey einzufangen. Er beschreibt die herausfordernden Konditionen für die Crew und befremdende Umstände wie das Wiederaufbereiten von Urin zu Trinkwasser. Es geht um das Leben abseits von Komfort, Heimat und Familie. Allerdings kratzt die Autorin beim Beschreiben der Protagonisten lediglich an der Oberfläche dessen, was diese Menschen tatsächlich ausmacht und die Gedanken des einen könnten genauso auch die eines anderen sein. Hier und dort werden Einblicke in die Lebensgeschichte von Roman oder die Kindheitserinnerungen von Chie gegeben, aber statt nah an die Figuren heranzutreten, verliert sich die Erzählstimme in ausschweifenden Sinnbildern. Ihr Herz und Pietros schlagen als einzige im All, zwischen der Erdatmosphäre und so weit hinter dem Sonnensystem wie man es sich nur vorstellen kann. Ihre beiden Herzschläge eilen friedlich durch den Weltraum, befinden sich nie zwei Mal am selben Ort. Werden nie an denselben Ort zurückkehren. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Redundantes Umschreiben von Landschaft und Eindrücken „Umlaufbahnen“ wurde mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet, die Jury lobte die „Sprache der Lyrik und Schärfe“. Der poetische Klang ist in jedem Fall präsent, die Schärfe beim Erzählen von inneren Zuständen und in den Dialogen zwischen den Figuren, ist dagegen eher selten zu erkennen. Dafür schweift die Autorin zu oft ins Universelle ab. Die menschenlose Klarheit von Land und Meer. Die Art, wie der Planet zu atmen scheint, ein ganz eigenes Lebewesen. Die Perfektion der Welt, ihre gleichgültigen Drehungen im gleichgültigen Raum, die alles Sprachliche transzendieren. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Das Buch setzt ganz auf ein redundantes Umschreiben von Bildern und Zuständen. Dass dabei die Figuren so sehr in den Hintergrund treten, ist schade, denn damit verstärkt sich von Satz zu Satz der Eindruck, den sprachlichen Ambitionen der Autorin folgen zu müssen, statt glaubhaft in das Erleben der sechs Protagonisten einzutauchen.…
1 Literatur für unruhige Zeiten: Mit Büchern von Samantha Harvey, Claudine Hunzinger und einem Ausblick auf das Literaturjahr 2025 54:59
Dieses Mal im lesenwert Magazin: Preisgekrönte Romane aus Frankreich und England, wichtige Neuerscheinungen 2025 und ein History-Thriller als Hörbuch.
Das erste Buch seiner Reihe, „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, bezeichnete Antonio Scurati als „dokumentarischen Roman“: Alles darin, jede Figur, jeder Dialog sei durch Dokumente belegt, schrieb der Schriftsteller in einer Vorbemerkung. Das gilt auch für seine folgenden Mussolini-Romane. Was sie von Geschichtsbüchern definitiv unterscheidet, ist zum einen das gehobene Stilregister von Scuratis Prosa, zum anderen die Kunstfertigkeit des Autors, die psychologische Entwicklung der handelnden Figuren nachzuzeichnen. Er versetzt uns – teils auch durch wortgetreu zitierte Zeitzeugnisse – in deren Gedankenwelt. Protagonisten von Scuratis M-Bücher sind größtenteils Faschisten, denen in „M. Das Buch des Krieges“ sich Nazis hinzugesellen. Erschütternde Zeitzeugnisse Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt sich an das. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner, kurzer Tod, gemessen an den höllischen Qualen von Tausenden und Abertausenden in den Kerkern der GPU. Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen. Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges Ein Auszug aus dem Brief eines Polizeisekretärs aus Wien, der 1941 aus dem Russlandfeldzug an seine Frau schreibt. Es sind nicht die einzigen schaurigen Zeilen im „Buch des Krieges“. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, an dem Italien zunächst als Verbündeter Nazi-Deutschlands teilnahm. Das Buch umspannt den Zeitraum zwischen dem 28. Juni 1940, dem achtzehnten Tag der italienischen Kriegsbeteiligung, und dem 25. Juli 1943 – dem Tag, an dem Benito Mussolini vom Großrat des Faschismus abgesetzt und auf Königsbefehl verhaftet wurde. Denn der Diktator weigerte sich weiterhin, das militärische Debakel zur Kenntnis zu nehmen. Alles nur, um Hitler zu imponieren Dabei war der Krieg für Italien von Anfang an verloren. Militärs und Parteikader – alle wussten, dass Italiens Waffenarsenal heillos veraltet und das Land keineswegs „kriegstüchtig“ war. Aber dem Duce war der Eintritt in den Krieg nicht auszureden gewesen. Anfangs spekulierte er darauf, Deutschland würde den Krieg im Nu gewinnen, und Italien könnte sich mit ein paar Tausend toter Soldaten ein Stück der Kriegsbeute erkaufen. Später trieb sein verändertes Verhältnis zu Hitler Mussolini dazu, suizidale Militäraktionen zu befehlen. War der Duce der Italiener einst des Führers Vorbild gewesen, wurde er durch die militärische Übermacht Deutschlands zu seinem Trabant. Angst vor Blamage und gedemütigter Größenwahn bestimmten demnach sein Handeln. Dass die Italiener ihren deutschen Kameraden ebenbürtig sein und seine Faschisten mit den Nazi-Verbündeten Schritt halten mögen: Das ist an diesem Septemberende Benito Mussolinis höchstes Streben. Doch zu seinem großen Kummer bringen sie es nicht fertig. Deshalb geschieht es immer häufiger, dass die Mitarbeiter des Duce seine anti-italienischen Wutausbrüche ertragen müssen. Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges Italiener als Kanonenfutter Der italienische Waffengang wurde, wie vorgesehen, eine Endlosschleife von Niederlagen und sinnlosen Gemetzeln. Zu Hunderttausenden wurden schlecht ausgerüstete und nicht mal angemessen gekleidete junge Männer in den sicheren Tod geschickt. Eine angekündigte Tragödie. In der Tat ähnelt Antonio Scuratis „M. Buch des Krieges“ einem antiken Trauerspiel: Es beschreibt den Sinkflug eines Herrschers, dessen Hybris ihn und sein Land in den Abgrund stürzt – und mitschuldig werden lässt am größten Blutbad des 20. Jahrhunderts. Mehr als 68 Millionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg.…
Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, das wussten schon die Römer. Warum tun wir es dann aber trotzdem, oft sogar mit größter Leidenschaft? Klar, wir tun es nicht, wenn es um unsere Lieblingsmarmelade geht. Aber bei der Frage nach unserem Lieblingsautor, unserer Lieblingsmusik oder -serie? Da sieht die Sache schon anders aus. Für den Literaturkritiker Johannes Franzen ist das kein Zufall. Denn Urteile in Sachen Ästhetik besitzen ein spezielles Konfliktpotenzial: Bei ihnen geht es um viel mehr als nur um Kunst, es geht immer auch um uns selbst. Schließlich ist das, was wir am liebsten lesen, hören oder anschauen – das, wofür wir Zeit, Geld und Emotionen investiert haben –, Teil unserer Identität. Entsprechend groß sei das Verletzungspotenzial einschlägiger Äußerungen, so Franzen. Wer die Kunst angreift, die wir lieben, der attackiert den Kern dessen, was wir sind. Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten „Trotzrezeption“ Unter dem schönen Titel „Wut und Wertung“ untersucht Johannes Franzen die starken Emotionen, die wir im Umgang mit Kunst entwickeln. Sein spannendes Buch ist voller überraschender Beobachtungen wie die: Es wurde noch nie so viel über Kunst gestritten wie in unserer Zeit. Jedenfalls wenn man, wie Franzen, von einem sehr weiten Kunstbegriff ausgeht, der keinen Unterschied macht zwischen dem, was uns in Museen, im Fernsehen oder im Internet begegnet. Dann sieht man nämlich: Die Reaktionen von Rezipienten, die sich verletzt oder angegriffen fühlen, sind oft erstaunlich ähnlich. Egal ob es um ein Eugen Gomringer-Gedicht an der Fassade einer Berliner Hochschule geht, um Karl Mays Winnetou-Romane oder den umstrittenen Partyschlager „Leyla“. So kommt es regelmäßig zum Phänomen einer „Trotzrezeption“; schließlich will man sich seine Kunst von niemandem wegnehmen lassen. Oder es kommt sogar zu einer „agonalen Rezeption“, bei der man versucht, der Gegenseite seine Kunst quasi aufzuzwingen. Gomringers Gedicht zum Beispiel wurde zwar von besagter Hochschulwand entfernt, von empörten Gomringer-Liebhabern aber nur ein paar Häuser weiter an einer anderen Fassade angebracht. Konflikte über Kunst und Kultur sind eminent politisch – ein ständiger Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte darüber, was gesagt und gezeigt werden darf. Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten Neue Macht des Publikums Warum derartige Konflikte heute immer häufiger auftreten, kann Franzen gut erklären. Es liegt vor allem an der Digitalisierung, die dafür sorgt, dass wir ständig mit den Meinungen und Urteilen anderer oder auch Details aus dem realen Leben von Künstlern konfrontiert werden. Und dass zugleich die Meinung des Publikums eine viel höhere Sichtbarkeit und auch Macht gewonnen hat, gerade im Verhältnis zur professionellen Kritik. Franzen erinnert an den Fall eines Musikrezensenten, der es wagte, die Musik von Taylor Swift einmal nicht in den höchsten Tönen zu loben und prompt einen Shitstorm ihrer Fans erntete, bis hin zu Morddrohungen. Toxisches Beziehungsgeflecht Für Kritiker wie Künstler scheinen derartige Erfahrungen kollektiver Ablehnung inzwischen leider zum normalen Berufsrisiko geworden zu sein. Das größere Problem, so Franzen, seien aber jene Künstler, die den Fans die Freude an den geliebten Werken verderben, und zwar durch das, was sie in ihrem realen Leben angeblich oder auch tatsächlich getan oder geäußert haben. Das betrifft die Musik von Michael Jackson oder Rammstein genauso wie die Filme von Woody Allen oder die Romane J. K. Rowlings. Unterstützt man den Künstler nicht, wenn man weiterhin seine Werke rezipiert? Wie rechtfertigt man sich gegenüber denen, die von einem erwarten, dass man sich von dem betreffenden Künstler von nun an distanziert? Ob so oder so, eines sei in jedem Fall klar, betont Franzen: Wir streiten nur über das, was uns wirklich wichtig ist. Und das ist uns die Kunst heute offenkundig mehr denn je. Wie schön.…
Philadelphia im Jahr 1985: Der 11-jährige Toussaint und seine Mutter Ava sind am Tiefpunkt ihres bisherigen Lebens. Avas Mann hat sie aus dem gemeinsamen Haus geworfen, ohne Freunde und ohne Geld bleibt ihnen nur eine Obdachlosenunterkunft. Eine schäbige Bleibe, voller Kakerlaken, schlechtem Essen, missgünstiger Frauen. Ava weigert sich zwar, sich mit dieser Situation abzufinden. Aber sie ist müde vom steten Überlebenskampf. Diesem Leben von Ava und Toussaint im Norden der USA stellt Ayana Mathis in „Am Flussufer ein Feuer“ in alternierenden Kapiteln den Kampf von Avas Mutter Dutchess in Alabama gegenüber. Sie lebt in dem fiktiven Ort Bonaparte, der historischen Siedlungen wie Freetown nachgebildet ist. Seit Jahrzehnten leben dort Schwarze auf eigenem Land, selbstbestimmt und frei. Und genauso lange wird dieser Ort von Weißen bedroht. Mit Hass und Gewalt. Nun hat es ein von Weißen geführtes Unternehmen auf das Land der Menschen abgesehen. Aber Dutchess ist wie ihre Tochter Ava nicht bereit aufzugeben. Preis der Selbstbestimmung Philadelphia und Alabama, Ava und Dutchess, zwei Orte, zwei Figuren voller Gegensätzlichkeiten und Gemeinsamkeiten im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. Ava ist in Bonaparte aufgewachsen – einer Welt, in der Schwarze frei leben konnten. Im Norden erfährt sie Rassismus und Demütigung, doch der Anspruch, ein Leben zu führen, in dem sie frei sein kann, steckt tief in ihr. Sie ist eine hochinteressante komplexe Figur, die fast in einer eigenen Realität lebt. Sie glaubt, sei eine gute Mutter – tatsächlich ist Toussaint einsam und verloren. Sie hält sich für unpolitisch, Außer dass schon ihre Annahme, dass Schwarze Menschen frei sind und selbstbestimmt handeln, in den USA eine politische Aussage ist. Quelle: Ayana Mathis Hoffnungslosigkeit der 1980er Jahre Avas und Toussaints Leben ändert sich erst, als Ava Toussaints Vater wiedertrifft: den charismatischen Arzt Cass. Einst ein Black Panther, ist er desillusioniert über die politische Gegenwart. Er gründet eine Gruppe namens Arc, die auf Autonomie, Selbstbestimmung und Gewalt setzt. Mich interessiert wie jemand ein politischer Mensch wie Cass, der zielstrebig und hoffnungsvoll war, mit dem Scheitern dieser Bewegungen umgegangen ist. Wir haben so viel getan, viele von uns wurden getötet, eingesperrt. Und im Jahr 1985 gibt es Crack. Es gibt AIDS. Es gibt keine Sozialprogramme. Ronald Reagan ist Präsident. Quelle: Ayana Mathis Aus Utopien Hoffnung schöpfen Ayana Mathis verknüpft ihre historisch-politische Analyse geschickt mit den persönlichen Kämpfen der facettenreichen Figuren. Überall finden sich historische Referenzen – allein Toussaints Name verweist schon auf Toussaint Louverture, den prominentesten Anführer der haitianischen Revolution. Auch setzt sie dem Rassismus, dem Neoliberalismus und den Demütigungen in den 1980er Jahren mit Arc und Bonaparte zwei radikale Utopien entgegen, die auf historischen Vorbildern basieren. Eine Utopie erinnert uns daran, dass es eine andere Möglichkeit gibt: Die Dinge waren nicht immer so, wie es uns erzählt wurden – und sie müssen so auch nicht immer bleiben. Es gibt Alternativen – nicht einfach nur Fantasien oder Träume – sondern Orte, die tatsächlich existiert haben. Egal, wie es mit ihnen ausgegangen ist. Quelle: Ayana Mathis Beide Utopien sind gescheitert. Aber dieser vielschichtige, kluge Roman erinnert daran, dass man den Kampf für eine bessere, eine gerechtere Welt fortführen sollte.…
Nach Cuba und Nicaragua ist Venezuela ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie ein Hoffnungsmodell durch die Egozentrik von Einzelpersonen und die Korruption einer kleinen Machtelite zugrunde gerichtet wird. Zwar sind die Ursachen und äußeren Einwirkungen sehr verschieden, aber Grundmuster und Resultat sind in den drei Fällen die gleichen. Das lässt sich aus der hervorragenden Studie von Tobias Lambert folgern. Er hat sich darin – aus seiner linken Sicht – die Aufgabe gestellt, die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez ohne die üblichen Vorurteile und Scheuklappen ausführlich zu beschreiben. Das heißt, ihn ernst zu nehmen und seine sozialen Leistungen für jenen Teil der Bevölkerung herauszuarbeiten, der von den meisten venezolanischen Regierungen vernachlässigt wurde. Er zeigt jedoch auch dessen Schwächen und Grenzen. Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten. Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente. Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez Eine charismatische Führungsperson Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken. Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde. Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an. Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden. Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez Die Rolle der Opposition Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht. Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen. Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option. Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.…
Der Pappschuber, der normalerweise die Bände der Anderen Bibliothek schützt, ist im Fall meiner Ausgabe von Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ nicht mehr auffindbar. Das spricht dafür, dass ich diesen Band, den 44. der Reihe, tatsächlich gelesen und nicht bloß als bibliophiles Schmuckstück ins Regal gestellt habe. Zudem bin ich ganz sicher, „Die letzte Welt“ irgendwo gebraucht gekauft zu haben, denn 1988, im Erscheinungsjahr, war ich vierzehn Jahre alt und gewiss noch kein Ransmayr-Leser. Auch die Debatte um diesen Roman habe ich erst später nachgelesen: Hat Hans Magnus Enzensberger, der Herausgeber der Anderen Bibliothek, mit Hilfe seiner Beziehungen im Literaturbetrieb einen Autor und sein Buch großgemacht? Oder ist der Österreicher Ransmayr tatsächlich ein Schriftsteller von hohem Rang? Heute wissen wir: Letzteres ist der Fall. Ransmayr ist ein Universum für sich. „Die letzte Welt“, diese Geschichte von der Verbannung des Dichters Ovid, die Ransmayr in literarische Korrespondenz zu Ovids „Metamorphosen“ setzt, ist nicht mein Lieblingsroman von Ransmayr geworden. Aber: Er war ein Bestseller. Meine Ausgabe weist die Druckauflage 76.000 - 100.000 auf. So viel verkauft heute allenfalls Sebastian Fitzek. Die Andere Bibliothek: Ein Relikt aus der goldenen Zeit der schönen Bücher. Die Andere Bibliothek, Band 44, erschienen 1988, 324 Seiten.…
1 Andreas Thalmayr – Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen 1:10
Am 27. September 1985 erschien als neunter Band der „Anderen Bibliothek“ ein Buch mit einem sehr barocken Titel: „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“. Es war prächtig aufgemacht, mit geprägtem Deckel, der ein Teufelchen inmitten eines Labyrinths zeigt, versehen mit einem Schutzumschlag aus Plastik. Sein Inhalt: eine detailreiche Sammlung rhetorischer und sonstiger Mittel der Lyrik anhand vieler Gedichte der Weltliteratur. Beispiele gefällig?: Anapher, Epiphora, Paronomasie, aber auch Überraschendes wie: Jargon, Zitat usw. Da erinnert einer daran, dass Kunst von Können kommt, dass Dichten ein Handwerk ist, vielleicht keines, das man lernen kann, aber eines, ohne das es nicht geht. Ein Genie fällt nicht vom Himmel, sondern steht auf dem Sockel der Transpiration. Aber wer war nun dieser mysteriöse Andreas Thalmayr? In meinem Exemplar steht eine kleine Widmung: „i.V. Enzensberger“. Der sich da einen Vertreter nennt, ist in Wirklichkeit der Sammler und Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und spiritus rector der „Anderen Bibliothek“, „Andreas Thalmayr“ sein nicht ganz unbekanntes Pseudonym. Enzensberger hat sich immer für die handwerkliche Seite der Dichtung interessiert, sozusagen für den Maschinenraum der Poesie. Dass er später also einen „Landsberger Poesie-Automat entwickelt hat, der auf Knopfdruck Gedichte produziert, wenn wundert's. „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“, Band 9, 27. September 1985…
Ich bin Alexander Wasner, Kulturredakteur beim SWR und „Die andere Bibliothek“ war für mich sowas wie eine Offenbarung. Literaturwissenschaft habe ich in den 80ern gegen den entschiedenen Rat meines Deutschlehrers studiert. Er wollte Klassiker im Stil der 50er besprechen, ich wollte was anderes. In meinem Ketzertum fühlte ich mich durch die Andere Bibliothek bestätigt. 1985 habe ich meinen Buchhändler jeden letzten Donnerstag im Monat belauert, um eins der Vorschauhefte zu ergattern. Es war eine echt wilde Mischung: am Anfang die Lügengeschichten des Lukian von Samosata, dann Barbey d’Aurevilly über den Dandy, in Samt eingeschlagen, etc. – die frühen Titel sparte ich ernsthaft vom BaföG ab, nur um meinem Deutschlehrer zu zeigen, dass es bessere Autoritäten gab als ihn. Besonders tat es mir Band 2 an, der zwischen den Lügengeschichten und dem Dandy. Driss Ben Hahmed Charhadi, „Ein Leben voller Fallgruben“. Eine Entdeckung von Paul Bowles. Es geht um einen Underdog in Marokko, er wird vom Stiefvater ins Kinderheim geschickt, wird aber bald wieder rausgeholt, weil die Familienehre das nicht zulässt. Wenn er mal Geld hat, nimmt ihm der Stiefvater das gleich wieder ab. Er bekommt einfach keine Chance. Und so verloren ist dann halt auch der Rest des Lebens – er kifft und stiehlt, Liebe gibt es nur bei Huren und da auch nur zusammen mit Prügel, er wohnt auf der Straße und in Gefängnissen. Erzählt aber wird das ohne jede Anklage, ohne Psychologie, nur im Hier und jetzt. Charhadi hat den Text auf Tonband eingesprochen, Paul Bowles hat es nur abgetippt. Ein irres Buch, auch heute noch. Driss Ben Hamed Charhadi: Ein Leben voller Fallgruben, Franz Greno 1985, jetzt im Aufbau Verlag, Übersetzt von Anne Ruth Strauß, 352 Seiten…
In Reynosa, Mexiko, wird der Reisende von Schüssen geweckt. Das stört ihn aber nicht weiter, er ist es noch gewohnt von seinem letzten Besuch hier. Ihn stört es auch nicht, dass das Hotel, in dem er schläft, der Mafia gehört. Um genau zu sein, liebt er seine Unterkunft. Vor allem aus einem Grund: Sein Hotelzimmer hat einen Schreibtisch. Und dieser steht so, dass man sich selbst nicht in einem Spiegel sieht. Denn in neunzig Prozent der Fälle, so erklärt es der weit gereiste Erzähler, hängt in Hotelzimmern ein Spiegel über dem Schreibtisch. Das sei falsch, schließlich würde zuhause kein Mensch auf so eine Idee kommen. Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen? Dieser Blick – auf die großen und die kleinen Details, machen die Texte von Michael Glawogger so wunderbar. Es ist ein Buch voll mit Geschichten aus der ganzen Welt - von Äthiopien bis Nordkorea, von Vietnam bis Norwegen. Manche von ihnen märchenhaft, manche voller rätselhafter Begegnungen und seltsamen Dingen, die in Hotelzimmern zurückgelassen wurden. Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher Michael Glawogger portraitierte in Dokus wie „Whores Glory“ oder „Megacities“ die Ausgebeuteten, die ums Überleben-Kämpfenden. Dieser Band ist vielleicht eines seiner persönlichsten Werke, denn er bringt uns den Reisenden Glawogger näher. Wunderschön ist auch diese Ausgabe, die bei Der Anderen Bibliothek erschienen ist. 2015, posthum, nachdem Glawogger bei Dreharbeiten in Liberia an einer Malaria-Infektion gestorben ist. Auf dem Buchrücken leuchtet wie ein Neon-Schriftzug das Wort „Hotel“. Innen beginnt jede Geschichte mit orange-farbenen Buchstaben, die langsam von Rot und Violett ins Schwarze verlaufen – ein in Druckertinte festgehaltener Sonnenuntergang. Die letzte Geschichte spielt 2012 in einem Hotel in Karlsruhe. Natürlich räumt der Reisende erst mal das Hotelzimmer um und stellt Tisch und Stuhl vor das Fenster für den perfekten Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Beim Umbau sieht er sich selbst im Spiegel. Er denkt, für seine Nachwelt möchte er gerne so, als – Zitat – „Der Mann mit dem hellbraunen Tisch in den Armen“ überliefert werden. Das Bild, das mir aber vom Filmemacher und Autor Michael Glawogger bleibt, ist das hier: Das Bild eines Reisenden, der einen besseren Platz für sich selbst sucht, einen Platz mit Aussicht auf das Getümmel und Geschehen, auf die Menschen, für die Glawogger einen so einfühlsamen Blick hatte. Michael Glawogger - 69 Hotelzimmer, Die Andere Bibliothek, Bandnummer 363, 408 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3-8477-2010-2…
Vor 20 Jahren, 2005, erschien sein weltweiter Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt". Wir gratulieren und hören, was ihm Thomas Mann bedeutet - der in diesem Jahr ebenfalls einen runden Geburtstag hat: den 150. am 6. Juni.
Es ist die vermutlich schönste Buchreihe, die die deutschsprachige Literaturwelt je gesehen hat: Genreübergreifende, die Welt entdeckende Bücher in einer aufwendigen, bibliophilen Gestaltung. Rainer Wieland im Gespräch Bis heute gibt es die „Andere Bibliothek": Jeden Monat erscheint unter dem Dach des Aufbau Verlags ein neuer Titel. Zum 40. Geburtstag sprechen wir mit Rainer Wieland, neben Nele Holdack einer der Herausgeber der Reihe.…
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Neuen Bücher von Wolf Haas, Julia Schoch, Daniel Glattauer und einer Gratulation zum 40. Geburtstag der Anderen Bibliothek
1 lesenswert Quartett mit Büchern von Botho Strauß, Andrew O'Hagan, Johanne Lykke Holm und Isabelle Lehn 56:08
Literaturexperte Denis Scheck moderiert die Gesprächsrunde aus dem SWR-Funkhaus in Mainz. Stammgast ist Ijoma Mangold, Redakteur im Feuilleton der ZEIT. Diesmal vervollständigen Nicola Steiner, Leiterin des Literaturhauses Zürich, und die ehemalige „lesenswert“-Moderatorin und Verlegerin des Piper Verlags Felicitas von Lovenberg die Runde.…
Teddy Rosenfeld ist ein Mann, der weiß, was er will. Und Noa Simon, die junge Filmemacherin, die sich dem Boss einer Biotech-Firma bei einer Feier an den Hals wirft, will er definitiv nicht. Sagt er jedenfalls hinterher, nach einem spontanen Stelldichein in einer Toilettenkabine. Daher leistet er den folgenden schamlosen Avancen von Maya Kesslers Ich-Erzählerin auch beharrlich Widerstand, selbst dann noch, als diese in seinem Unternehmen anheuert. Warum Teddy so ablehnend reagiert? Weil der Mittfünfziger nach diversen Ehen und Affären so seine Erfahrungen gemacht hat. Und sich sicher ist, dass sich die 20 Jahre Jüngere – tabuloser Sex hin oder her – am Ende als genauso durchgeknallt entpuppen wird wie seine früheren Beziehungen. »Ich weiß, wohin das führt«, er spricht mehr zu sich selbst als zu mir, »ich werde dich ruinieren. Das will ich nicht. Ich kenne das schon.« »Du wirst mich nicht ruinieren. Und wenn – dann will ich das.« Quelle: Maya Kessler – Rosenfeld Kontrollsüchtiger Titelheld Liebesromane werden heutzutage ja gerne mit sogenannten Tropes etikettiert, zur Einordnung. Teddy Rosenfeld, der schwergewichtige, kontrollsüchtige Titelheld von Maya Kesslers Romandebüt, wäre demnach eindeutig ein „Grumpy“, also ein anfänglich desinteressierter, pessimistischer Kerl, dem unversehens der Schutzpanzer über seinem Herzen abhandenkommt – ein Typus, den bereits Jane Austen kannte. Würde die israelische Autorin diesem Muster folgen, wäre Noa Simon ein „Sunshine“, der lebensfrohe weibliche Sonnenschein, der dem Grumpy die Liebe lehrt. Tatsächlich aber ist Maya Kesslers Ich-Erzählerin das genaue Gegenteil: Noa ist unersättlich, impulsiv und nicht zuletzt wütend – auf sich, das Leben und vor allem ihre Mutter, die einst die Familie im Stich gelassen hat. So gesehen gleicht Noa eher einem Tornado, der Teddys Leben im Lauf des 560 Seiten starken Romans gehörig durchpflügen wird. Dabei fällt es anfangs schwer, für Kesslers Protagonistin Sympathien aufzubringen. Zu sehr stößt einen diese Figur ab: mit ihren selbstdestruktiven Impulsen, mit ihrer emotionalen Instabilität und Unreife. Vielleicht liegt es daran, dass gerade die ersten Romankapitel, trotz der rasanten, gegenwartsnahen Schreibe Kesslers, zur Geduldsprobe geraten. Menschen mit Mutterproblemen Doch es lohnt sich durchzuhalten. Nicht nur wegen der, wie man heute sagt, spicy Sexszenen. Sondern weil die ungleichen Charaktere, die sich im Lauf der Handlung abwechselnd an die Wäsche und an die Gurgel gehen, irgendwann doch überraschend an Tiefe gewinnen – und ihre Beziehung in ihrer Abgründigkeit und Leidenschaft mehr und mehr fesselt. Denn nicht nur Noa hat ein Mutterproblem. Teddy hat aus der Wohnung seiner längst verstorbenen Erzeugerin ein Mausoleum gemacht, für Noa ein No-Go. Die Folge sind Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten: Er versucht, gegen ihren Willen, eine Aussöhnung mit ihrer verbannten Mutter anzuleiern, sie fängt an, besagte Wohnung aufzulösen, damit ihr Geliebter endlich loslassen könne. Wieso hat er mich […] dorthin mitgenommen? Weil er nicht weiß, wer du bist. Er weiß nicht, dass du der Todesengel jeglicher Mütterlichkeit bist, dass du jede Nabelschnur, die nicht sofort, sobald es eben geht, durchschnitten wird, bis aufs Blut verabscheust. Quelle: Maya Kessler – Rosenfeld Romanze zweier Sturköpfe Wie aus der Romanze zweier Sturköpfe, die anfangs nur auf Begehren und Leidenschaft basiert, eine wird, in der sich ständig die Macht- und Näheverhältnisse neu austarieren, ist überaus spannend und unterhaltsam zu lesen. Teddy ist, wie sich zeigt, ein Mann mit vielen Geheimnissen, sie dagegen eine Frau voller Traumata und verdrängter Ambitionen. Am Ende führt jede Verletzung, die sich beide zufügen, jeder Vertrauensbruch nur dazu, die Intimität zwischen beiden zu steigern. Maya Kessler hat ein Debüt vorgelegt, das beeindruckt: durch seine intensive Rohheit wie auch seine voyeuristische Präzision.…
Wir alle sind Kinder und Erbe unserer eigenen Vergangenheit. Wie wir das Erbe antreten, was wir davon beibehalten oder weiterführen möchten, und welche Erlebnisse wir großzügig hinter uns lassen sollten, ohne sie zu verdrängen, das können wir ein Stück weit auch selbst bestimmen. Auch wenn uns das nicht immer einfach erscheint. Dabei helfen uns, so Charles Pépin, die verschiedenen Formen des Gedächtnisses, die jeweils unterschiedliche Funktionen innehaben. Das Gedächtnis wird von Neurowissenschaftlern schon lange nicht mehr als Speicher oder lokalisierbare Gedächtnisspur betrachtet. Vielmehr formt sich die Erinnerung immer wieder neu und verändert sich damit. Die Erinnerung wird gleichsam neu konfiguriert: durch das seitdem Erlebte, durch den aktuellen Kontext, durch unsren emotionalen Zustand. In diesem Sinn ist das Gedächtnis lebendig und eine Erinnerung ist nie zweimal dieselbe. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben Ist es also möglich Belastendes, von uns zutiefst Abgelehntes, ja Beschämendes, das wir erlebt haben oder das unsere Herkunft mit sich bringt, zum Material zu erklären? Pépin zieht für seine Überlegungen auf nachvollziehbare Weise philosophische und literarische Erkundungen, besonders von Henri Bergson und Marcel Proust zu Rate, aber auch grundlegende neurowissenschaftliche Erkenntnisse. Belastete Kindheit, glückliche Lebenswege Ist man in der Lage, das Erlebte zu einer Geschichte werden zu lassen, deren Autor wir selbst sind und die uns weniger zusetzt, oder wie es in der hier wohl recht wörtlichen Übersetzung heißt, die uns nicht mehr „ständig beißt“? Sie wäre damit dann auch vom „episodischen Gedächtnis“, das uns einzelne Szenen vor Augen führt, ins „semantische Gedächtnis“ überstellt. Dort kann unsere Geschichte überarbeitet werden, denn hier geht es um Bewertung und Einordnung des Geschehenen. Pépin beschreibt glückliche Lebenswege, die Menschen trotz ihrer belastenden Kindheit oder Lagererfahrungen eingeschlagen haben. Sie sind möglich, weil wir zwar das sind, was die Vergangenheit aus uns gemacht hat, aber wie er aufmunternd sagt: „Wir haben keinen Grund, uns von unserer Vergangenheit alles gefallen zu lassen.“ Das mag ein Stück weit gelingen oder auch nicht. Für jeden zugänglich und mit weniger Kraftanstrengung verbunden ist indes, zu genießen und wertzuschätzen, was der Zufall uns an Begegnungen und glücklichen Momenten für unser Leben geschenkt hat. Die Schönheit der Erinnerung Ganz konkret heißt das auch, zum Beispiel als allein zurückgelassener Liebender oder alternder Mensch, nicht länger dem nachzutrauern, was wir einst besaßen und dann verloren haben, sondern uns mit Freude daran zu erinnern, dass es möglich war und wir diejenigen sind, die es selbst erleben durften. Es heißt also, sich intensiv auf die Schönheit der Erinnerung einzulassen, in ausgewählte Bilder und Szenen einzutauchen, sie ganz ohne Wehmut zu betrachten: Letztendlich geht es auch hier um eine Verabredung mit unserer Vergangenheit, aber diesmal nicht, um ihre Brutalität zu mildern, sondern im Gegenteil, ihre Zartheit neu zu erleben, ihr Bestes auszukosten. Es ist eine Art Würdigung dessen, was gewesen ist. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben Seien wir deshalb nachsichtig mit uns selbst und den anderen: Wir sollten dem, was wir geworden sind, mit Wohlwollen begegnen. Das reicht bis hin zum Umgang mit unseren Toten, die uns, wenn wir an sie denken, mit „behütender Präsenz“ umgeben können. Und so heißt es dann auch gegen Ende des Buches geradezu verschmitzt, aber eben durchaus auch charakteristisch für die Lebensphilosophie Pépins: Wer möchte, dass die Geister der Verstorbenen ihn gelegentlich besuchen kommen, muss ihnen ein bisschen Luft und Freiheit lassen. Quelle: Charles Pépin – Mit der eigenen Vergangenheit leben…
Um es gleich vorwegzusagen: Dass „Eine Bumerangfamilie“, der zweite Roman des koreanischen Autors Cheon Myeong-kwan, mit großem Erfolg in seiner Heimat verfilmt worden ist, wundert nicht. Im Mittelpunkt des Romans steht Inmo, ein gescheiterter Filmregisseur mittleren Alters. Zwölf Jahre ist es her, dass er seinen letzten Film – einen Riesenflop – gedreht hat. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Vermieter soeben rausgeworfen. In seiner Verzweiflung beschließt der 48-Jährige, zu seiner alten Mutter zurückzuziehen, die in einem heruntergekommenen Vorort von Seoul lebt. Sein Unbehagen ist groß. Und es wird noch größer, als er feststellen muss, dass sich auch sein vier Jahre älterer Bruder – ein fünfmal vorbestrafter Riese mit 130 Kilo Körpergewicht – in der Wohnung der Mutter eingenistet hat. Unzählige Male hatte Hammer mich verprügelt, als ich jung war. Ich trug blutige Nasen davon, abgebrochene Zähne, Platzwunden im Gesicht, das volle Programm. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als seinen Tod. aber er war nicht gestorben, und jetzt, Jahrzehnte später, stand er vor mir und versperrte mir den Weg. Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Hammer, eigentlich Hanmo, ist nicht das einzige Hindernis, das sich Inmo fortan in den Weg stellt. Denn es dauert nicht lang, dann ziehen auch seine Schwester – die bereits zwei Ehen hinter sich hat – und deren Tochter, eine aufmüpfige Jugendliche, in die mütterliche Wohnung ein. Familie: Die Hölle auf Erden Man ahnt: das kann nicht gutgehen. Tatsächlich bereiten sich die drei Geschwister rasch nach allen Regeln der Kunst gegenseitig die Hölle auf Erden. Einzig die Mutter scheint aufzublühen, seit ihre Kinder wieder bei ihr wohnen. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als sei sie gerade von einem Wellnessaufenthalt in einem erstklassigen Spa zurückgekommen, ja sogar ihre Stimme klang einen Ton heller. Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Dass Cheon Myeong-kwan dabei die Geschichte aus Inmos Augen entfaltet, ist ein geschickter Schachzug. Erst allmählich begreifen wir nämlich, dass wir diesem Erzähler nicht ungetrübt Glauben schenken sollten: Hammer, laut Inmo ein pädophiles Monster, erweist sich mehr und mehr als liebenswürdiger Mensch; Inmos Schwester Miyŏn, vermeintlich eine leichtlebige Ehebrecherin, hat sich stets für ihre Familie aufgeopfert, um diese auch finanziell zu unterstützen. Mehr noch: dunkle, bis dato gut gehütete Familien-Geheimnisse kommen zutage. Ich, Hammer, Miyŏn, wir alle, Mutter eingeschlossen, jeder von uns hatte etwas auf dem Kerbholz. Uns war das Stigma des Verlierers eingebrannt, wir waren Gefangene unserer Vergangenheit. Quelle: Cheon Myeong-kwan – Eine Bumerangfamilie Zwischen dunkler Groteske und koreanischer Soap Opera Das alles mag nach tränenreichem Familiendrama klingen. Doch Cheon Myeong-kwan liebt Groteskes ebenso wie Drastik. Sein Roman, der zugleich gespickt ist mit Verweisen auf Hemingway und Klassiker der Filmgeschichte, wirkt deshalb wie eine Fahrt mit der Achterbahn. Immer schon geht es in die nächste Kurve: Miyŏns Tochter verschwindet; ein Serienmörder taucht auf; Hammer gerät in die Falle gefährlicher Krimineller – und Inmo beginnt Pornos zu drehen. All diese Irrungen und Wirrungen erinnern dabei an koreanische Soap Operas, samt Deus ex machina und Happy End. Bis es allerdings soweit ist, führt uns der Roman in seinem letzten Drittel in krasse Abgründe des asiatischen Extremkinos. Das kommt so unvermutet wie manche Details der Handlung einer logischen Prüfung nicht immer standhalten. Speed und Überbietung gehen in „Eine Bumerangfamilie“ Hand in Hand. Die Geschichte vergeht deshalb wie im Flug. Und doch schlingert „Eine Bumerangfamilie“ – von Matthias Augustin und Kyunghee Park erneut in ein zupackendes Deutsch übertragen – am Ende zu unentschieden zwischen rabenschwarzem Sarkasmus und melodramatischer Wohlfühl-Offerte.…
Wotan ist en vogue, nicht nur bei Neuheiden, mythensüchtigen Rechtsextremen, martialisch auftretenden Metal-Bands oder Männern auf der Suche nach antifeministischen Konzepten von Maskulinität. Gegen die simplifizierenden Vereinnahmungen hat der Skandinavist Klaus Böldl seine Geschichte des „dunklen Gottes“ von den Wikingern bis in die Gegenwart geschrieben. Deutlichere Gestalt nimmt Odin oder Wotan in der „Edda“ und der isländischen Saga-Literatur des Mittelalters an. Hier begegnen erstmals die Züge der heute bekannten Ikonographie: Er ist hochgewachsen, hat einen Bart und trägt einen langen nachtblauen oder schwarzen Mantel. Sein Gesicht wird von einem breitkrempigen Hut verdunkelt, doch man kann erkennen, dass er nur ein Auge hat. (…) Seine beiden Raben Hugin und Munin versorgen ihn mit Neuigkeiten aus aller Welt. Quelle: Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte Odin als Oberhaupt der heidnischen Götterwelt ist für Böldl aber – wie überhaupt der zugespitzte Gegensatz von „nordischen“ und klassisch-mediterranen Mythen – ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Zuvor war Odin gewissermaßen integriert in die gesamteuropäische Mythenwelt, bisweilen gleichgesetzt mit Odysseus, dem griechischen Okeanos oder gar dem fernöstlichen Buddha. Völkischer Sturm- und Rauschgott Erst im Zuge des wachsenden Nationalismus wurde der Gott zum Repräsentanten eines völkisch durchsäuerten Germanentums, das man in der Nachfolge von Tacitus‘ grundlegender Schrift „Germania“ so charakterisierte: rückständig, was Zivilisation und materiellen Wohlstand betrifft, dafür moralisch integer, freiheitsliebend, tugendhaft und tapfer. Odin und die „Edda“ wurden zu einem essentiellen Mythos der Deutschen. Böldl skizziert und zerlegt die obsessiven Vereinnahmungs-Bemühungen der Historiker, Philologen, Theologen und Ideologen. So erkannte zum Beispiel auch der Tiefenpsychologe C.G. Jung in Wotan eine „Grundeigenschaft der deutschen Seele“ und sah den „Sturm- und Rauschgott“ im Nationalsozialismus wiederkehren – die politisch Verantwortlichen duften sich entlastet fühlen. Wagners gebrochener Wotan Anders als Thor mit dem Hammer ist Wotan jedoch kein eindimensionaler Held. Das zeigt insbesondere die wirkmächtigste aller Aneignungen. In Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ hat der Herr von Walhall nichts mehr mit dem makellosen Göttervater der idealisierenden Tradition zu tun. Wagner zeichnet ihn als gebrochene Gestalt; sein Wotan ist kein Kämpfer, sondern setzt wie ein Agent der Moderne auf Verträge, die er allerdings wie Waffen zu nutzen versteht, ein Intrigant und Betrüger sondergleichen. Klaus Böldl beschäftigt sich mit Odin in Musik, Bildnis und Skulptur. Der Untertitel „Von den Germanen bis Heavy Metal“ ist zugkräftig, allerdings ist von der Rezeption im Metal, beginnend mit Led Zeppelins „Immigrant Song“, nur auf drei Seiten die Rede – mit dem Tenor, dass die Bands meist nur mythologische Klischees reproduzierten und der heidnische Gott instrumentalisiert werde für einen etwas angestaubten Protest gegen das Christentum. Darin zeige sich allerdings ein Moment vieler heutiger Odin-Bezüge: Wenn es Odin nicht gäbe, müsste man ihn erfinden, so groß erscheint im entgötterten Anthropozän die Sehnsucht nach einer identitätsstiftenden numinosen Gestalt jenseits des Christentums zu sein. Quelle: Klaus Böldl – Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte Protest gegen das Christentum Böldl ist nicht nur Professor für skandinavische Literatur, sondern auch Verfasser mehrerer Romane. Er kann klar und unakademisch schreiben, und seine Kenntnis der Materie ist überragend. Vielleicht ist gerade dies aber auch der Grund dafür, dass sich sein Odin-Buch streckenweise wie ein Forschungsbericht liest. Sie läuft auf die Einsicht hinaus, dass jede Epoche ihr eigenes Odin-Bild entwirft und gerade dadurch den Mythos des „dunklen Gottes“ fortschreibt.…
1 SWR Bestenliste Januar - Diskussion über Bücher von Paul Lynch, Lucy Fricke, Botho Strauß und Han Kang 1:15:30
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1:15:30Der Inhaltsangabe ist nicht zu trauen: Martin Ebel und Hubert Spiegel diskutierten mit Carsten Otte vier auf der SWR Bestenliste im Januar verzeichneten Werke im gut besuchten Prinz-Max-Palais in Karlsruhe. Ein Mann in der Midlife-Crisis Erstaunlich einig war die Runde sich bei Lucy Frickes neuem Roman „Das Fest“ , der auf Platz 3 der Januar-Bestenliste steht (Claassen Verlag). Gerade mal 138 Seiten kurz ist das Buch, das vom Berliner Filmemacher Jakob handelt, der 50 Jahre alt wird – was für ihn aber alles andere als ein Grund zur Freude ist. Der missmutige Zeitgenosse steckt in einer Lebenskrise. Seit geraumer Zeit saß er nicht mehr auf dem Regiestuhl. Jakob ist Single und hat das Gefühl, dass sich die Welt um ihn herum so verändert hat, dass er dort keinen Platz mehr zu haben scheint. Seinen 50. Geburtstag möchte Jakob auf keinen Fall feiern. Er wüsste auch gar nicht, wen er einladen sollte. Ellen, die beste Freundin von Jakob, möchte sich mit der Misanthropie des Jubilars allerdings nicht zufriedengeben. Also organisiert sie Begegnungen mit Menschen aus Jakobs Vergangenheit, die ihm viel bedeutet haben und dem trotzigen Geburtstagskind zu seiner Überraschung herzlich gratulieren. Am Ende gibt es ein Fest – und die Hoffnung auf die wahre Liebe. Gelungener Wechsel der Erzählperspektiven Hubert Spiegel meinte, wer nur die Inhaltsangabe höre, würde wohl eine Schmonzette von Rosamunde Pilcher vermuten. Aber das Gegenteil sei der Fall, was nicht zuletzt an der Rondo-Form des Romans und dem gekonnten Wechsel der Erzählperspektiven liege. Auch Martin Ebel zeigte sich beeindruckt, wie Lucy Fricke, bekannte Motive variiere, aber auch Tiefgründiges leicht aussehen lasse. Wegen der geschlossenen Form des Textes, hält er „Das Fest“ allerdings weniger für einen Roman, der immer eine gewisse Offenheit zeige, sondern eher für eine Novelle, die in diesem Fall mustergültig in Szene gesetzt sei. Vergangene und gegenwärtige Verbrechen Auf dem Programm der Bestenliste-Diskussion in Karlsruhe standen außerdem: die politische Dystopie „Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch in der Übersetzung von Eike Schönfeld (Klett Cotta), die vom Wandel einer Demokratie in eine tödliche Diktatur handelt; mit „Das Schattengetuschel“ ein mildes und streckenweise selbstironisches Alterswerk von Botho Strauß (Hanser) und mit „Unmöglicher Abschied“ das von Ki-Hyang Lee ins Deutsche übertragene Werk der frisch gekürten Literaturnobelpreisträgerin Han Kang, das im hohen Ton von den Auswirkungen eines Massakers auf die nachfolgenden Generationen erzählt. Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Dominik Eisele.…
Überraschend wurde die Südkoreanerin Han Kang mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Ihr neuer Roman verbindet die Geschichte einer Freundschaft mit einem dunklen Punkt in der koreanischen Geschichte.
Am 2. Dezember ist Botho Strauß 80 Jahre alt geworden. Mit „Das Schattengetuschel“ hat er seiner Lesergemeinde ein erstaunlich entspanntes Buch geschenkt – eine Sammlung von Texten, die von einem untergründigen Altershumor durchzogen sind.
Weit mehr als ein Roman über die Midlife Crisis eines Mannes: Gelenkt vom Geschick seiner besten Freundin, wird der erfolglose Filmregisseur Jakob noch einmal durch sein Leben geführt. Ein freundliches, aber kein harmloses Buch.
Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2023: Eine Dystopie aus dem Herzen der Europäischen Union. Eine nationale Einheitspartei hat in Irland die Macht übernommen, regiert mit Notstandsgesetzen und schaltet Staatsfeinde aus.
Giovanni Pascolis Gedichtbände erschienen ab 1897 bis zu seinem Tod 1912. Der Dichter hatte zwei Lebenspassionen: die Lyrik und den Alkohol. Einerseits war er eine Art Einsiedler, andererseits unterrichtete er auch an italienischen Universitäten lateinische und italienische Literatur. Giovanni Pascoli und der verlorene Glaube an das „Nest“ Von der Krone baumeln, dort und da, / die kleinen Nester des Frühlings. / Die Leute sagen: Jetzt erst sehe ich, wie gut sie war! Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Im Gedicht „Die gefallene Eiche“ findet sich ein Grundmotiv von Pascolis Lyrik: „Nester“ – so lautet auch folgerichtig der Titel des von Theresia Prammer zusammengestellten Auswahlbandes. Das „Nest“ ist nicht nur in der Tierwelt zuhause, sondern im übertragenen Sinn auch bei uns Menschen: „Sich ein Nest bauen“, sich also häuslich einrichten. Das „Nest“ bietet Schutz, Sicherheit – gerade auch in der Kindheit oder bei Tieren in der Aufzucht der Jungen. In Pascolis Gedicht „Die gefallene Eiche“ wird das Nest zerstört, weil der Mensch diese Eiche mit ihren Nistplätzen zu Fall bringt. Vergeblich irrt das Muttertier. Sie sucht nach ihrem Nest, das nicht mehr ist. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Der Dichter, die Natur und ein großer Verlust Giovanni Pascoli hatte selbst mit diesem Verlust zu kämpfen. Im Alter von zwölf Jahren musste er miterleben, wie sein Vater das Opfer eines brutalen Mordanschlags wurde. Ab da war die Vorstellung eines sicheren Familiennestes zerstört. Doch es gibt noch einen anderen Geborgenheitsort: die Natur. Eine Amsel pfeift dem lyrischen Ich ein Lied. Und ein Zaunkönig ruft ihm zu: He! Du kehrst heim … Ich weiß: / Oh! In dein herrliches Nest, vor dem Regen gefeit! Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Allein, es bleibt ein Traum. Der Mensch, der Dichter ist förmlich aus der Natur gefallen. Der Gesang der Vögel wandelt sich in ein gräuliches Rauschen. Was geht vor in der Welt? / Unendliche Stille. / Doch tief unten, da schwelt, / einsam und irrend, / dieses schaurige Grollen. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Der Dichter „Traum eines Schattens“ In Pascolis Gedichten gibt es zwei Welten, die zwar nicht voneinander getrennt sind, jedoch schwer zueinander finden: Die eine ist die der Natur, sie ist nicht etwas rein Erhabenes, da sie sich stets dem Leben zuneigt. Die andere ist die des Menschen – so wie es der Dichter auch ganz persönlich erlebt. Theresia Prammer hat diese Motivik Pascolis präzise zusammengefasst. Erinnerung – Kindheit – Tod – Verlust. Pascoli schreibt vom Ende seiner Welt her; die Orte der Tragödie sowie die Friedhöfe sind immer gegenwärtig. Schatten sprechen den Dichter an, wo er geht und steht. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Diese Schatten drängen sich bis in den Bereich der Träume. Im Gedicht „Traum eines Schattens“ schmiedet Pascoli den „Tod eines Alten“ existentiell an den „Tod eines Neugeborenen“. Was ist Leben? Was bedeutet es, eine Strecke des Lebens gehen? Der eine sah die Kinder / seiner Kinder; der andere nicht einmal sich. Ihr Leben / war das nämliche: Traum eines Schattens, ein Nichts. Quelle: Giovanni Pascoli – Nester Dass der Lyrikband „Nester“ zweisprachig erscheint, ist auf jeden Fall ein großes Plus. Er erlaubt damit einer an Lyrik interessierten Leserschaft, diesen italienischen Dichter in gekonnter Übersetzung für sich zu entdecken. Giovanni Pascoli war sicher kein avantgardistischer Experimentator, aber seine in die Tiefe reichende Melancholie, seine stete Sehnsucht nach dem verlorenen Wundergarten der Natur und seine exzellente Sprachführung machen seine Gedichte zum bleibenden Gut europäischer Lyrik.…
„Das ist für mich elementar, dass ich aus meiner eigenen kleinen Welt herauskomme und die Welt sehe, wie sie ist. Und das mache ich ja seit vielen Jahren. Ich habe gemerkt, dass es besser ist, wenn ich über einzelne Regionen länger berichte, über einen längeren Zeitraum mich auf einzelne Regionen konzentriere", meint Navid Kermani. Die Welt zu sehen, wie sie ist, das bedeutet in den Ländern Ostafrikas mit gewaltigen Problemen und großer Not konfrontiert zu werden. Navid Kermani glaubt, dass sich hier globale Probleme verdichten und dass es sich rächen wird, wenn wir der Region zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Apathische Menschen Im Süden Madagaskars schaut er auf die dramatischen Auswirkungen der ersten klimabedingten Hungersnot. Das Land, das eigentlich fruchtbar ist, erscheint dem Reporter aus der Luft wie eine aufgegebene Mine. Viele Wälder sind verschwunden, geblieben sind Baumstümpfe. Auch die restlichen Bäume werden abgeholzt, weil Holzkohle der letzte Verdienst ist. Navid Kermani berichtet von apathischen Menschen, die der Hunger beherrscht, von Kindern, die nicht mehr spielen, von Menschenkolonnen, die schwere Wasserkanister kilometerweit schleppen. Er habe vorgehabt, auch über das Leben zu schreiben, aber die Not sei dringlicher gewesen, notiert der Autor mit Blick nicht nur auf Madagaskar. So Navid Kermani: „Was sich am ehesten behauptet hat, war die Musik, weil sie eine ähnliche Existenzialität hat, eine Notwendigkeit, wie ich sie selten je erlebt habe. Aber wenn man ein Kind sieht, das vor Hunger stirbt, erschlägt das alle anderen Erfahrungen erstmal für lange Zeit." Navid Kermani erzählt auch von der Musik. Aber es ergeht dem Leser wie dem Autor. Die Begegnungen mit Musikern verblassen vor der Wucht anderer, existenzieller Eindrücke und Erfahrungen. Im Norden Äthiopiens in der Region Tigray trifft der Reporter eine vorzeitig gealterte Frau, die von Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Ein fünfjähriges Mädchen zeigt die Narbe, die ein Messer hinterlassen hat. Jemand hat ihr Bein der Länge nach aufgeschlitzt. „Wer macht so etwas?“, sinniert der Autor. Er spricht mit Kämpfern der tigrayschen Volksbefreiungsfront, die „zu viel erlebt haben, um noch von dieser Welt zu sein“. Navid Kermani verbirgt nicht, wie ihn all das mitnimmt. Eine halbe Million Tote hat der nach seiner Ansicht „nicht nur grausamste, sondern auch sinnloseste Krieg unserer Zeit“ gefordert. Wenn Kermani nach den Gründen für die Kämpfe fragt, erntet er auf beiden Seiten nur Schulterzucken. Navid Kermani sagt dazu: „Was in Tigray so erschütternd ist: Man denkt immer, Kriege entstehen aus Verschiedenheit. Die Menschen, die sich in Tigray bekämpft haben, vergewaltigt, massakriert und so weiter, das waren Menschen mit der gleichen Sprache, mit dem gleichen Gebetsbuch, mit den gleichen Traditionen." Produktive Überforderung Seine Beobachtungen veranlassen den Reporter dazu, grundsätzlich über Krieg und Frieden, über Klima und Umweltzerstörung nachzudenken. Einfache Rezepte hat er nicht zu bieten. Vielmehr folgt man diesem Autor immer wieder fasziniert bei seinem Nachdenken und Nachforschen; dabei, wie er unterschiedliche Antworten ausprobiert – und oft zu neuen Fragen kommt. „ Ich will nicht am Ende das Gefühl erzeugen, dies oder jenes ist die Lösung oder die Conclusion oder die These oder: so ist Afrika oder so ist Ostafrika. Sondern im Gegenteil: Wer reist, der wird verwirrt, der merkt, dass all das, was er im Kopf hatte, gar nicht stimmt. Und das Ziel wäre eher, die Leserinnen und Leser an dieser Verwirrung teilnehmen zu lassen, diese faszinierende Kompliziertheit fassbar zu machen, so dass man am Ende nicht besser Bescheid weiß, sondern viel mehr Fragen hat. Also weniger Bescheid weiß. Das wäre ganz schön." Dieser Autor reduziert Komplexität nicht auf eine gut verdauliche, aber realitätsferne Einfachheit. Sein Buch überfordert auf eine produktive Art. Jedes Land, das Navid Kermani bereist hat und von dem er berichtet, ist mit eigenen, spezifischen Herausforderungen konfrontiert. „In die andere Richtung jetzt“ ist eines der Bücher, die man nicht einfach zur Seite legt.…
1 „Ein schönes Buch ist in sich rund“ – Stiftung Buchkunst kürt die 25 schönsten deutschen Bücher 15:48
Zwei Jurys bewerten hunderte Bücher in einem aufwendigen Verfahren. Am Ende werden je fünf Bücher in fünf Kategorien wie Allgemeine Literatur, Kinderbuch oder Kunstbücher ausgezeichnet. Inhalt kann auch die Gestaltung prägen Seit einem Jahr ist Birte Kreft Geschäftsführerin der Stiftung Buchkunst. Sie beschreibt im Gespräch mit dem lesenswert Magazin die Kriterien, nach denen ein Buch als schön bewertet wird: Wir bei der Stiftung Buchkunst sagen immer, ein schönes Buch ist eines, das in sich rund ist. Quelle: Birte Kreft, Geschäftsführerin Stiftung Buchkunst Die Jurys beurteilten zwar nicht den Inhalt des Buches, dennoch sei dieser wichtig für die Gestaltung. Wie etwa bei dem ausgezeichneten Buch „An Rändern“ von Angelo Tijssens. Das Buch erzählt von einem Mann, der in seine Heimat reist und sich dort seinen schmerzhaften Erinnerungen stellt. Wie der Titel „An Rändern“ es bereits sagt, ist auch der Text im Buch an den Rand gerückt. Gute Ideen kosten nicht unbedingt viel Wie hier Form und Inhalt ineinander greifen, habe der Jury besonders gefallen, sagt Birte Kreft: In dem Buch gibt es auch schwarze Seiten, die das Thema Depression aufgreifen. Parallel dazu ist der Umschlag in einem hoffnungsvollen Rosa. Es geht auch darum, was für gute Ideen Gestalter:innen haben, um die immer kleiner werdenden Budgets in eine gute Gestaltung und damit in ein gutes Buch umsetzen. Quelle: Birte Kreft, Geschäftsführerin Stiftung Buchkunst Genau das sei in Zeiten steigender Papier- und Druckkosten die Herausforderung. Es würden nicht nur die großen Publikumsverlage ausgezeichnet, sondern auch kleinere, die „auch mutige Entscheidungen treffen wie der Trottoir Noir Verlag aus Leipzig oder shift books aus Berlin“, so Kreft.…
Schon mit 28 Jahren schrieb und zeichnete Edward Gorey sein erstes Buch mit dem Titel „Eine Harfe ohne Saiten“. Es ist das Buch, das Walter Moers immer noch für das beste von Gorey hält. Jahrelang hing eine Zeichnung daraus über dem Schreibtisch von Walter Moers. Gleich zu Beginn von „Eine Harfe ohne Saiten“ entsteht mit wenigen feinen Strichen eine andere Welt, ein Gefühl des Anderswo: Ein paar karge Büsche, eine Stein-Balustrade, die sich im Nichts verliert, ein kahlköpfiger Gentleman mit großen besorgten Augen, gekleidet in einen dicken Pelzmantel mit schlanken Hosen und spitzen Schuhen. Den Krocket-Schläger in der Hand scheint er nicht ganz bei der Sache. Mr. Clavius Frederick Earbrass ist, wie man weiß, ein namenhafter Romancier. Von seinen Büchern werden wahrscheinlich „Ein moralischer Mülleimer“, „Wenn die Ketten klirren“ und die „Bis zur Hüfte-Trilogie“ am meisten geschätzt. Wir sehen Mr. Earbrass auf dem Krocket-Rasen seines Herrenhauses Hobbies Odd in der Nähe von Collapsed Pudding in Mortshire. Er meditiert über einen Spielzug einer Partie, die er Ende des Sommers abgebrochen hatte. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Der viktorianische Gentleman Clavius Frederick Earbrass ist ein Bestseller-Autor. Sein Blick in die Welt ist mal besorgt, mal erschrocken. Und am meisten Unbehagen bereitet ihm seine eigene Kunst. Die große Kunst und der kleine Keks Am 18. November jedes zweiten Jahres beginnt Mr. Earbrass mit der Niederschrift seines neuen Romans. Den Titel hat er bereits Wochen zuvor willkürlich einer Liste entnommen, die er in einem kleinen grünen Notizbuch führt. Es ist zur Teestunde am 17. November, als er sich Sorgen zu machen beginnt, dass ihm immer noch kein brauchbarer Plot eingefallen ist, der zu „Eine Harfe ohne Saiten“ passen könnte. Doch seine Gedanken kehren immer wieder zurück zu dem letzten Keks auf der Servierplatte. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Die große Kunst und der kleine Keks. So ernst der Autor Mr. Earbrass Leben und Schreiben nimmt, so staubtrocken ist der Humor, mit dem Edward Gorey von diesem Künstler-Leben erzählt. Noch qualvoller als die ersten Kapitel des Romans sind die letzten für Mr. Earbrass. Seiner Figuren ist er nun ein für alle Mal überdrüssig geworden. Seine Verben kommen ihm verwelkt vor, und die Adjektive haben sich völlig unkontrolliert vermehrt. Außerdem leidet er in diesem Stadium zwangsläufig an Schlaflosigkeit. Nicht einmal die wiederholte Lektüre seines ersten Romans „Die Trüffelplantage“ bringt den ersehnten Schlaf. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Der verzweifelte Autor wandert durch die dunklen Flure seines riesigen Anwesens. Und auch als alles geschafft ist, ist er nirgendwo angekommen, steht weiterhin neben sich und nicht mit beiden Beinen in der Welt. Mr. Earbrass steht in der Dämmerung auf seiner Terrasse. Es ist trostlos und kalt, und die Unschuld ist aus allem gewichen. Worte driften zusammenhanglos durch sein Hirn: Pein, Rüben, Partys, keine Partys, Enttäuschung, Krallen, Schwund, Serviette, Fieber, Antipoden, Gletscher, Gezeiten, Betrug, Trauer, Anderswo. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Auch der Autor und Zeichner Walter Moers, der Edward Gorey mit diesem wunderbaren Jubiläumsband würdigt, kennt das Anderswo. In seinem letzten Schuljahr schwänzte Walter Moers regelmäßig den Unterricht. Weil ihm die Schule nichts mehr beibrachte, las er sich stundenlang durch die Stadtbibliothek. Nicht in der Schule, sondern anderswo entdeckte er die Werke von Edward Gorey. Ein Edward Gorey-ABC In das Gorey-Universum entführt uns Walter Moers mit seiner über 400-seitigen Hommage. Doch sein Buch enthält nicht nur berühmte Gorey-Stories. In einem Edward Gorey-ABC erfahren wir, warum Gorey in seinen New Yorker Jahren fast jeden Abend das New York City Ballett besuchte und mit welcher Genialität er als Illustrator eines New Yorker Verlags zahlreiche Buchcover gestaltete. Reproduktion dieser Cover finden sich in dem von Walter Mores präzise recherchierten und aufwendig gestalteten Band ebenso, wie Fotos von dem verwunschenen alten Kapitänshaus auf Cape Cod, das Edward Gorey in seinen letzten Lebensjahren bewohnte. Viele Details aus dem kuriosen Leben von Edward Gorey erfährt man. Zum Beispiel, dass der Zeichner zur Entspannung Stoffpuppen nähte, die natürlich genauso geheimnisvoll wurden, wie die Fantasiewesen seines gezeichneten Werks. Der düstere Nonsense von Edward Gorey wird auch als „goreyesk“ bezeichnet. Und ähnlich wie bei dem „kafkaesken Kafka“ neigen Gorey-Leser bisweilen dazu, sich im Unheimlichen und Unerklärlichen des feinen Zeichenstrichs und der viktorianischen Fantasiewelten zu verlieren. Kluge Verknüpfung von Leben und Werk Walter Moers bürstet diese Lesart gegen den Strich. Er habe Goreys Zeichnungen in der Regel nicht als düster, sondern als „heimelig und warm“ empfunden, sagt Walter Moers und meint damit die Liebe Goreys zu seiner Zeichenkunst und seinen schrägen Humor. An der Tür klingelts Sturm in windiger Nacht, | doch niemand ist da, als auf man sie macht. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen „Der Mensch Edward Gorey war kein Rätsel, aber sein Werk wimmelt von Rätseln.“ Schreibt Walter Moers. Mit leichter Hand und ohne irgendetwas überzuinterpretieren, verknüpft er das exzentrische Leben des meist in Pelzmantel, Jeans und weißen Canvas-Tennisschuhen gekleideten Edward Gorey und ein Werk, das nach Goreys eigenen Worten von Dingen handelt, die so wenig Sinn machen wie möglich. Fantasievoller Nonsense und fein skizzierte Albträume Allein auf einer Urne stand und stierte | ein Gast, der alle irritierte. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Die kurze Story „Der zweifelhafte Gast“ trifft genau diesen Punkt zwischen Leben und Kunst. Sie handelt von einem Wesen, das wie ein Pinguin aussieht, und einen langen gestreiften Schal und weiße Canvas-Tennisschuhe trägt. Ganz wie die, die Edward Gorey selbst bevorzugte. In stürmischer Nacht taucht dieser Gast in einem alten Herrenhaus auf und bringt das geordnete Leben der Bewohner durcheinander. Er kam auch zum Frühstück und aß unverzüglich | ganz viel Sirup und Toast und den Teller vergnüglich. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Der zweifelhafte Gast versteckt Handtücher, blickt stundenlang den Kaminschacht empor oder versenkt Wertgegenstände im Gartenteich. Die Geschichte endet schließlich mit einem Satz, der auch auf das Werk von Edward Gorey zutrifft. Seit siebzehn Jahr´n will er nicht scheiden, | er ist gekommen, um zu bleiben. Quelle: Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen Bleiben, das wird sie, die Kunst von Edward Gorey: Sein fantasievoller Nonsense, seine fein skizzierten Albträume; bleiben, wie das Gefühl, das jeden Gorey-Leser irgendwann beschleicht, das Gefühl, in der Welt selbst ein zweifelhafter Gast zu sein. Mit seinem Gorey-Buch empfängt Walter Moers solche Gäste, als ebenso aufmerksamer wie nonchalanter Gastgeber.…
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Die schönsten Bücher des Jahres und ein schwereloser literarischer Jahresrückblick
Zum ersten Mal seit drei Monaten können sie wieder den Sand erkennen, der während ihrer Fahrt über den Atlantik vom Wasser verborgen war. Den Grund des Ozeans, den sie zuletzt flüchtig an dem Morgen sahen, als sie an Bord der Baleine gingen. Niemand hat ihnen mitgeteilt, wo sie am Abend übernachten, wann sie verlobt sein würden. Man sagt Frauen nicht alles. Quelle: Julia Malye – La Louisiane „Man sagt Frauen nicht alles“, schreibt Julia Malye auf der ersten Seite ihres Romans. Die Frauen, die im Jahr 1721 Französisch-Louisiana erreichten, hatten tatsächlich keine Ahnung, wie ihr neues Leben aussehen würde. Sie hatten auch nicht selbst entschieden, die beschwerliche Reise über den Ozean anzutreten. Der Gouverneur von La Louisiane hatte Ehefrauen für die Kolonie angefordert, möglichst robust und gebärfähig. La Louisiane bedeutete Ungewissheit und Hoffnung Die Frauen, die man ausgewählt hatte, hatten nichts zu verlieren. Ihr Zuhause war die Pariser Salpêtrière gewesen, eine Anstalt für von der Gesellschaft ausgeschlossene Frauen: Psychisch Kranke, Kriminelle, Unkeusche, aber auch Waisenkinder und mittellose Frauen. La Louisiane bedeutete Ungewissheit, aber auch Hoffnung. Eine Chance. Geneviève fällt es schwer, die wechselnden Geschehnisse zu begreifen: Noch zwei Wochen zuvor war sie in einem Heim der Salpêtrière eingeschlossen. Und heute, in Paris, wird sie die Kleidung erhalten, die sie auf der anderen Seite des Atlantiks tragen wird. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Autorin Geneviève ist eine der Frauenfiguren, die Julia Malye erschaffen und zu den Heldinnen ihres Romans gemacht hat. Die junge Geneviève stammt aus der Provence, aus einer verarmten Familie. Nach dem Tod ihrer Eltern hat sie sich in Paris allein durchgeschlagen. Sie ist schwanger geworden, hat abgetrieben, hat anderen Frauen bei der Abtreibung geholfen. Deshalb ist sie in der Salpêtrière gelandet. Während der monatelangen Schiffsreise nach La Louisiane freundet sich Geneviève mit Pétronille, Étiennette und Charlotte an. Die rothaarige Charlotte ist die Jüngste – ein Waisenmädchen, das in ihrem Leben nichts anderes gesehen hat als die Salpêtrière. Bevor ihre neue Existenz als Siedler-Frauen in der Kolonie beginnt, überlebt die Gruppe einen Piraten-Überfall und das in La Louisiane grassierende Gelbfieber. Innerhalb kürzester Zeit sind dann alle unter der Haube. Pierre Duran ist der kleinste der drei Männer, die durch den Mittelgang kommen. (…) Er hat breite Schultern, ein markantes Kinn und helles Haar, das im Sommer sicher blond wird. Geneviève hat keine Angst vor ihm. Sie hat immer gewusst, dass es sie etwas kosten würde, die Salpêtrière zu verlassen. Später sollte sie sich kaum an die Zeremonie erinnern. Im Gegensatz zu Étiennette hat sie nie von Sträußen, Mitgift und Aufgebot geträumt. Noch in Paris, dachte sie nicht einmal, dass sie einmal heiraten würde. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Ein Leben an der Seite fremder Ehemänner Die 30-jährige Julia Malye erzählt mit großer schriftstellerischer Reife vom Leben der Frauen an der Seite ihrer zunächst völlig fremden Ehemänner. Sie denkt und fühlt sich tief in ihre Figuren ein. Geneviève, Pétronille, Étiennette und Charlotte machen ganz unterschiedliche Erfahrungen. Sie müssen mit Schicksalsschlägen umgehen. Ehemänner sterben, eine von ihnen kann keine Kinder bekommen. Die Frauen lernen, reifen, wachsen hinein in ihr Leben in der neuen Welt. Obwohl sie in einem patriarchalischen System den Männern untergeordnet sind, entwickeln sie eigenständige, starke Persönlichkeiten, die uns die Autorin auf faszinierende, sensible Weise nahebringt. Die Männer, ob sie nun friedfertig oder brutal sind, bleiben in dem Roman stets im Hintergrund. In La Louisiane tragen die Kapitel Frauen-Namen. Elf. Pétronille. Nouvelle-Orléans, Januar 1731. Vierzehn Monate sind seit dem Angriff der Natchez vergangen, aber Pétronille stehen die Ereignisse dieses Wintermorgens so klar vor Augen, als wäre sie gestern geschehen. Nachdem Utu’wv Ecoko’nesel gegangen war, hatten sie ihre Kräfte verlassen. Sie war allein mit ihren Kindern am Ufer des Saint-Louis (…), auf der anderen Seite des Waldes tobten die Kämpfe. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Aufstand des Natchez-Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft Autorin Julia Malye hat reale historische Ereignisse in ihren Roman eingeflochten, wie den Aufstand des indigenen Natchez-Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft. Dafür hat die Autorin auch Quellen der Natchez konsultiert. Bei ihrem Angriff im Jahr 1729 zerstörten die Kämpfer der Natchez die Siedlung Fort Rosalie, töteten Frauen, Männer und Kinder oder nahmen sie gefangen. Die Romanfigur Pétronille, die sich dank der Hilfe einer jungen Indigenen retten kann, lebt fortan mit dem Trauma des Verlusts. Ihre Nachbarin und Freundin Marie aus der Siedlung, ihr Ehemann und die Frau vom Volk der Natchez, die ihr geholfen hat – Pétronille weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, und leidet darunter. La Louisiane handelt also auch von Menschlichkeit in einer Zeit, die von Unterwerfung, Sklaverei und Krieg geprägt war. Und es ist ein Buch über unbedingte Freundschaft und Solidarität. Trotz der großen Entfernungen reißen die Bande zwischen Geneviève, Pétronille und Charlotte nicht ab. Kunstvoll verwebt Julia Malye ihre Lebensgeschichten miteinander – und imaginiert am Ende eine Liebe ohne Männer: Sie nimmt sie in die Arme, und so verharren sie, mit verhakten Füßen, und hören ihrem Atem zu, dem sturen Gesang der Grillen im Garten. Das Zimmer wirkt verändert, als hätte Geneviève es nie zuvor betreten. Sie ist sich ihres Körpers besonders gewahr, auch Charlottes, der sich zugleich vertraut und fremd an sie schmiegt. Quelle: Julia Malye – La Louisiane Roman über weibliche Selbstermächtigung Während fast eines Jahrzehnts hat Julia Malye umfassend und akribisch für La Louisiane recherchiert, unzählige Werke und Expert:innen konsultiert und die Archive von New Orleans – also Neu-Orleans – durchforstet. Vor dem französischen Buchtext verfasste sie eine Version auf Englisch. La Louisiane ist ein unterhaltsam und lebendig geschriebener Roman, der uns ein bisher kaum bekanntes Kapitel französischer Kolonialgeschichte intensiv und authentisch erleben lässt. Zugleich ist La Louisiane ein Buch über weibliche Selbstermächtigung, über Frauen, die auf subtile Weise von Objekten zu Subjekten werden und ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand nehmen.…
Warum lesen wir? Na, weil Lesen bildet, klug macht und – das weiß auch Denis Scheck bestens: „Lesen macht schön, schlank und sexy.“ Der Hauptgrund für gepflegte Lektüren bleibt aber doch: Realitätsflucht. Und in dieser kruden Welt – in der Realität des Jahres 2024 – nach D-Day-Papieren, Kriegen, Vertrauensfragen und Präsidentschaftswahlen dachte doch jeder ab und an: I was not expecting that. We were told that we weren’t allowed to swear. Quelle: Samantha Harvey bei der Verleihung des Booker Prize 2024 Na, wenn schon die Booker-Prize-Gewinnerin fluchen möchte ... Samantha Harveys preisgekrönter Roman „Umlaufbahnen“ katapultierte uns in diesem Jahr in intergalaktische Höhen. Eskapismus at its best! Sechs Astronauten auf der ISS, schwebende Existenzen auf der Suche nach Sinn, die Erde dreht sich unaufhörlich weiter. Ein bisschen Bradbury, ein Hauch Sartre – die Hölle, das sind eben die anderen. Das weiß auch Clemens Meyer. Der Deutsche Dramapreis Wir erinnern uns: der Deutsche Buchpreis. Leer ausgegangen ist Meyer für seinen Roman „Die Projektoren“ . „Verdammte Wichser!“ soll der Leipziger bei der Verleihung im Frankfurter Römer geschimpft haben. Gut, dass er im anschließenden Spiegel-Interview entspannter nachlegen konnte. Buchpreis-Geld? Dringend gebraucht – für Steuernachzahlungen und die Scheidung. Ganz schön abgehoben! Also, die Himmelskörper natürlich. Aber worum geht es in Meyers Roman eigentlich? Im Mittelpunkt: Juno und Jupiter. Juno beginnt eine virtuelle Beziehung mit einem nigerianischen Love-Scammer – Moment, hoppla! Das war ja der andere Roman, der, der wirklich gewonnen hat: Martina Hefters „Hey, guten Morgen, wie geht es dir?“ . Ja, die richtige Gewinnerin Martina Hefter – etwas in den Hintergrund gerückt durch das Meyer’sche Drama. Gekränkte Egos und ehrgeizige Nachwuchsautorinnen Ach, diese gekränkten Egos – ein bisschen wie Raumkapseln ohne Funkkontakt: abgekoppelt, schwebend und weit weg von Bodenständigkeit. Apropos Schimpfen: In den Printmedien zu zetern ist ja auch out. Es ist fast 2025! Heute macht man das auf Instagram. Caroline Wahl weiß das. Die Jungautorin katapultierte sich in diesem Jahr an die Spitze der Bestsellerlisten – schon wieder. Nach dem Erfolg ihres Debüts „22 Bahnen“ nahm Wahl der Buchpreis-Jury übel, dass es ihr Zweitling „Windstärke 17“ nicht einmal auf die Longlist schaffte. Der wütende Post geisterte durch die Insta-Literaturbubble. Gleich mit einem Kummer-Gegenrezept, sie schrieb: „auf jeden fall habe ich gehofft draufzustehen und tat weh, als kein anruf kam. dann bin ich windsurfen gegangen, hab auf dem wasser haftbefehl gesungen“. Und doch: Ganz ohne Printmedien geht’s nicht – für die Welt verabredete Wahl sich zum Porschekauf mit Frédéric Schwilden. Die beiden zog es dann aber ins KaDeWe, wo sie Champagner-trinkend Caroline Wahls Status als Dauer-Bestsellerautorin zelebrierten. Angela Merkel knackte Sachbuchrekorde Und noch eine Nachwuchsautorin knackte Rekorde: Altkanzlerin Angela Merkel. „Freiheit“, ihr Kanzlerschafts-Memoir , ging eine Woche nach Verkaufsstart 200.000 Mal über die Ladentheke. Viel Würdigung, wenig Kritik. Verlag Kiepenheuer & Witsch sagt wohl einfach nur: Danke, Merkel! Ja, ein „Cruel Summer“ – der stand ganz im Zeichen von Taylor Swift . Nichts entzieht sich ihrer Gravitation. Als Literatursuperstar füllt man keine Stadien im Swift-Stil – leider nicht einmal mit einem Literaturnobelpreis. Der Literaturnobelpreis ging nach Südkorea Han Kang – bekannt vor allem für „Die Vegetarierin“. Kein Familienstreit bei der Weihnachtsgans, sondern ein Roman über die südkoreanische Gesellschaft. Eine Frau verweigert das Fleischessen und verwandelt sich in eine Pflanze. Eine Metamorphose! Nicht zu verwechseln mit einem anderen Vegetarier der Weltliteratur mit Faible für Verwandlungen, dessen 100. Todestag 2024 begangen wurde. Kafka Jahr. Kafka war überall: ARD-Serien, Dokus, Theater. Der Kafka-Kosmos lädt auch ein Jahrhundert nach seinem Tod zum Staunen über Bürokratie, Käfer und Folterwerkzeuge ein. Brrrr, der Horror! Den gab’s auch auf der Leipziger Buchmesse, wenn auch als „Mini-Horror“ . In Barbi Markovićs Kurzgeschichten erleben Mini und Miki Beziehungs- und Familienhorror. Aber Krisen gab’s auch sonst genug auf diesem Planeten: Krieg, Antisemitismus , Klimakrise. Das Klima in der Kulturszene? 2024 glich es einer Supernova. Ein bisschen mehr Science Fiction für 2025 10 % des Haushalts will der Berliner Senat einsparen . Die Kulturmenschen demonstrierten – und man fragt sich in diesen Zeiten: Braucht es vielleicht ein bisschen mehr Science-Fiction ? Nicht nur metaphorisch, sondern so richtig. Wenn wir schon in Umlaufbahnen kreisen, könnten wir auch weiterfliegen – zum Planeten Utopia, auf dem Buchhandlungen nie schließen und nichts gestrichen wird. Mit diesem Traum: Adieu, Literaturjahr 2024! Vielleicht bleibt uns fürs nächste Jahr nur ein Wunsch: die Füße auf der Erde behalten, während der Kopf weiter kreist. In welcher Umlaufbahn ? Egal.…
Yang Ning ist Tatortreinigerin in Taipeh. Sie macht diesen Job seit einiger Zeit, sie braucht ihn – nicht nur aus finanziellen Gründen: Seit dem Selbstmord ihres jüngeren Bruders hat sie ihren exzellenten Geruchssinn verloren. Sie riecht nicht, schmeckt nichts, fühlt nichts. Mit einer Ausnahme: Sobald sie den Geruch von Leichen wahrnehmen kann, fühlt sie sich wieder lebendig. Yang Ning lehnte sich über das Bett, lag beinahe mit dem Oberkörper darauf, keuchend; atemlos strich sie mit beiden Händen über die Matratze, streichelte sie mit zitternden Fingern, die geradezu zärtlich über Insektenpanzer, sich windende weiße Maden und die undefinierbare Masse aus Urin und anderen Körpersäften glitten. Ihr Geruchssinn, seit einem Jahr mausetot, war wieder zum Leben erwacht. Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes Im Rausch der Gerüche Auf den ersten Seiten des Thrillers „Das Parfüm des Todes“ von Katniss Hsiao gibt es viele dichte Beschreibungen von überwiegend ekligen Gerüchen. Für Yang Ning sind sie wie eine Droge, von der sie immer mehr braucht. Doch dann wird sie verhaftet: Üblicherweise wird ein Tatort erst gereinigt, wenn die Polizei alle Beweise gesichert hat. Yang Ning wurde aber von einem Serienmörder an einen polizeiunbekannten Tatort gelockt und hat dort alle Spuren vernichtet. Für die Polizei ist sie damit die Hauptverdächtige. Yang Ning sucht daraufhin den Tatort abermals auf und entdeckt eine Spur, die nur sie finden kann: Den Geruch eines Parfüms. Sie erinnert sich, dass sie diesen Duft schon einmal gerochen hat: An der Kleidung ihres Bruders, als er noch gelebt hatte. „Das Parfüm des Todes“ ist ein überwältigender Thriller, der alle Sinne ansprechen, ja, regelrecht sprengen will: Mitreißend, ungehemmt und voller Anspielungen auf Filme und Literatur. Bei einem Mörder mit Faible für Düfte denkt man sofort Patrick Süskinds „Das Parfüm“ – und Katniss Hsiao unterstreicht diese Verbindung, indem sie dem unbekannten Verdächtigen den Namen Grenouille gibt. Ähnlich deutlich verfährt sie mit der zweiten großen Referenz: Wie in Thomas Harris‘ „Das Schweigen der Lämmer“ sucht Yang Ning Hilfe bei einem Serienmörder, der sie in die Denkweise solcher Täter einführen soll – und Yang Ning dann fast zärtlich „Lämmchen“ nennt. ‚Jetzt stell dir vor, du bist die Beute, und wenn du das Fürchten gelernt hast, stell dir vor, du bist der Jäger, und lerne, die Furcht zu beherrschen.‘ Er drängte sie zu lernen, Dominanz, Manipulation und Kontrolle zu genießen, die Freude an der Angst zu entdecken, das Licht im Dunkel des Bösen. Was für eine Frau, die vom Schnüffeln an einer Leiche einen Orgasmus bekam, gar nicht so neu war. Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes Westlich geprägtes Genre trifft auf taiwanische Lebensrealität Diese beabsichtigten Verweise auf genreberühmte Texte sind mehr als eine Spielerei: Katniss Hsiao verknüpft sie mit Einblicken in die taiwanische Gesellschaft. Die viel zu engen Wohnungen werden zu Tatorten. Traditionelle Werte lösen sich auf. Familiäre Bindungen zerbrechen. Der Druck, zu funktionieren, ist allgegenwärtig – ihm aber widersetzt sich Yang Ning. ‚Warum kann ich verdammt noch mal nicht bleiben, wo ich bin? Warum darf es nicht sein, dass ich mein Leben lang nicht darüber hinwegkomme?‘ Alles sprudelte aus ihr heraus. ‚Du hast dir nie überlegt, was ich wirklich will. Ich will nicht, dass es mir besser geht. Alle zerren an mir, wollen, dass ich glücklich bin. Was heißt glücklich? Warum muss ich unbedingt glücklich sein? Wie könnte ich, jemand wie ich? ›Du musst loslassen.‹ Ich kann nicht loslassen.‘ Quelle: Katniss Hsiao – Das Parfüm des Todes Denn unter der brutalen Oberfläche, dem bewussten Provozieren olfaktorischen Ekels steckt in diesem mutigen, wilden Debütroman eine intensive Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Familien und Trauer. Yang Ning verändert sich im Verlauf ihrer Nachforschungen. Sie lernt, ihre Impulsivität zu zügeln. Das macht sie gefährlicher. Und am Ende überschreitet dann auch sie eine Grenze in diesem überbordenden Debüt.…
Es ist vielleicht die kleinste große Unbekannte auf dem deutschen Pressemarkt: Das Magazin. Am Kiosk und in Bahnhofsbuchhandlungen liegt es meist, aber man muss danach fragen, denn oft geht es zwischen all den großen Zeitschriften unter, seufzt Co-Verleger Till Kaposty-Bliss. Das ist ja das Problem beim Magazin durch das kleine Format. Das hat ja immer schon das iPad-Format, also die DIN-A5-Größe. Das ist ein Vorteil, wenn man es in der Hand hält und wenn man damit rumreist oder auch in der Badewanne. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Hundert Jahre, und immer noch da In diesem Jahr ist das Magazin 100 Jahre alt geworden. Deutschlands erstes „Magazine“ – gegründet 1924 von Franz Walter Koebner und Robert Siodmak, der später als Regisseur in Hollywood Karriere machte. Das Heft war seinerzeit etwas völlig Neuartiges. Leicht im Ton, aber nicht seicht. Eine Wundertüte, gefüllt mit allem, was Spaß macht und aufregend ist. „Die einzige Zeitschrift, die sich – auch in heutigen Zeiten – durchsetzen wird. Warum? Haben Sie vielleicht Lust, wenn Sie heute etwas lesen wollen, das Risiko zu laufen, mit einem langen Roman hereinzufallen, der fünf Mark kostet? – Nein! Sie werden das Magazin durchblättern und sofort etwas finden, was Sie interessiert.“ Die erste Auflage des Magazins 1924 war umgehend vergriffen. Rasch entwickelt es sich zur erfolgreichsten Monatsillustrierten in der Weimarer Republik. Ständiger Gast auf den Covern: ein kleiner Engel. „Also diese wirklich interessante Mischung aus leichter Erotik, Tingeltangel, sehr offenen Themen, wie zum Beispiel Rauschmittel. Das war ja in den Zwanzigern ein großes Thema.“ Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Auch Marlene Dietrich stand schon Modell Ein Heft, prall gefüllt mit Berichten über Revuegirls und literarischen Geschichten. Dazwischen viele Fotos von leicht bekleideten Damen, eingefangen von Vertretern der Avantgarde-Fotografie wie Man Ray. … manchmal auch Herren, soweit ich weiß, hat das Magazin die ersten Misswahlen in Deutschland ausgerufen … Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) In der Jury: unter anderem Heinrich Mann und Carl Zuckmayer. … so was gibt’s wahrscheinlich gar nicht mehr, und was ich immer gerne erzähle, ist, dass eine damals unbekannte Dame Model beim Magazin war: Marlene Dietrich. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Unter den Nazis musste das Magazin kriegsbedingt eingestellt werden – in der DDR aber ist es dann „auferstanden aus Ruinen“. Musik andeuten Hymne? Nach dem Aufstand des 17. Juni 1953 ändert die SED ihren „neuen Kurs“ und „erlässt“ die Gründung einer Zeitschrift, die die Massen unterhält und zerstreut. „Ab Dezember 1953 erscheint ein populäres, für den breitesten Leserkreis bestimmtes, monatlich erscheinendes Magazin. Mitte November sind dem Politbüro Probeexemplare der ersten Nummer vorzulegen.“ Im Januar 1954 erscheint das erste „Magazin“ – für die DDR, eine kleine Sensation. In der bis dahin eintönigen Presselandschaft tritt ein völlig neuer Ton, eine neue Farbe, ja, und die ersten Nacktaufnahmen. Eine Katze wird zum neuen Maskottchen Anteil am sensationellen publizistischen Erfolg haben aber vermutlich auch die ikonischen Titelblätter von Werner Klemke, die von Beginn an eine große Heiterkeit ausstrahlen. Er gestaltete bis nach der Wende über 400 Cover. Auf fast allen taucht ein kleiner Kater auf – mal mehr, mal weniger versteckt. Die Fellnase wird – ähnlich wie in den Zwanzigerjahren der Engel – zum Maskottchen des Blattes. Das Magazin hat für DDR-Verhältnisse eine hohe Druck-Qualität. Für reichlich Devisen werden Kodak-Farbfilme aus dem Westen eingekauft. Das Blatt steht finanziell gut da. Kurz vor dem Mauerfall beträgt die Auflage über eine halbe Million Exemplare. Und sie hätte noch höher sein können, wenn das Papier nicht so knapp gewesen wäre. Namhafte Schriftsteller:innen schreiben für das Blatt wie Christa Wolf, Bertolt Brecht oder Arnold Zweig, das dokumentieren heute die alten Honorar-Karteikarten, in denen Till Kaposty-Bliss blättert: Auch Loriot habe ich gefunden. Die Namen sagen mir jetzt alle auch nichts, ach, guck mal, Anja Kling, die Schauspielerin, die war mal Model beim Magazin, Gerit Kling, die Schwester … Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Viel mehr als eine Ost-Zeitschrift Das Magazin sei der „Playboy der DDR“ gewesen, der „New Yorker des Ostens“. Diese Vergleiche hört Till Kaposty-Bliss aber heute nicht mehr so gerne. Für ihn ist das Blatt unvergleichlich. – Und eines der wenigen Ost-Produkte, das zumindest dem Namen nach überlebt hat. Das Magazin bleibt zwar zunächst im Bewusstsein der Menschen mit der DDR verbunden, ist aber heute mitnichten eine Ost-Zeitschrift. Es gehen zwar 75 Prozent der etwa 45.000 Auflagen starken Zeitschrift nach Ostdeutschland, aber die Themen sprechen alle an. – Gemäß dem Motto: „Hinterher ist man immer schlauer“. Das ist interessant, das sind Lebenswelten, die ich nicht kenne, das sind Biografien, die anders sind als meine, aber durchaus Inspiration bieten fürs eigene Leben. Das sind solche Themen, wo man mit einem Erkenntnisgewinn rausgeht. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Das Magazin ist sich in vielem treu geblieben. Noch immer findet man Berichte aus Kneipen oder fernen Ländern neben Reportagen, Kolumnen und Kultur-Tipps: von Sexualität ab 60 bis zum Boxen sind den Themen keine Grenzen gesetzt. Freundlich im Ton, mit Witz und Sinnlichkeit. Politik spielt praktisch keine Rolle und, ja, auch die geschmackvollen Erotik-Fotos sind geblieben. Wir sind, glaube ich, die einzige Publikumszeitschrift, also die eben nicht Erotik ist, die sowas noch macht. Das macht ja keiner mehr. Das ist ja komplett verschwunden aus der Presse. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Überraschende Themen, viel Kultur, aber keine Politik Meistens werden Themen verhandelt, über die man so noch nicht nachgedacht hat. Und es gibt persönliche Geschichten – zum Teil mit überraschenden Offenbarungen. „Ich hab einen Hochschulabschluss und verdiene so viel oder wenig, wie man im Kulturbetrieb eben verdient. Mir gehts gut, echt. Ich hab was ich brauche. Trotzdem klaue ich neuerdings. Nicht im großen Stil, so bin ich nicht. Es ist einfach so, dass die Selbstbedienungskassen, die man in Supermärkten vorfindet, eine Belastung für meine Integrität darstellen.“ Zum geistreich-verspielten Inhalt passen die brillanten Titel-Gestaltungen von Kat Menschik, Deutschlands gefragtester Illustratorin. Die sind bunt, wo es nur geht und erinnern in ihrem harten Strich an Jugendstil-Plakate – Pop-Art mit romantischem Twist. Und noch etwas ist geblieben: der Kater. Kat hat Katzen oder Kater, und just als sie für uns angefangen zu zeichnen, war ihr Kater Boris gestorben und Boris lebt weiter im Magazin. Quelle: Till Kaposty-Bliss (Verleger „Das Magazin“) Ein Geheimtipp im Westen Nicht nur für Katzenliebhaber ist das Magazin also ein echter Geheimtipp. Und wer nicht am Kiosk suchen will, der verschenke doch einfach last minute ein Abo von „Das Magazin“ – als Überraschung für Kulturinteressierte unterm Weihnachtsbaum - „Hinterher ist man immer schlauer“, versprochen.…
1 lesenswert Magazin: Mit Büchern von Ottessa Moshfegh, Rita Bullwinkel, zwei literarischen Magazinen und einem Hörbuch von Carsten Henn 54:54
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Bücher für die Zeit „zwischen den Jahren“ sowie zwei literarische Magazine als Geschenktipps
In „Der Rabe“ geht es um einen Raben, der um Mitternacht einen um seine verstorbene Geliebte trauernden Mann besucht. Es zählt zu den bekanntesten US-amerikanischen Gedichten. Neben den zahlreichen Übersetzungen, die es bereits zu „Der Rabe“ gibt, entschied sich Andreas Nohl mit seiner Neuübersetzung, Edgar Allan Poes Gedicht in Prosa, also nicht in Reimform, zu übersetzen. Geistesverwandtschaft zwischen Baudelaire und Poe In Edgar Allan Poe entdeckte der Herausgeber, Charles Baudelaire, einen Geistesverwandten. Mit „Die Blumen des Bösen“ verfasste Baudelaire selbst einen lyrischen Grusel-Klassiker. SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck ist in die Welt von Edgar Allan Poe und seinem Förderer Charles Baudelaire eingetaucht.…
Die Erzählerin in Ottessa Moshfeghs Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“ lässt sich von einer schrägen Psychiaterin ein buntes Sortiment an Medikamenten verschreiben, um abzuschalten und ein ganzes Jahr im Dämmerzustand zu verbringen. Verrückt spielendes Unterbewusstsein Doch dann gibt es Schwierigkeiten. Die Schläferin kann nicht mehr schlafen und erhöht die Medikamentendosis. Darauf beginnt ihr Unterbewusstsein verrückt zu spielen und lässt sie seltsame Dinge tun. Für Katrin Ackermann ist diese ungewöhnliche Geschichte der perfekte Lesestoff für die Zeit zwischen den Jahren. Ein Beispiel sollte man sich an diesem Winterschlaf jedoch nicht nehmen.…
Wir steigen in den Ring – beim fiktiven „Daughters of America Cup“ in Reno, Nevada. Zwei Tage, zahlreiche Kämpfe, acht Boxerinnen. Jede von ihnen weiß genau, warum sie im schmuddeligen „Bob’s Boxing Palace“ antritt. Jedes Kapitel - ein Kampf „Schlaglicht“, das Debüt der US-amerikanischen Autorin Rita Bullwinkel, erzählt dramaturgisch klar strukturiert und in packenden, kurzen Kapiteln von diesem Wochenende. Jedes Kapitel ist ein Kampf – und jeder Schlag hat Gewicht. Denn als Leser und Leserinnen haben wir einen Vorteil, den man üblicherweise beim Sportschauen nicht hat: Wir erleben nicht nur das körperliche Spektakel im Ring, sondern auch die inneren Kämpfe der Boxerinnen. Wir blicken in ihre Köpfe – sehen Wut, Entschlossenheit, Ängste und unbändiges Selbstbewusstsein. Boxerstereotype fehlen komplett – zum Glück Was „Schlaglicht“ zu einer besonderen Lektüre macht, ist auch das, was fehlt. Bullwinkels Roman kommt ganz ohne Boxstereotype aus. Hier gibt es keine „Eye of the Tiger“-Rockys, keine Nummerngirls und keine „Million Dollar Babys“. Stattdessen zeichnet die Autorin komplexe, vielschichtige Sportlerinnen. Das Turnier wird zum Brennglas für die Lebensrealitäten dieser jungen Frauen. Jede Boxerin bringt ihre Geschichte mit Iggy Lang hat nur ein Ziel: „die Weltbeste in etwas“ zu werden. Andi denkt immer wieder an den Jungen, der unter ihrer Aufsicht im Freibad ertrank. Und Artemis Victor will endlich aus dem Schatten ihrer erfolgreichen Schwester treten. Jede bringt ihre eigene Geschichte mit in den Ring. Jedes Match wird zur wortlosen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Bullwinkels Sprache ist kraftvoll und präzise wie ein perfekter Schlag – stark, roh und furchteinflößend. Doch das Leben geht weiter, auch nach den Kämpfen. Eine der Frauen kann später, nach zu vielen gebrochenen Fingern, nicht einmal mehr eine Tasse halten. Andere werden Managerinnen, Buchhalterinnen, vielleicht Hochzeitsplanerinnen. Was bleibt, ist die Erinnerung an die Zeit im Ring. „Schlaglicht“ ist ein Roman über Kampfgeist, Verletzlichkeit und das Ringen um den eigenen Platz in der Welt. Das Boxen wird zur Metapher für das Leben: ein Kampf, in dem man sich beweisen muss. Ein Buch über die Suche nach Identität – und eines, das nachhallt wie ein harter linker Haken.…
Sie kannte die Nächte von Berlin, New York und Jerusalem. Als junge Dichterin saß Mascha Kaléko an den Künstlertischen des Romanischen Cafés. Im New Yorker Exil dachte sie nachts an Deutschland und vermisste den Frühling an der Spree. Und in Jerusalem, wo sie seit 1959 mit ihrem Mann lebte, litt sie am Heimweh nach Orten, die nur noch im Traum existierten. In ihrem Gedicht "Emigranten-Monolog", das in New York entstand, schrieb sie: Mir ist zuweilen so als ob Das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach ... Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle Exil ohne Ende In diesen Versen zeigt sich die Dramatik des Lebens von Mascha Kaléko, denn für sie nahm das Exil als Zustand und Gefühl nie mehr ein Ende. Trotzdem geriet ihr Werk nicht so in Vergessenheit, wie gelegentlich beklagt wird. Nach dem Krieg hatte sie immer wieder Auftritte in der Bundesrepublik. Nach ihrem Tod gab es Neuauflagen, und 2012 erschien bei dtv eine vierbändige Ge-samtausgabe. Darauf basiert der schöne Auswahlband, den Daniel Kehlmann nun zum 50. Todestag der Dichterin zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen hat. Er trägt als Titel die Gedichtzeile "Ich tat die Augen auf und sah das Helle". Eine Großstadtlerche im Dichterwald Begonnen hatte alles mit einem fulminanten Start. Bereits mit Anfang zwanzig stieg Mascha Kaléko vom Bürofräulein zur jungen Dichterin auf. Sie beherrschte den Stil der Neuen Sachlichkeit, genauso verstand sie sich jedoch auf ganz eigene Tonlagen zwischen Sarkasmus, Ironie und Wehmut, wenn sie das Großstadtleben der zwanziger Jahre in Verse fasste. Ein Kinoliebling lächelt auf Reklamen für Chlorodont und sieht hygienisch aus. Ein paar sehr heftig retuschierte Damen blühn bunt am Hauptportal vorm Lichtspielhaus. Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle Mascha Kalékos Gedichte erschienen in den führenden Berliner Feuilletons, sie wurden auf Kabarettbühnen gesungen und von der Verfasserin selbst mit viel Lampenfieber vorgetragen. "Ich sang einst im deutschen Dichterwald, / Abteilung für Großstadtler-chen", schrieb sie später. Sie konnte so abgebrüht sein wie Erich Kästner, mit dem sie oft verglichen wurde, und von den neuen Frauen jener Zeit verstand sie ebenso viel wie Irmgard Keun. Den "nächsten Morgen" nach einer illusionslosen Liebesnacht beschreibt sie so: Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine. – Es roch nach längst getrunkenem Kaffee. Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune. Mir ahnte viel ... Doch sagt' ich nur das Eine: »Ich glaub', jetzt ist es höchste Zeit! Ich geh ...« Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle 1933 war es vorbei mit der Leichtigkeit Die "paar leuchtenden Jahre", wie sie ihre Berliner Zeit nannte, waren 1933 vorbei, obwohl es noch eine Weile dauerte, bis die Nazis in Mascha Kaléko die Jüdin und ihr literarisches Feindbild, die "Asphaltliteratin" identifizierten. 1938 floh sie mit Mann und Sohn in die USA und verdiente Geld mit Reklametexten. Von da an überwogen in ihren Gedichten die melancholischen Töne, die wehmütigen Rückblicke, die bitteren Nuancen. Naturbilder wurden für sie gleichermaßen zu Symbolen für das Leiden an Deutschland wie das Heimweh danach. Im Gedenken an die Opfer der Nazis beschrieb sie deutsche Eichen und Äcker als hassenswert. Viel öfter aber waren es die Dramatik von Exil und Fremdheit, die sie in Naturszenen spiegelte. Im Gedicht "Herbstlicher Vers" heißt es: Nun schickt der Herr das Leuchten in die Wälder. Grellbunte Brände lodert jedes Blatt. Wie welkt das Herz dem wandermüden Fremden, Der nur die Einsamkeit zur Heimat hat. Quelle: Daniel Kehlmann (Hg.) – Mascha Kaléko. Ich tat die Augen auf und sah das Helle Auch wenn Mascha Kaléko nicht zu den ganz großen sondern, wie sie selbst sagte, zu den "zweitbesten Namen" zählt, wird niemand, der einmal davon gehört hat, ihre Verse und ihr Schicksal vergessen.…
Jeder Mensch braucht einen sicheren Ort. Das konnte ein großer Kleiderschrank sein, in den man komplett hineinpasste, eine morsche Bank an einem abgelegenen See oder ein Schrebergartenhäuschen mit bollerndem Holzkohleofen. Emily hatte eine Bibliothek. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Und das ist nicht irgendeine Bibliothek, sondern die Anna Amalia Bibliothek in Weimar mit ihrem berühmten Rokokosaal. Autor Carsten Henn hat für seine jugendliche Heldin Emily ein namhaftes, ehrwürdiges Setting ausgesucht, das er ansonsten aber sehr frei behandelt. Er erfindet noch einen Nachfahren des nicht weniger berühmten Johannes Gutenberg, Eurich von Gutenberg, der die Bibliothek erbaut haben soll. Dort steht ein Ohrensessel, auf dem Emily lesend ihre Nachmittage verbringt. Eines Tages aber dringt ausgerechnet der Lehrer, den sie am wenigsten leiden kann, in ihren geschützten Ort ein. Dr. Dreskau ist streng, gemein und ungerecht – die schlechteste aller Kombinationen. Und nun beobachtet Emily heimlich, wie eben dieser Dr. Dreskau in ihrer Bibliothek ganz offensichtlich etwas sucht. Buch um Buch zog er hektisch hervor, jedes wurde wütender zurückgeschoben. Beim 31. geschah etwas Ungewöhnliches: Die Wolkendecke riss ein wenig auf, und die Sonne schickte einen warmen Strahl durch eines der Fenster. Nur ein, zwei Sekunden lang. Im Bücherregal glitzerte es golden. Als Emily genauer hinsah, war es schon wieder verschwunden. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Emily entdeckt einen geheimen Raum voller Merkwürdigkeiten Emilys Neugier ist geweckt. Am nächsten Tag gelingt es ihr gemeinsam mit ihrem Freund Frederick nach einigen Mühen tatsächlich, das zu finden, was das Glitzern ausgelöst hat: Einen goldenen Füllfederhalter. Mehr noch: Das edle Schreibgerät lässt sich mit einer Drehung in einen Schlüssel verwandeln und dieser wiederum passt in ein Gemälde, das Eurich von Gutenberg zeigt. Ehe sie sich versieht, steht Emily in einem gewaltigen Raum hinter dem Rokokosaal, einer Art Negativabbildung: Dort ist es Nacht, nicht Tag, die Regale sind schwarz, nicht weiß. Und er scheint schier unendlich zu sein. Noch etwas war merkwürdig in diesem Raum, der vor Merkwürdigkeiten strotzte. Die Einbände der Bücher changierten in den unterschiedlichsten Farben. Als könnten sie sich nicht richtig für eine einzige entscheiden und probierten ständig neue aus. Im Zentrum dieser Welt stand eine goldene Schreibmaschine auf einem silbernen Tisch. Davor ein kupferfarbener Stuhl. All das funkelte, als wäre es gerade erst poliert worden. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Die goldene Schreibmaschine kann Bücher neu schreiben Schauspieler Stephan Benson macht genau das, was ein guter Erzähler tun sollte: Selbst in Beschreibungen macht er die Emotionen der beobachtenden Figur hörbar – wie hier die der staunenden Emily. Diese ahnt nicht, dass sie genau das gefunden hat, wonach ihr Lehrer Dr. Dreskau so verzweifelt gesucht hat: eine Erfindung Eurich von Gutenbergs, eine Maschine, die Mechanik und Magie miteinander verbindet. Emily kehrt nun immer wieder in die geheime Bibliothek zurück und findet heraus, wozu die goldene Schreibmaschine zu gebrauchen ist: Emily kann darauf einzelne Seiten bestehender Bücher neu schreiben und mit einem beiliegenden Bastelset in das Exemplar in der geheimen Bibliothek einkleben. Daraufhin verändern sich sämtliche Exemplare dieses Buches – und: Niemand erinnert sich an das Original. Emily ist begeistert und schreibt erstmal das Ende eines ihrer Lieblingsbücher zum Happy End um. Zu Hause überprüft sie, ob es geklappt hat: Auf der letzten Seite dann: Drei getrocknete Tränen. Wie konnte das sein? Sie hatte beim Lesen nicht geweint. Ganz bestimmt nicht! Sie war wütend gewesen. Dann begriff Emily. Sie hatte ihre eigene Vergangenheit verändert. Ungläubig berührte sie die Worte, als wären sie aus Träumen gewoben und könnten bei Berührung zerfallen. Die goldene Schreibmaschine war ein mächtiges Werkzeug. Wie hatten sich wohl die beiden Folgebände verändert? Emily griff nach ihnen, doch sie standen nicht an ihrem Platz. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Was passiert, wenn man Romane umschreiben kann? Es gibt sie nicht mehr – Emilys Happy End hat die Fortsetzungen obsolet gemacht. Hier zeigt sich die Macht der goldenen Schreibmaschine und der durchaus aktuelle Bezug dieses Hörbuchs. Sie könnte auch Diskussionen zum Beispiel darüber, ob man Begriffe wie das N-Wort aus alten Kinderbüchern ausmerzen sollte, verhindern. Einmal umgeschrieben und es gäbe noch nicht einmal eine Debatte. Diese Maschine öffnet Geschichtsklitterung Tür und Tor, doch auf ein rein politisches Gebiet begibt sich Autor Carsten Henn nicht: Sachbücher und Zeitungen kann Emily nicht umschreiben. Aber auch die veränderten Romane haben erstaunliche Effekte: Mitschüler verhalten sich ihr gegenüber plötzlich ganz anders. Und leider beachtet ihr Freund Frederick sie gar nicht mehr. Emily kann die Folgen der veränderten Geschichten schlecht kontrollieren. Manchmal findet sie sich selbst kaum in ihrer neuen Realität zurecht. Dazu kommt: Dr. Dreskau ist ihr auf den Fersen. Günther Dreskau wurde von vielen Menschen unterschätzt. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ein Geschichts- und Mathelehrer und damit ein historisch gebildeter Mann und logisch denkender Mensch so verschlagen sein konnte. Und erst recht nicht, dass er eine Schülerin verfolgen würde. Quelle: Carsten Henn – Die goldene Schreibmaschine Ein Abenteuerhörbuch mit idealem Sprecher Und dann wird Autor Carsten Henn doch politisch: Dr. Dreskau will sich um jeden Preis Zugang zur goldenen Schreibmaschine verschaffen, um seine Werte wie Disziplin, Heimat und Tradition über manipulierte Romane im Gedankengut der Gesellschaft zu verankern. Allein Emily kann das verhindern, da sie die Einzige ist, die sich an die alte Welt erinnern wird. Carsten Henn erzählt mit der „goldenen Schreibmaschine“ sehr spannend über die Macht von Ideen und Geschichten. Stephan Benson ist der ideale Interpret dafür. Seine Stimme erinnert an Christian Brückner und wie er hat Stephan Benson den Text voll im Griff, macht die erzählenden Passagen genauso lebendig wie die Figuren, die er selbstverständlich eindeutig charakterisiert. Das macht „Die goldene Schreibmaschine“ zu einem großartigen Abenteuerhörbuch. Pass auf, was Du liest, heißt die Botschaft – aber diese Geschichte sollte auf jeden Fall dabei sein.…
22 Gramm kreischende Sägen Was hätten Sie denn gern? 22 Gramm kreischende Sägen? 24 Gramm Sekt und Sardellen? 22 Gramm folgenschwere Beobachtungen - oder doch lieber 24 Gramm Liebe in Zeiten der Zombie-Apokalypse? Diese feine Auswahl bietet kein großes Internetkaufhaus, sondern ein Magazin für Kurzgeschichten: Das Gramm. Etwa so groß wie die gelben Reclam-Heftchen steckt in jeder Ausgabe eine erlesene, bisher unveröffentlichte Kurzgeschichte. Der Name „Das Gramm“ zeigt die Idee dahinter: ein Heft, eine Geschichte, ein Häppchen Literatur, das aber keineswegs Fast Food ist, sondern lange nachhallen und satt machen möchte. Und der Name hat noch eine zweite Bedeutung Es gibt da natürlich auch den etymologischen Hintergrund, also das Wort „Gramm“ kommt aus dem Griechischen „Gramma“, das bedeutet so viel wie „Geschriebenes“. Man kennt es aus Autogramm, Telegramm oder auch aus dem Wort Grammatik. Und dann ist eben ein Gramm natürlich auch vor allem eine Einheit und ein Gramm als Gewichtseinheit finde ich als etwas sehr Sympathisches. Es ist sowas Leichtes und nichts Belastendes und doch ist es da. Es ist spürbar und kann durchaus einen Unterschied machen. Und das finde ich, passt gut zu dem, was dieses Magazin auch ist. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ … sagt Patrick Sielemann. Er ist hauptberuflich Lektor beim Kein und Aber Verlag und er ist der Herausgeber von „Das Gramm“. Anstoß für das Magazin war eine Frage: In diesem Fall war es die Frage, wie man mehr Menschen für das Lesen begeistern kann. Oder im Umkehrschluss, was hält Menschen eigentlich vom Lesen ab? Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Das Gramm will Lesehürden nehmen Patrick Sielemann fragte nach bei Familie und Freunden - und hörte meist dieselben drei Gründe: Erstens man hat zu wenig Zeit. Zweitens, man weiß nicht genau, was man lesen soll. Und vielleicht Drittens noch, wenn man sich entschieden hat, ist es vielleicht nicht das Richtige für einen. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Diese drei Lesehürden, wie Patrick Sielemann sie nennt, möchte Das Gramm nehmen. Das Zeitproblem ist schnell gelöst, denn Kurzgeschichten sind von Natur aus kurz. Und anstelle von einem dicken Kurzgeschichten-Sammelband gibt es bei Das Gramm alle zwei Monate eine Geschichte. Thematisch keine Grenzen gesetzt Die anderen beiden Lesehürden – was soll ich lesen und trifft es meinen Geschmack – löst Das Gramm durch eine feine Auswahl an Texten: Von der Horror- bis zur Liebesgeschichte – thematisch gibt es keine Grenzen. Wichtig ist für Patrick Sielemann die Zugänglichkeit: Nicht an der Oberfläche bleiben, sondern den Leser und die Leserin an die Hand nehmen und in den Abgrund führen, das mache einen guten Text aus, sagt der Herausgeber. Das finde ich spannend an Texten, wenn man so…Da ist jemand und bittet einen in sein Haus hinein und winkt und ist freundlich und dann sieht man doch die Risse und den Schmutz unter dem Sofa. Das ist sowas, was ich an Texten spannend finde, wenn man erst mal reingelockt wird und dann doch irgendwie überrascht oder sogar vor den Kopf gestoßen wird. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Wie im aktuellen Heft: „Dort sind auch Bären“ von Andrej Schulz. Darin verfolgt ein Mann Tag und Nacht den Livestream aus einem Bären-Gehege in Rumänien. Er sorgt dafür, dass die Zuschauerzahl im Livestream nie auf null runtergeht. Und er kennt alle Bären beim Namen. Besonders verbunden fühlt er sich dem Bären Bolik. Er kommt aus der Ukraine, wurde aus einem zerbombten Zoo gerettet. Etwas scheint in Bolik zerbrochen zu sein, denn er hebt kaum den Kopf. Auch das Leben des Ich-Erzählers der Geschichte ist von Splittern und Einsamkeit durchzogen. Andrej Schulz wurde in der Ukraine, in Donezk geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Er ist einer der vielen neuen literarischen Stimmen, die man Dank Das Gramm entdecken kann. Denn neben großen etablierten Namen wie Clemens J. Setz, Ulrike Draesner oder Judith Herrmann, die alle schon eine Kurzgeschichte bei Das Gramm veröffentlicht haben, bietet das Magazin auch unbekannten Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, sein Skript einfach einzuschicken. Auf der Suche nach literarischen Goldnuggets Und wir bekommen auch viel geschickt und aus diesen vielen Einsendungen haben wir auch schon was herausgefischt und gefunden. Die Suche nach tollen Texten ist immer so ein bisschen wie eine Goldsuche. Man hat so einen Berg an Texten vor sich und man sucht den einen Besonderen, also das Goldnugget. Und auf dem Weg dorthin findet man durchaus viele toll aussehende Mineralien oder auch Edelsteine. Aber man will eben das Goldnugget. Und das meine ich nicht als materiellen Wert, sondern als ideellen Wert. Man will diesen einen Text, der einen begeistert und überrascht. Und der so strahlt, dass man weiß, man hält was Besonderes in den Händen. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ Besondere Gestaltung Die Geschichte von Andrej Schulz ist so ein Goldnugget. Was die Ausgaben von Das Gramm ebenfalls besonders macht, ist ihre Gestaltung. Sie sind wahre Sammelobjekte: handliches Format, kräftiges Papier, schöne Cover. Auf dem Cover der nächsten Ausgabe - Heft Nummer 25 - sieht man eine Skyline und die Silhouette einer Frau, die vor dem nächtlichen, liladunklen Himmel auf einem Hochhaus sitzt. Im Heft: Eine Kurzgeschichte von Ulrike Sterblich. Die Ausgabe heißt „Verliefen sich im Park“ und spielt in New York. Zum ersten Mal eine Das Gramm Geschichte, die in New York spielt. Es handelt von einer Familie, die dort einen Urlaub verbringen möchte und dort die wichtigsten Touristenattraktionen abklappert. Und irgendwie läuft alles ganz anders, als wie sie es sich vorgestellt haben. Quelle: Patrick Sielemann, Herausgeber „Das Gramm“ 22 Gramm märchenhafte Begegnungen verspricht uns diese Kurzgeschichte. Ein gutes Pfund wiegen alle 25 Hefte zusammen. Sie zeigen: Das Gramm ist festes Gewicht im deutschsprachigen Magazin-Markt. Und verhilft so der etwas stiefmütterlich behandelten Kurzgeschichte zu einem Revival. Vor allem aber gibt es nun grammweise schwere Gründe, direkt mit dem Lesen loszulegen.…
1 lesenswert Quartett mit Büchern von Behzad Karim Khani, Ljuba Arnautović, Clemens J. Setz und Gian Marco Griffi 56:05
Literaturexperte Denis Scheck moderiert die Gesprächsrunde mit Ijoma Mangold, Kulturkorrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT. Diesmal vervollständigen das Quartett die Schriftstellerin Nele Pollatschek und die Kulturjounalistin und Autorin Shelly Kupferberg.
Am Berliner Max-Delbrück-Centrum arbeitet der US-Amerikaner Russ Hodge, der seit 35 Jahren in Deutschland lebt, als Kommunikationstrainer und Wissenschaftsjournalist. Nach einer Konferenz 2019 über besondere Tiere in der Forschung beschloss er, ein Buch zu schreiben. Er hatte so viele interessante Wissenschaftler getroffen, die über so phantastische Tiere wie Nacktmulle, Nachtigallen oder Axolotl arbeiten, dass ihm all die Geschichten nicht mehr aus dem Kopf gingen. Das Ergebnis ist ein großformatiges, farbenprächtiges Kompendium voller Lebenskünstler – Menschen und Tieren. Gleich das erste Kapitel ist kleinen, schrumpeligen Gesellen gewidmet: Nacktmullen. Leben in einer ausgeklügelten Sozialstruktur: Nacktmulle Die wenigen auf ihrer rosa Haut verteilten Haare dienen als Stimmgabeln, um Vibrationen aufzufangen, wenn sie durch die dunklen Gänge unter der äthiopischen Erde flitzen. In vielerlei Hinsicht faszinierende Wesen. Russ Hodge sagt: „Sie haben ihre eigene Sprache, sie können ohne Sauerstoff leben, sie kriegen nie Krebs, das ist ein Tier, das 36, 37 Jahre lebt, jedes Tier ist eine Welt für sich, ist eine Art Community von Eigenschaften, die zusammenarbeiten, um zu überleben in Harmonie mit ihrer Umwelt.“ So wie bereits seit 350 Millionen Jahren der Axolotl aus Mexiko. Übersetzt „Wassermonster“ heißt der überaus friedliebende weiße Schwanzlurch mit dem rosa Kranz aus Kiemenästen um seinen Kopf, dessen Körperteile wieder nachwachsen, wenn sie verletzt oder abgerissen werden. Die meisten Axolotl leben weltweit in Forschungslaboren, wo sie gezüchtet werden, weil sie für die Regenerationsmedizin von großem Interesse sind. In Freiheit in ihrer Heimat nahe Mexiko-City hingegen kommen sie nur noch sehr selten vor. Ausgestattet mit erstaunlichen musikalischen Fähigkeiten: Nachtigallen Eine andere Hauptstadt allerdings bietet beste Bedingungen für eine weitere sehr besondere Spezies: Nachtigallen. Mehr als 3000 fühlen sich in Berlin wohl und lassen die 2500 öffentlichen Parks der Stadt mit ihrem sommerlichen nächtlichen Gesang zu Freiluftkonzertsälen werden. Bis zu 200 Strophen kann das Lied einer Nachtigall umfassen. Oder sie überrascht mit ganz anderen musikalischen Fähigkeiten. Russ Hodge ließ sich darüber von der Künstlerin Ines, einer der vielen Nachtigallbegeisterten, erzählen und beschreibt es in seinem Buch: „Als sie eines Tages auf dem Weg nach Hause war, hörte sie aus einer Hecke eine Nachtigall singen. Sie sang etwas, und Ines antwortete ihr. ‚Ich brachte ihr eine Zeile aus einer Nachtigallenarie von Händel bei‘, erzählt sie. ‚Am Ende sang sie die Zeile besser als ich. Sie hatte Händel verbessert‘.“ Neben all den interessanten Fakten und Anekdoten über die Tiere gerät Russ Hodge nie die große Gefahr aus dem Blick, die für all diese Lebenskünstler besteht – von Grizzlybär über Eisfisch bis Schleiereule oder Bärtierchen. Der Autor sagt: „Die sind alle perfekt angepasst, aber dafür hatten sie Millionen von Jahren Zeit. Da wir diese Prozesse von Klimaentwicklung so beschleunigt haben, werden sie nicht mehr die Zeit haben, diesen natürlichen Prozess von Anpassung hinzukriegen.“ Phantasievolle Bildtafeln für Augen, Herz und Hirn So berichtet Russ Hodge nicht nur viel Wissenswertes von besonderen Tieren und den Forschern, die sie in Laboren züchten und erforschen oder in freier Wildbahn aufspüren. Er zeigt auch, wie fragil ihre, unsere Welt ist. Ungemein bereichert wird der Fundus an Fakten durch die farbenfrohen Illustrationen von Kat Menschik. Sie hat sich an Dioramen von Naturkundemuseen orientiert und große, phantasievolle Bildtafeln geschaffen, auf denen in türkisblauem Wasser ein Axolotl neben einer bunten mexikanischen Totenmaske schwimmt. Oder über der rosa Nacktmulletruppe in ihrem dunklen unterirdischen Gang zwei afrikanische Frauen in bunten Kleidern unter orangefarbenem Himmel auf eine Neubausiedlung am Rande der Wüste blicken. Ein im wahrsten Wortsinne bildschön gestaltetes Buch für Augen, Herz und Hirn.…
Wer sich fleißig durch die letzten Jahrhunderte Literaturgeschichte bewegt, wird einer Spezies von Autoren eher selten begegnen: den weiblichen. Nicht dass schreibende Frauen gänzlich inexistent gewesen wären. Nur fanden sie selten Eingang in den Kanon. Erst in der jüngsten Vergangenheit werden längst vergessene Autorinnen häufiger in ein helles Licht gerückt, gewürdigt durch Neuveröffentlichungen oder erstmalige Übersetzungen. Die Friedenauer Presse hat uns im Frühjahr mit Maria Messina bekannt gemacht, einer 1887 in Palermo geborenen Erzählerin, die auch in Italien vergessen war, bis ihr sizilianischer Landsmann Leonardo Sciascia in den frühen Achtzigern auf sie aufmerksam machte. Nun folgt nach „Das Haus in der Gasse“ ihr 1923 erstmals erschienener Roman „Un fiore che non fiorì“ , in dem eine junge, zunächst eigensinnig wirkende Frau doch ganz klassisch die Liebe sucht, an den bürgerlichen Konventionen ihrer Zeit verzweifelt und an der Unerfülltheit ihrer Leidenschaft buchstäblich zugrunde geht. Ein Buch, zwei Übersetzungen Das Besondere: Es liegen nun gleich zwei Übersetzungen des Romans vor. Christiane Pöhlmanns bei der Friedenauer Presse vorgelegte Übersetzung heißt „Eine Blume ohne Blüte“; jene von Leopold Federmair bei PalmArtPress „Eine Blume, die nicht blühte“. Der eine Titel nimmt sich eine größere poetische Freiheit; der andere hält sich an die ursprüngliche Relativsatz-Konstruktion. Auch der erste Satz des Buches hat in den deutschen Versionen zwei Varianten: Stefano reichte es! Quelle: Maria Messina – Eine Blume ohne Blüte So bei Christiane Pöhlmann. Bei Leopold Federmair lautet er hingegen: Stefano war sehr verärgert! Quelle: Maria Messina – Eine Blume, die nicht blühte Kreuzdämliche Romantiker Was sich hier schon andeutet, zieht sich durch das Buch: Pöhlmanns Übersetzung ist spielerischer, entfernt sich zwar nicht vom Original, aber interpretiert es freier und ausdrucksvoller. Federmair bleibt näher am Text, wirkt aber zugleich auch ein bisschen braver. Es ließen sich viele Stellen finden, die das belegen, nur zwei seien zitiert. Pöhlmann: Nun allerdings trottete er mit dem Kopf voran, als trüge er seine Gedanken huckepack. Und bei Federmair: Er ging mit nach vorne gerecktem Kopf, als trüge er die Gedanken auf seiner Schulter. Pöhlmann: Und die Bewunderer im Klub oder beim Tennis – die um keinen Preis als »kreuzdämliche Romantiker« abgestempelt werden wollten – stellten sich mit ihr in einer Weise auf freundschaftlichen Fuß, als wäre sie ein junger Mann. Federmair: (…) die Bewunderer vom Club und vom Tennis wiederum behandelten sie – um nicht als „dümmliche Romantiker“ zu gelten – auf saloppe Art und Weise, ganz so, als wäre sie ein junger Mann. Konventionen hinter sich lassen Beide Übersetzungen sind gelungen – wenngleich jene von Pöhlmann der Geschichte der für ihre Zeit ziemlich emanzipierten Franca gerechter zu werden scheint, ihre Keckheit und ihre Regelverstöße stärker in der Sprache zum Klingen bringt. Aus der Perspektive von Franca ist der Roman zum allergrößten Teil erzählt: Sie wächst bei ihrer Tante in einer Kleinstadt bei Florenz auf, ihr Vater lässt ihr gehörige Freiheiten – allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze der Schicklichkeit. Mit ihren Freundinnen bildet sie eine verschworene Gemeinschaft; zumindest so lange nicht der Ernst des Lebens droht. Der bedeutete auch in den 1920er Jahren: heiraten, Kinder kriegen, einem Mann treu ergeben sein – genau die faschistische Ideologie, die in der Entstehungszeit des Romans die Gesellschaft prägte. Franca sträubt sich einerseits dagegen – und wird zugleich von der Liebe zum Sizilianer Stefano in einen Strudel von Begehren und Zweifel gerissen. Dieser Stefano allerdings scheint einer Welt verhaftet, die sie eigentlich hinter sich lassen will. Dass Messina ihrer Heldin zwar Eigensinn zugesteht, sie aber dann doch auf gewisse Weise zum Opfer überkommener Vorstellungen macht, mag man bedauern. Aber auch das ist ein Statement: Messina beschreibt einen Kampf um ein selbstbestimmtes Leben, der noch ganz am Anfang stand. Von diesen Anfängen heute sogar in zwei Übersetzungen einer fast vergessenen Autorin lesen zu können, zeigt: Der feministische Kampf ist zumindest in Teilen erfolgreich weitergegangen.…
Zu den Stoffen von Science-Fiction-Filmen gehört, dass die Menschen nicht nur von fremden Wesen angegriffen werden, sondern auch von ihren eigenen Geschöpfen. Meistens sind es Roboter, Replikanten oder Cyborgs, die nach der Weltherrschaft greifen. Aber manchmal geht die Revolution auch von ganz alltäglichen Maschinen aus. Dann verhalten sich die Küchengeräte nicht, wie sie sollen, und werden mit einem Mal bedrohlich. Die Revolution der Maschinen Die meisten dieser Szenarien mögen abwegig sein, aber die Angst dahinter ist es nicht. Mit der intelligenten Technik, die unser Leben zunehmend durchdringt, steigt auch das Risiko eines Kontrollverlusts. Denn in Zukunft werden uns die technischen Geräte immer häufiger Entscheidungen abnehmen. Sie werden besser Autofahren können als wir, klüger mit unserem Geld umgehen und vielleicht sogar die beständigeren Freunde sein. Obwohl wir zurzeit eine Revolution mit Ansage erleben, sind wir auf unsere eigene Zukunft schlecht vorbereitet. Aus diesem Grund hat der Philosoph Christian Uhle einen Ratgeber für das Zusammenleben von Menschen und Maschinen vorgelegt. In seinem Buch „Künstliche Intelligenz und echtes Leben“ analysiert er die Verheißungen der neuen Technik und geht der Frage nach, wie wir ein realistisches Verhältnis zu ihnen finden können: Ob privat oder am Arbeitsplatz – dank autonomer Staubsauger, digitaler Tools und smarter Helferlein gewinnen wir angeblich mehr Zeit für Freundinnen oder Kunden. Das klingt gut. Aber ist es auch realistisch? Werden diese Versprechen eingelöst? Werden wir in zehn Jahren dank KI, automatisierter Produktion und neuer Services effizient, fokussiert und entspannt durch den Tag schweben? Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Die künstlichen Gefühle Mit wenigen philosophischen Handgriffen erklärt Uhle, warum diese Annahme naiv ist. In einer modernen Welt wie der unsrigen wird jede gesparte Zeit sofort wieder in neue Unternehmungen investiert. Längst haben uns die Errungenschaften der Technik auf den endlosen Pfad ständiger Verbesserungen getrieben. Davon abzuweichen, ist gar nicht so einfach. Oft meinen wir, selbst in unserer Freizeit effizient sein zu müssen. Sorgsam geht Uhle unser alltägliches Leben durch, entlang der Sehnsüchte nach Geborgenheit und Glück. Die Technik ist nicht nur weit effizienter als wir Menschen, sie hat sich auch bereits als eine bessere Managerin unserer eigenen Gefühle erwiesen. Algorithmen suchen uns die passenden Partner aus, ahnen unsere Stimmungstiefs lange vor uns selbst und reden mit uns, wenn sich alle anderen bereits abgewendet haben: In der absehbaren Zukunft werden viele Menschen einen eigenen digitalen Assistenten nutzen, der sie vom Moment des Aufstehens bis zum Schlafengehen durch den Tag begleitet, der immer für sie da ist, der alles weiß und der ihnen das Gefühl gibt, verstanden zu werden und niemals mehr allein zu sein. Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Das zweite Leben Viele werden diese neue Welt künstlicher Gefühle vielleicht abstoßend finden. Aber schon bald wird sie uns vertraut sein. Neben unserem geläufigen Leben werden wir noch ein zweites Leben führen, zusammen mit den Maschinen um uns, die zunehmend an Eigenständigkeit gewinnen. Die Leitlinien, die Uhle zum Umgang mit ihnen entworfen hat, sind ein Plädoyer dafür, sich rechtzeitig mit diesem zweiten Leben zu beschäftigen: Gesellschaften haben sich schon immer verändert, aber jetzt erleben wir nicht lediglich eine Veränderung in unseren Gesellschaften, sondern eine Veränderung darin, was eine Gesellschaft überhaupt ist. Es ist nicht mehr etwas, das lediglich zwischen Menschen passiert und an dem Menschen teilhaben. Quelle: Christian Uhle – Künstliche Intelligenz und echtes Leben Uhle wendet sich mit seinem Buch bewusst an ein Publikum, das sich bislang noch nicht mit Fragen der Künstlichen Intelligenz beschäftigt hat. Sein Ratgeber für das Maschinenzeitalter ist zugleich eine gut verständliche Einführung in die logischen Grundlagen der neuen Anwendungen, denen wir bereits überall in unserem Alltag begegnen. Aber es ist vor allem eine gelungene Befragung unserer Erwartungen an eine bessere Zukunft.…
Seine ersten Eindrücke von Nachkriegsdeutschland sammelte Carlo Levi in München, wo er mit einer vorweihnachtlich geschmückten Lufthansa-Maschine aus Rom gelandet war. Sein Hauptinteresse galt der Kunst, der Architektur, den noch immer von Bombenschäden gezeichneten Stadtbildern und vor allem den Menschen. „Es gibt keine Monster“, flüsterte ihm ein junger Franzose beim Bier zu. Tatsächlich erkannte Levi in den Straßenpassanten vorwiegend „leutselige, einfache, wohlhabende“ Bürger, denen ihre Vergangenheit als Untertanen einer bösartigen Diktatur nicht mehr anzusehen war. Er fragte sich: Wo in diesem selbstzufriedenen Bildungsbürgertum verstecken sich die Ungeheuer? Vielleicht bräuchte es gar nicht viel, sie wieder zu entdecken. Oder entsprachen diese Farblosigkeit und Niedergeschlagenheit ohne jegliche Grandezza auch damals schon der Wahrheit? Quelle: Carlo Levi – Die doppelte Nacht Deutschland versteckt sich Anders als frühere Deutschlandbesucher registrierte Levi weder deutsches Selbstmitleid noch Schuldabwehr und Verdrängung. Stattdessen beobachtete er eine „hohle Stille aus Fragen und Erschütterung“. In ihrer beklemmendsten Form begegnete ihm diese Atmosphäre bei einem spontanen Besuch im KZ Dachau, wo die tyrannische Grausamkeit der Nazizeit nun durch das Elend der dort einquartierten Vertriebenen überdeckt wurde. Aus solchen Eindrücken zog Levi die Schlussfolgerung: „Deutschland versteckt sich“. Streifzüge durch Bierkeller und Museen In seinem kenntnisreichen Nachwort zu dem Reisebuch, dessen Titel „Die doppelte Nacht“ auf Goethes Faust anspielt, betont der Historiker Bernd Roeck, dass Levi über seine Beobachtungen mit dem Blick des Malers, der er auch war, berichtet hat. Insofern passen die dunklen Schattierungen der winterlichen Szenerien, die der Autor oft zu eindringlichen Tableaus ausmalt, symbolisch sehr gut zu der zwiespältigen Verfassung, die er bei den Deutschen feststellte. In einem essayistischen Vorwort umkreist Levi die deutschen Befindlichkeiten mit etlichen klugen, mehr oder weniger geläufigen Erklärungsversuchen. Viel anschaulicher und weniger spekulativ fallen jedoch seine anekdotischen Wahrnehmungen aus, bei denen er sich primär auf unmittelbare Erlebnisse stützte. Über die intellektuellen Debatten im Lande hingegen ließ er praktisch nichts verlauten. Lieber tauchte er mit offenem Ohr und wachen Sinnen ein ins Nachtleben der Kneipen und Bierkeller. Dort widmete er dem Volksmund ebenso viel Aufmerksamkeit wie den Alten Meistern in den Museen. Den Höhepunkt der Reise bildete nach Augsburg, Tübingen oder Stuttgart, die vor allem kunsthistorisch in Erinnerung blieben, der Aufenthalt in Berlin. Dort begegnete der Reisende dem Zwielicht deutscher Schattenwelten und den Existenzfragen des geteilten Landes in geballter Form. Eine Stadt, zwei Welten Viele Male pendelte er zwischen West und Ost, zwischen Kudamm und Stalinallee, Stripteasebars und Pergamonaltar hin und her. Diese halbierten Welten beäugen einander finster, sie stehen einander wie zwei Vertreter unterschiedlicher Zivilisationen gegenüber. Und doch sind sie aus demselben Holz geschnitzt. Quelle: Carlo Levi – Die doppelte Nacht Carlo Levi zeigt sich hier als ein ebenso guter Beobachter wie inspirierter Denker. Seine Ausführungen wirken nach wie vor lebendig und anregend. Darum ist die Deutschlandreise, die sich mit seinem Buch „Die doppelte Nacht“ nachvollziehen lässt, auch von heute aus gesehen nicht viel weniger spannend als damals.…
Die zentrale These klingt zunächst einmal gewagt: Wien habe den „Grundstein für einen Großteil der geistigen und kulturellen Produktion der westlichen Welt im 20. Jahrhundert gelegt“, behaupt Richard Cockett in seinem Buch „Stadt der Ideen. Als Wien die moderne Welt erfand.“ Hinreichend bekannt ist die Geschichte der Donaumetropole im „Goldenen Zeitalter“ des Liberalismus, das Wien von Freud, Klimt, Mahler und vielen anderen mit ihren bahnbrechenden intellektuellen und kreativen Leistungen. Weniger bekannt, und darauf legt der Historiker und „Economist“-Journalist Cockett seinen analytischen Schwerpunkt, ist das Wien nach dem Ersten Weltkrieg. Zu dieser Zeit wurde Wien von Sozialdemokraten regiert und diese versuchten die Ideen des Goldenen Zeitalters anzuwenden. Es ging um die Verbesserung der Lebensumstände und letzten Endes darum, einen „neuen Menschen“ zu erschaffen, wie sie es nannten. Quelle: Richard Cockett Weiterführen der Ideen aus dem „Goldenen Zeitalter“ Wiens Als ein Beispiel unter vielen nennt Cockett die Verwendung von Erkenntnissen aus der Psychoanalyse im „Roten Wien“. Da ging es nicht mehr nur um sehr reiche Patienten, die sich von Freud ihre Träume deuten ließen. Die Sozialdemokraten nahmen die Grundideen von Freud und verwandelten sie in Mittel für Sexualerziehung, Gesundheitserziehung, für all das, was man heute psychische Gesundheit nennen würde. Quelle: Richard Cockett Jüdische Impulse für die liberale Moderne Träger des liberalen und des Roten Wien waren sehr häufig assimilierte Jüdinnen und Juden, die in Wien seit den Zeiten Franz Josephs ein tolerantes und multikulturelles Klima vorgefunden hatten. Diese Welt wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von illiberalen Tendenzen bedroht, die sich in Wien stärker zeigten als anderswo. Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, Antisemit und Populist der ersten Stunde, wurde so etwa zum Lehrmeister des jungen Kunststudenten Adolf Hitler. Zweifellos war der Erfolg der assimilierten Wiener Juden ein Schlag ins Gesicht für Hitler und seinesgleichen. Ein Frontalangriff auf ihre nationalistischen, großdeutschen Überzeugungen und ihre Blut-und-Boden-Ideologie. Quelle: Richard Cockett Die vom Logischen Empirismus geprägte geistige Landschaft Wiens, die unter anderem die moderne Küche oder die erste Studie über Langzeitarbeitslosigkeit hervorbrachte, wurde in den 1930er-Jahren von den Austrofaschisten und später von den Nazis zugrunde gerichtet. Aber jene ihrer Protagonisten, die rechtzeitig aus Österreich fliehen konnten, trugen ihre Ideen und Methoden in die Länder, die sie aufnahmen. Die USA profitierten von der Wiener Einwanderung Insbesondere die USA profitierten auf zahlreichen Gebieten von der Wiener Einwanderung. Billy Wilder, Fred Zinnemann und Otto Preminger stellten das konservative Hollywood auf den Kopf. Der Architekt Victor Gruen erfand das Einkaufszentrum, weil er sich in der versprengten US-amerikanischen Einkaufslandschaft nicht zurechtfand. Und eine Gruppe von liberalen Denkern, darunter Karl Popper, lieferte in Form von Büchern die wichtigste ideologische Munition im beginnenden Kalten Krieg. Ich denke, der Grund dafür, weshalb sie so wichtig wurden und weshalb ihre Arbeiten vor allem in Großbritannien und den USA rezipiert wurden, ist, dass sie Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus viel früher und aus nächster Nähe erlebt hatten. Nämlich im Wien der 20er- und 30er-Jahre. Quelle: Richard Cockett Es ist ein ungewohnter, britisch-liberaler Blick, den Cockett auf dieses Stück österreichische Geschichte wirft. Seine originelle und kenntnisreiche Darstellung lässt das erstaunlich lebendige Erbe einer gewaltsam ausgelöschten Welt schillernd zutage treten.…
Der Schicksalsschlag traf Ada D’Adamo völlig unvorbereitet. Als sie im November 2007 ihre Tochter Daria zur Welt brachte, ahnte sie zunächst nichts Schlimmes. Schließlich hatte sie vorher alle nötigen Schwangerschafts-Untersuchungen gemacht – immer ohne Auffälligkeit. Dann aber hielt D’Adamo nach der Geburt ein Baby im Arm, bei dem „HPE“ festgestellt wurde: der abgekürzte Fachterminus für eine schwere Hirnschädigung. Entsprechend schnell stand fest: D’Adamos Tochter Daria würde niemals laufen können, niemals sprechen, niemals gerade sitzen und nie klar konturiert sehen. Eine Leben ohne Hoffnung auf Selbständigkeit Sie würde zeitlebens ein Mensch bleiben, der auf fremde Hilfe angewiesen sein würde. Und damit ein Kind, das D’Adamo bei entsprechendem Vorbefund nicht geboren hätte, wie sie offenherzig zugibt: Ich liebe meine wundervolle, unperfekte Tochter. (…) Doch hätte ich damals die Wahl gehabt, ich hätte mich für einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen entschieden. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Schlimme Diagnose nach der Geburt Schon das Schicksal, ungeplant Mutter einer hochgradig beeinträchtigten Tochter zu werden, ist schwer erträglich. Umso erschütternder liest es sich, dass die Autorin einige Jahre später auch noch eine weitere fatale Diagnose hinnehmen muss: Diesmal die Diagnose, an fortgeschrittenem Brustkrebs erkrankt zu sein. „Brief an mein Kind“ ist somit der ergreifende Lebensbericht einer erfolgreichen, talentierten, emanzipierten Frau, die 2007 plötzlich ohne Vorwarnung in einen Unglücksstrudel gerät, scheinbar völlig grund- und schuldlos: Warum gerade ich? Man sucht nach einem konkreten Grund, weil man nicht hinnehmen kann, das Opfer eines simplen Zufalls zu sein. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Als Mutter einer schwer behinderten Tochter machte D’Adamo dann die bittere Erfahrung, schlagartig zu einem „Menschen zweiter Klasse“ degradiert zu werden, wie sie schreibt. Zu einem sozialen Paria, der – genauso wie ihre Tochter Daria – von der tonangebenden Mehrheit der Gesunden im Alltag ständig übersehen, ausgegrenzt und manchmal sogar öffentlich beleidigt wird. Im Gegensatz zu vielen anderen Opferberichten aber verblüfft an D’Adamos Mutterbeichte deren so gar nicht wütend-anklagender und unjammeriger, unpathetischer Tonfall. Ganz offensichtlich ging es der Autorin mit ihrem letzten Buch nicht darum, eine Abrechnung mit unserer oft ungerechten, unsolidarischen Leistungsgesellschaft vorzulegen. Eine Unglücksbilanz ohne Wut und Bitterkeit Stattdessen erzählt D’Adamo in ihrem Abschiedsbrief an die Tochter vor allem von ihrer eigenen inneren Wandlung. Also davon, wie sie als ehemalige Tänzerin und Perfektionistin langsam gelernt hat, die täglichen Demütigungen an Darias Seite mit einem gewissen Gleichmut zu ertragen: Das ist keine Resignation, eher so etwas wie aktive Akzeptanz. Man hört auf, „dagegen“ zu kämpfen. Man konzentriert sich darauf, „für“ etwas zu kämpfen. Quelle: Ada D’Adamo – Brief an mein Kind Es ist dieser nicht mehr hadernde, nachsichtige und angenehm unaufgeregte Blick auf die eigene Tragödie, der D’Adamos Überlebensbericht so außergewöhnlich macht. Zwar äußert sie darin auch immer wieder durchaus scharfe Kritik an unserer, auf Profitmaximierung ausgerichteten Lebensweise, derentwegen wir heute oft so unfähig sind, angemessen auf Versehrtheit und Tod zu reagieren. Die Autorin gesteht aber auch eigene Fehler im Umgang mit Daria ein. Und: Sie verpackt ihre Klage insgesamt so freundschaftlich in die Du-Ansprache, dass ihr nichts Rachsüchtiges, Selbstmitleidiges oder Didaktisches anhaftet. Auf diese Weise wird D‘Adamos Brief letztlich zu einem ermunternden Aufruf an uns alle. Dafür, sich den Wert jeden Lebens bewusst zu machen, so schwierig, herausfordernd oder unperfekt es einem mitunter auch erscheinen mag.…
„Freie Fahrt für freie Bürger!“ Mit diesem Slogan machte der ADAC im Februar 1974 gegen ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen mobil. „Freie Fahrt für freie Bürger!“ Das ist nicht die Art von Freiheit, die Timothy Snyder meint. Der Yale-Historiker argumentiert in seinem Buch gegen ein allzu primitives Verständnis von Freiheit, das Freiheit vor allem als Recht versteht, von Einschränkungen verschont zu bleiben. Wer sich weigert, bestimmte Limitierungen für sich gelten zu lassen, ist deshalb noch lange nicht frei, argumentiert Snyder. Der Historiker unterscheidet, wie einst der Philosoph Isaiah Berlin, „negative“ und „positive“ Freiheit voneinander: Negative Freiheit ist die Idee, dass ICH gegen die Welt antrete. Dass das einzige Problem die Welt ist. Dass es da draußen eine Barriere gibt, die ich überwinden oder niederreißen muss. Negative Freiheit ist eine „Freiheit VON“. Positive Freiheit, wie ich sie verstehe, ist eine „Freiheit ZU.“ Quelle: Timothy Snyder Die Freiheit der Wahl Wirklich frei, so Timothy Snyder, ist man erst, wenn man zwischen verschiedenen Optionen wählen kann – guten Optionen: And I deeply believe that it is the ability to choose among the good things. There are good things in the world, when we're in a condition or a state to choose among them, then we're free. Quelle: Timothy Snyder In den USA, so Timothy Snyder, hingen viele Menschen einem im Großen und Ganzen eher schlichten Verständnis von Freiheit an. Von libertärer und rechtspopulistischer Seite wird Freiheit ja vor allem als Freiheit definiert, seine Interessen unbehelligt von staatlichen oder sonstigen Reglementierungen durchzusetzen, ob es nun ums Waffentragen geht oder um die Freiheit, für die Wohlfahrt anderer, möglicherweise unterprivilegierter Menschen nicht aufkommen zu müssen. Jeder ist, diesem Verständnis von Freiheit nach, sich selbst der Nächste. Freiheit muss organisiert werden Dagegen könne sich „positive Freiheit“ nur in der empathischen, lebendigen Interaktion mit anderen verwirklichen, postuliert Timothy Snyder. Anknüpfend an Persönlichkeiten wie Vaclav Havel, Edith Stein, Simone Weil und Leszek Kolakowski – historische Bezugsgrößen, die ihm wichtig sind –, plädiert der Yale-Historiker dafür, Freiheit in demokratischer Übereinkunft gesellschaftlich zu organisieren. Wenn Sie ein negatives Freiheitsverständnis haben, werden Sie davon überzeugt sein, dass die Regierung ausschließlich Ihr Gegner ist. Sie werden die Regierung verkleinern, wenn Sie die Macht dazu haben, und die Regierung wird am Ende nicht mehr in der Lage sein, genau die Dinge zu tun, die sie tun müsste, um die Freiheit der Menschen zu gewährleisten. Quelle: Timothy Snyder Pragmatischer Optimismus Timothy Snyder hat ein tiefschürfendes und in vielerlei Hinsicht anregendes Buch geschrieben. Dass der Autor auf grämliches Moralisieren verzichtet und der „positiven Freiheit“, für die er plädiert, mit pragmatischem Optimismus zum Durchbruch verhelfen möchte, macht diesen Band – trotz des anspruchsvollen Themas – streckenweise zu einem vergnüglichen Leseerlebnis.…
Seit rund 2000 Jahren wird die Geschichte der Menschheit auch erzählt als Geschichte des Sündenfalls: Gott verbietet Adam und Eva im Paradies, Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Die listige Schlange verführt Eva dazu, sich diesem Verbot zu widersetzen. Adam und Eva erlangen dadurch Erkenntnis, werden sich ihrer Nacktheit gewahr. Keine Verführung, sondern bewusste Entscheidung Sie werden dafür von Gott aus dem Paradies verstoßen, werden sterblich, und die Geburt ihrer Kinder ist von diesem Moment an durch einen Fluch Gottes mit großen Schmerzen für die Frau verbunden. Die Lyrikerin Daniela Seel wagt eine andere Interpretation dieser biblischen und für die Geschichte des Abendlandes so bedeutenden Urszene, begreift sie nicht als Verführung durch die Schlange, sondern als bewusste Entscheidung: Eva entscheidet sich. Für Erkenntnis und Lust. Für Mut. Die Konsequenzen nimmt sie in Kauf. Nehme ich Eva ernst, ist die Vertreibung aus dem Paradies nicht Rauswurf, sondern Auszug. Der Ausgang des Menschen in die Zeit. In Sterblichkeit. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Eva ernst nehmen Eva ernst nehmen und damit die ganz großen Fragen nach Schuld, Verantwortung, Erkenntnis noch einmal stellen, das geschieht in „nach eden“. Wäre das Leben im Paradies als Lebensraum denn wirklich so paradiesisch? Steckt nicht auch in ihm schon etwas Gewaltsames? Vom Garten ist es nicht weit zur Plantage mit ihrer Sklav:innenarbeit, Ausbeutung, Raub. Für und gegen wen will Garten Eden sein, Paradies – das sich herüberliest von awestisch pairi daēza, »Einhegung«, »umwallt«? Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Daniela Seel blickt in ihren Gedichten auf Versuche, Unbegrenztes, Unbequemes und Unberechenbares einzuhegen, seien es Tiere und Pflanzen unbekannter Arten, seien es Frauen im Mittelalter, die als Hexen verbrannt wurden, seien es die Naturvölker, die Alexander von Humboldt auf seinen Reisen mit dem Blick der Kolonisators erforschte, seien es besonders bedürftige Kinder unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, seien es spätgebärende Frauen, deren Schwangerschaften als Risiko betrachtet wird: Als meine Kinder geboren werden, bin ich 43 und 45 Jahre alt. Risikoschwangerschaften der Statistik nach. Aber auf welches Risiko wird hier gezielt? Bei der obligatorischen Frühdiagnostik frage ich den Arzt, ob sich durch gesündere ältere Mütter und höhere Lebenserwartung nichts geändert habe. Ohne aufzublicken, sagt er nein. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und Feminismus So beginnt eines der Gedichte über Schwangerschaft, Fehlgeburten und den Umgang der Medizin, es endet mit den Versen: Die Befunde bleiben »unauffällig«. Hätte ich mich für Abtreibung entschieden, wenn nicht? Wäre ich dazu gedrängt worden und von wem, bei welchem Befund? Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Daniela Seel greift Themen auf, die in der Geschichte des Feminismus seit jeher Gewicht haben. Doch sind es nicht nur die Themen, die ihre Gedichte so wirkungsvoll machen. Vor allem durch unterschiedliche Register, die hier gezogen werden, um verschiedene Stimmen zum Klingen zu bringen, entsteht eine große Intensität. Mal spricht ein Totengräber der Idsteiner Pflegeeinrichtung Kalmenhof, die zur Zeit des Nationalsozialismus Zwischenanstalt für das Tötungslager Hadamar war: was wollt ich machen, gell. Hätt ichs nicht gemacht, wärs auch mei eigens Leben gegange. Und dann, wo hätt ich auch hingewollt, ich hat ja mit die Außenwelt gar keinen Kontakt Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Fragen aus Kindersicht Immer wieder stellt ein Kind seine Kinderfragen, spricht aus seiner Sicht und konterkariert grausame und gewaltsame Zusammenhänge, die andere Gedichte umkreisen: Mama, ich höre die Bäume. Ich höre die Bäume singen. Quelle: Daniela Seel – Nach Eden Aus dieser Vielstimmigkeit bei fortwährender Konzentration auf das lyrische Ausgangsmotto „Eva ernst nehmen“ liegt mit „nach eden“ ein Gedichtband vor, der bewegt, produktiv befremdet und einiges riskiert.…
1 Clemens Setz – Das zehnte Gedicht. Rückblick auf ein dreiviertel Jahr Gedichte von Clemens Setz 6:46
Alle Dinge werden kleiner, wenn man sie zusammensetzt Bilder des Krieges in der Ukraine erreichen uns täglich, durch die Nachrichten oder durch Filmaufnahmen, die im Internet verbreitet werden. Clemens Setz berühren bizarre Videoclips mit Kriegsszenen und gleichzeitig faszinieren sie ihn auf erschreckende Weise. In einem Film sieht er einen Soldaten, auf den eine Drohne zufliegt . Die ist mit Sprengstoff und einer Kamera ausgestattet und filmt den Angriff, bevor sie explodiert und den Menschen tötet. In seinem Gedicht konzentriert sich Setz auf die Geste des Soldaten, der abwehrend den Regenschirm hochhebt, bevor er stirbt. Einige haben versucht mit ihr zu verhandeln durch improvisierte Gesten oder sich, schwer verletzt, zu ergeben bevor sie in sie flog Dann der eine, der plötzlich mitten im Rennen stehenblieb auf einem offenen Feld und uns bis kurz vorm Einschlag seine zwei Mittelfinger zeigte Alle Dinge werden kleiner wenn man sie zusammensetzt Als Poeta laureatus reflektiert Clemens Setz aktuelle Ereignisse und Begebenheiten, die er oft nicht genau einordnen kann. Die Form des Gedichts ermöglicht ihm, genau diese Verwirrung sichtbar zu machen. „Es ist ein hilfloses Gedicht. Das beschreibt aber auch sehr gut mein inneres Gefühl, ich bin innerlich vollkommen stumm dabei, ohne Erzählstimme. So, wie ich es erlebe, ist es mehr ein überfordernder Slapstick, und das Einzige, was dann kommt, sind private Assoziationen wie dieser total seltsame Satz über die Dinge, die kleiner werden, wenn man sie zusammensetzt.“ Clemens Setz findet in den Gedichten Worte und Bilder für diese Hilflosigkeit. Alle Dinge werden kleiner wenn man sie zusammensetzt sagte vor einem Vierteljahrhundert ein Kind zu mir während wir ihm den von Sturmwind verbogenen Schirm reparierten Feedbackkultur beim Dichten In den ersten beiden Gedichten nimmt Clemens Setz auf das aktuelle politische Geschehen im Ukrainekrieg und auf die Klimakatastrophe Bezug. Im dritten Gedicht geht es darum, wie aktuell ein Gedicht sein sollte oder darf – und wie er als Poeta Laureatus seine Probleme hat mit Kritik und Anregungen . Danke fürs Feedback, uns geht es sehr gut Die Bäume sind früh dran mit Blühen Ich werde den Link genau studieren und mich in Zukunft bemühen Der Tod der Frauen geschah tatsächlich zweitausend Jahre lang gleich mit unübersehbarer Ähnlichkeit der knienden Haltung der Frauenleichen in Gräbern der Jungsteinzeit Aber jetzt, nach den unvorhersehbar schweren Angriffen habt ihr wohl recht da nehm ich das raus Kaum hat Clemens Setz das Gedicht begonnen, nimmt er den Inhalt schon zurück. Die Schere im Kopf? Die Zurücknahme ist eine rhetorische Spielerei, denn die Zeilen bleiben bestehen, in denen er historische Hinrichtungen beschreibt. „Ich habe irgendwo auf CNN oder wo geschaut, was passiert in der Welt, und dann war da ein mich total fesselnder Bericht über eine 2000 Jahre lang gleich betriebene Art der brutalen Hinrichtungen. Wie kann das sein, 2000 Jahre, und immer sind es Frauenleichen, was ist da passiert?“ Den Hinweis auf die Hinrichtungen bekam Clemens Setz durch eine aktuelle Nachrichtensendung. Im weiteren Verlauf des Gedichts bezieht er sich auf die historische Figur Kaspar Hauser, der im 19. Jahrhundert als rätselhafter Findling auftauchte, der anscheinend vorher ohne jeden menschlichen Kontakt aufgewachensen war, seine Identität wurde nie geklärt, aber er hatte natürlich eine. Das hatte zu tun mit Kaspar Hauser Der säte seinen Namen aus Kresse in einem Nürnberger Garten bis Nachbarkatzen kamen und ihm den eigenen Namen zertraten ach armer Kaspar Hauser So schreibt er’s in einem Brief Diese Geschichte beruht auf einer wahren Gegebenheit, die Clemens Setz aufgrund ihrer Symbolkraft fasziniert. Er zeigt dabei mit ironischem Augenzwinkern, dass jeglicher Inhalt in eines seiner Gedichte einfließen kann. Auch formal variiert Setz die Gestalt seiner Texte und spielt mit vielen Mitteln. Oft sind seine lyrischen Texte nah an der Prosa, doch ab und zu verwendet er auch Reime. „Ich reime eigentlich viel lieber als nicht. Weil es künstlich ist: So spricht man ja nie. Das mag auch damit zu tun haben, dass mein Alltag unwahrscheinlich viel reicher an Reimen geworden ist, seit ich ein Kind habe, nämlich durch die ganzen Kinderlieder, die einem ja wirklich wunderbarste Reimkunststücke vorführen wie zum Beispiel „links sind Bäume, rechts sind Bäume, in der Mitte Zwischenräume“, aus dem Lied „Was müssen das für Berge sein“. Reime sind frech und generell tut mir Frechheit immer gut.“ Mit Goethe gegen Drohnen Frech und auch mutig erscheint es, wenn Clemens Setz sich in der Überschrift seines fünften Gedichts neben Johann Wolfgang von Goethe stellt. „Ein Gleiches“ nennt Setz seinen Text und lehnt ihn damit bewusst an das berühmte Goethe-Gedicht aus dem Jahr 1780 an, das den gleichen Titel trägt und mit den bekannten Worten anfängt: Über allen Wipfeln ist Ruh. Er will sich jedoch nicht anmaßen, im gleichen literarischen Rang wie Goethe zu stehen, er bezieht sich damit auf die Methode: Die Wahl und Variation seines Themas. In seinem Gedicht entwirft er die utopische Szene eines fiktiven fernen Zeitpunkts, an dem Menschen technisch veraltete Kriegsmaschinen wie gefährdete Tierarten im Zoo bestaunen. Damals nahm mich mein Vater jeden Sonntag mit in den Zoo um die alten Drohnen zu sehen Erst bei der Fütterung um vierzehn Uhr kam Leben in sie Der Pfleger betrat die Umhegung in Tarnfarbenjacke und schwarzen Stiefeln ein Gewehr aus Holz an seiner Hüfte Die Ausmaße dieser zerstörerischen Technik sind für Clemens Setz nicht abzuschätzen und deshalb hochgefährlich. Im Gedicht über die Kampfdrohnen im Zoo findet er als Lyriker eine Möglichkeit, die angsteinflößende Idee überhaupt zu ertragen, indem er sie als eine groteske liebevolle Begegnung inszeniert. „Es ist vielleicht der einzig mögliche Perspektivenwechsel, wenn man etwas Neues sieht, etwas total Entsetzliches anzuschauen als etwas Rührendes, Nostalgisches, mit persönlicher bittersüßer Poesie Aufgeladenes, das ist ja etwas, das man sonst nie tut. Mein Gefühl ist, dass wir nicht wissen, was wir gebären.“ Im Gedicht hat der Lyriker die Möglichkeit, die Figuren und Ereignisse mit Hilfe poetischer Bilder auf künstlerische Weise zu kommentieren und zu karikieren. Indem er zum Beispiel rechtspopulistische Hetzreden im Netz in einer absurd wirkenden märchenhaften Szenerie ansiedelt, distanziert er sich von ihnen. Er lässt ihre Verfasser auf diese Weise realitätsfern und naiv wie Märchenfiguren erscheinen. Die Antwort des Dichters auf Gewalt, Krieg und politische Willkür sind seine Gedichte. Allen voran die, die er in seinem Jahr als Poeta Laureatus schreibt.…
Mit Büchern von Dante Alighieri, Thomas Mann, Heinz Strunk und Peter Kurzeck.
1 Zauberberg-Wanderung: Norman Ohler – Der Zauberberg, die ganze Geschichte | Heinz Strunk – Zauberberg 2 | Gespräch 9:05
Mit seinem ersten Roman „Fleisch ist mein Gemüse“ erreichte der Autor Heinz Strunk schnell großen Erfolg. In „Zauberberg 2“ interpretiert er nun Thomas Manns Klassiker neu. Zwar sind die Schauplätze in Strunks Interpretation vergleichbar mit denen aus Thomas Manns Werk, doch kreiert Strunk eine ganz neue Geschichte rund um den „Erfolgsmenschen“ Jonas Heidbrink. Ein Buch voller Fun Facts Norman Ohlers „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ kann wie eine Ergänzung zu Thomas Manns „Zauberberg“ und Heinz Strunks „Zauberberg 2“ gelesen werden. Ohler erklärt zum Beispiel, wie Davos zum Kurort und zum Ort des Weltwirtschaftsforums wurde. Ein Buch voller „Fun Facts“, so Redakteur Alexander Wasner im Gespräch mit Literaturkritikerin Beate Tröger.…
Im Gespräch mit SWR Literaturchef Frank Hertweck spricht Redakteur Alexander Wasner über die 700 Jahre alte „Mutter aller Fantasyromane“ – Dante Alighieris „Die göttliche Komödie“. In drei Stufen ist diese voller Naturwissenschaften steckende Heldenreise zu unterteilen: Hölle, Läuterungsberg und Paradies. Frank Hertweck erklärt unter anderem, welche dieser Stufen am zugänglichsten ist.…
Das Tagebuch einer Skaterin Ich bin Ari und dies ist die Geschichte meiner ersten Liebe. Sie geht nicht gut aus, das sag ich euch gleich. Also, wenn ihr auf Happy Ends steht, legt das hier lieber weg und geht euch ein Eis kaufen. Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Gebrochenen Herzens beginnt die siebzehnjährige Skaterin Ari Tagebuch zu schreiben und erzählt rückblickend von den zwei Wochen ihrer ersten Liebe. Erwachsene Leser*innen erinnern sich zurück: in zwei Wochen kann viel passieren, wenn man jung ist. Jüngere wissen das selbst nur zu gut. Das Tagebuch hat sie von Vater Bob, der ihr Auffangnetz ist, während die stets abwesende Mutter Fanni eher ein Leben auf dem Drahtseil führt. Familienstatus: Es ist kompliziert. „Liebst du sie noch?“ fragte ich. Bob erwiderte meinen Blick, dann sah er aus dem Fenster. „Liebe“, sagte er, „Was heißt das? Will ich wieder mit Fanni zusammen sein? Nein, vielen Dank. Mache ich mir ständig Sorgen um sie und hoffe ich, dass es ihr gut geht? Ja, auf jeden Fall. Haben wir eine einfache Beziehung? Nein. Ist es Liebe? Ich glaube schon. Was für eine Art von Liebe? Keine Ahnung.“ „Hä?“ sagte ich und rührte einen Löffel Zucker in meinen Kaffee. „Wie meinst du das? Wieviele Arten von Liebe gibt es denn?“ Bob zuckte die Schultern. „Ich glaube, es gibt so viele, wie du willst“, sagte er. „Was du mit Yasin, Lou und Teddy hast, das ist doch auch Liebe, oder nicht?“ „Ja“, sagte ich. „Irgendwie schon.“ Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Suchen nach Identität, erstes Begehren, Rollenklischees – alles ist hier sowohl präsent als auch gleichgültig. Dass es alles gibt und geben kann, Schubladen aber wirklich oldschool sind, ist selbstverständlich. Daher wird auch konsequent gegendert – Com‘on, es ist 2024. Damit muss man jetzt klarkommen. Die Erzählweise ist dicht und authentisch. Eva Rottmann schafft Nähe zur Normalität des jungen Mädchens und ihrer Freunde, die sich schon seit dem Kindergarten kennen. Bei kaum einer Familie reicht das Geld bis Monatsende, von Urlaub ist keine Rede, das schweißt zusammen. Bei Regen im Parkhaus, sonst auf der Halfpipe. Immer skaten, immer zusammen. Das sind unsere Sommer, das ist unser Leben. Mehr ist nicht los. Aber uns reicht das. Beziehungsweise, es muss uns reichen. Wir haben ja keine andere Wahl. „Na, dann Prost“, sagte Tom und hob seine Bierdose. „Da hab ich ja richtig Glück gehabt, dass meine Mutter hierherziehen wollte.“ Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Beim Skaten hilft Basishass Tom. Der arrogante Neue, der gesponserte Skate-Profi fährt Ari voll in die Parade. Ari ist skeptisch. Aber in Tom steckt auch viel Wut. Basishass nennt Ari das und kennt das genau, Basishass ist sozusagen der Antrieb zum Skaten, wo das Denken in den Körper rutschen kann, der Kopf endlich Ruhe gibt. Ari und Tom brauchen und lieben diese gedankliche Schwerelosigkeit. Und Ari fühlt Toms Schmerz, der noch viel größer ist als ihrer, seit Tom seinen Vater durch Suizid verloren hat. Seit dem vergangenen Abend glaubte ich irgendwie nicht mehr an den coolsten Typen der Stadt. Der coolste Typ der Stadt war eine Pappkulisse, die im Sand lag und über die ein paar Heuballen wehten. Ich wusste noch nicht, was das bedeutete. Aber irgendwas bedeutete es auf jeden Fall. Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Ari lernt, dass es Mut braucht zum Leben. Sei es, um im Morgengrauen auf dem Board den steilsten Berg der Stadt hinabzurasen, sei es, um Tom ihre Gefühle zu gestehen, sei es, um wieder aufzustehen, wenn man gefallen ist. Mit Hinfallen kennt sie sich zum Glück aus. „Hey Mädchen, ist alles in Ordnung bei dir?“ fragte sie. Unter Tränen guckte ich sie an und schüttelte den Kopf. Nee, bei mir war nichts mehr in Ordnung, gar nichts mehr. „Bist du umgefallen?“ fragte die Frau und zeigte auf mein Skateboard. „Tut es dir irgendwo weh?“ Ich nickte. Es tat mir überall weh, im ganzen Körper, vor allem in der Brust. Ich hatte nicht gewusst, dass es solche Schmerzen überhaupt gab. Wie konnte es sein, dass ein einziger Mensch einem so wehtun konnte? Quelle: Eva Rottmann – Kurz vor dem Rand Deutscher Jugendliteraturpreis für Eva Rottmann „Kurz vor dem Rand“ berührt viele, zum Teil schwere Themen für ein Jugendbuch, das dadurch – und das dürfte vielleicht der einzige Kritikpunkt sein – gelegentlich etwas konstruiert erscheinen mag. Aber dennoch hat Eva Rottmann einen beeindruckend authentischen Coming-of-Age-Roman geschrieben. Über wahre Freundschaft, erste Gefühle, gute und beschissene Eltern und über die Diversität von Geschlechtern und Rollen bzw. darüber, dass man diese vielleicht gar nicht braucht, weil man einfach nur als man selbst schon liebenswert ist. Aufwühlend, rasant, rau und zart zugleich und aus guten Grund auf der Frankfurter Buchmesse 2024 mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.…
Man benötigt für dieses Buch einen langen Atem. Denn Naomi Klein unternimmt eine tiefgreifende Analyse der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Welt. Ausführlich widmet sie sich zunächst einer feministischen Schwester im Geiste, Naomi Wolf. Unter der Corona-Pandemie radikalisierte sich Wolf, rückte immer tiefer ins Lager der Verschwörungstheoretiker, verkörperte fortan alles, wogegen Naomi Klein ein Leben lang gekämpft hat und wurde, das war das Bedrückendste für die Klimaaktivistin, in den digitalen Medien mit ihr verwechselt. Das Ich als perfektionierte Marke, das Ich als digitaler Avatar, das Ich als Datenmine, das Ich als idealisierter Körper, das Ich als rassistische und antisemitische Projektion, das Kind als Spiegel des Ichs, das Ich als ewiges Opfer. Diese Doubles haben eines gemein: Sie sind Strategien des Nichtsehens, des Vermeidens. Wir vermeiden es, uns selbst klar zu sehen (weil wir so sehr damit beschäftigt sind, eine idealisierte Version von uns zu präsentieren). Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger Die Verdrängung der Gegenwart Aus dieser Spiegelung mit dem digitalen Phantom entwickelt Naomi Klein ihre tiefschürfende Analyse und weist auf blinde Flecken in der Geschichte und unsere beschränkten Blickwinkel auf Phänomene in der Gegenwart hin. „Eine Analyse der gestörten Gegenwart“, lautet der Untertitel. Wir wollen nicht, dass unsere Körper etwas mit dem massenhaften Artensterben zu tun haben. Wir wollen nicht, dass die Kleidungsstücke, in die wir unsere Körper hüllen, von anderen Körpern hergestellt werden, die erniedrigt, missbraucht und bis zur Erschöpfung ausgebeutet werden. Wir wollen keine Lebensmittel essen, die mit Erinnerungen an menschliches und nicht menschliches Leid belastet sind. Wir wollen nicht auf gestohlenem, von den Geistern der Vergangenheit heimgesuchtem Land leben. (…) Es ist unerträglich. Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger Leugnungen in uns Schattengestalten, Doppel-Ichs, Selbstverleugnung, Verschwörungstheorien allerorten – und die Verdrehungen durch die rasenden digitalen Medien kommen hinzu. Es finde eine „Neuordnung der Politik“ statt, schreibt Naomi Klein und sieht darin „eine der wichtigsten Hinterlassenschaften von Covid“. „Schattenzonen“ sind entstanden. Missbrauch gedeiht in den Schattenzonen, weil er dort gedeihen kann. Und das muss mit Hilfe einer Verschwörung vertuscht werden, um nicht nur die Täter zu schützen, sondern auch uns als Konsumenten, die wir uns unsererseits miteinander verschwören, um unwissend und unschuldig durch die besser beleuchteten Bereiche der Versorgungskette schlendern zu können. Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger „Eine Welt, die in Flammen steht“ Als säkulare Jüdin nimmt Naomi Klein schließlich die Kriege im Nahen Osten in den Blick. Israel-Palästina lasse sich nicht „als verwirrender ethischer Konflikt zwischen zwei unversöhnlichen semitischen Zwillingen abtun“, schreibt Klein. Vielmehr sei es „das bisher letzte Kapitel (…) einer Welt, die jetzt in Flammen steht“. Und Naomi Klein schlägt einen großen Bogen durch die unheilvolle Geschichte der Menschheit. In diese Geschichte sind wir alle verstrickt, wo auch immer wir leben. Sie begann im Vorfeld der Inquisition mit Folterungen, Verbrennungen und der Vertreibung von Muslimen und Juden; setzte sich mit der blutigen Eroberung des amerikanischen Kontinents und der Plünderung Afrikas fort, wo man sich Reichtümer aneignen und menschlichen Treibstoff für die neuen Kolonien beschaffen konnte; verwüstete Asien im Zuge der Kolonialisierung und kehrte dann nach Europa zurück, wo Hitler die in den vorausgehenden Geschichtskapiteln entwickelten Methoden – wissenschaftlicher Rassismus, Konzentrationslager, Völkermord in den neuen Siedlungsgebieten – zu seiner Endlösung destillierte. Quelle: Naomi Klein – Doppelgänger Naomi Klein hat eine Selbstbefragung verfasst, die jeden Leser und jede Leserin zum Innehalten und Reflektieren der eigenen Person anregen kann. Ein sehr nachhaltiges Buch der Klimaaktivistin.…
Das russische Provinzstädtchen Ostrog wird von einer Selbstmordserie heimgesucht: Im Kinderheim des Ortes haben sich drei Teenager nacheinander und auf ganz unterschiedliche Weise umgebracht. Einen Zusammenhang zwischen den Taten hat die örtliche Polizei noch nicht finden können. Und weil immer mehr Journalisten in den Ort strömen, wird Alexander Koslow aus Moskau mit dem Fall betraut. Er versucht, sich in der allgemeinen Aufregung einen Überblick zu verschaffen – auch wenn er am liebsten zu Hause geblieben wäre. Er hat keine Lust auf Ostrog. Erstens muss er deswegen andere Fälle delegieren, und zweitens ist er alles andere als begeistert von der Aussicht, den dortigen Beamten den Hintern zu putzen. Außerdem war er schon mal in Ostrog. Wenn er an diese hermetische Kleinstadt zurückdenkt, fällt ihm wieder ein, wie wenig dieser gottvergessene Ort zu bieten hat. Vor Jahren hat er in einer großen Ermittlergruppe den dortigen Bürgermeister hinter Gitter gebracht, und seine Erinnerungen daran sind wahrscheinlich nicht angenehm. Quelle: Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür Ein systemtreuer Ermittler Sasha Filipenkos Roman besticht zunächst durch einen charismatischen Ermittler: Koslow ist Veteran des Tschetschenienkriegs und hat es zu etwas gebracht, weil er nach den Regeln spielt und keine lästigen Fragen stellt. Seine Ehe ist angesichts dieses Pflichtbewusstseins in die Brüche gegangen und seitdem lässt eine – vielleicht typisch russische – Schwermut Koslow nicht mehr los. Dass ausgerechnet dieser systemtreue Ermittler sympathisch wirkt, liegt daran, dass er um die menschlichen Schwächen weiß, auch um seine eigenen. Das wird zum Beispiel deutlich, als Koslow mit großer Ausdauer versucht, so viel wie möglich über die toten Teenager in Erfahrung zu bringen und sich durch deren Social-Media-Profile scrollt. Er könnte mit geschlossenen Augen die Gesichter der toten Teenager beschreiben und, wenn es nötig wäre, ganz ohne Verwechslungen ihre Lebensläufe wiedergeben. Was im Übrigen gar nicht so schwer ist, weil sie einander ja doch recht ähneln: überforderte Eltern und ein Kinderheim nach dem anderen. Die Erarbeitung dieses Wissens hat mehrere Stunden gedauert. Als er die Dokumente ordnet, stößt er auf ein weißes Blatt Papier. Er betrachtet es und denkt zum ersten Mal in seinem Leben, wie schwierig es doch ist, über Gefühle zu sprechen. Die passenden Formulierungen dafür zu finden. Nicht dem eigenen Wortschatz auf dem Leim zu gehen, es nicht dem Zufall zu überlassen, sondern nach den einzig richtigen Worten zu suchen. Quelle: Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür Ein Bild des heutigen Russlands Der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko hat bis 2020 in St. Petersburg gelebt, bis er Russland verlassen musste und mit seiner Familie in die Schweiz gezogen ist. In seinem neuen Roman zeichnet Filipenko ein plastisches Bild des heutigen Russlands: So wie Ostrog als Ort an einen Kerker ohne Wände erinnert, gleicht das ganze Land einem riesigen Gefängnis. Nur selten geraten die Bilder etwas zu plump, etwa wenn sich siamesische Zwillinge in Ostrog über den Anschluss der Krim streiten – eine Zwillingsschwester ist für Russland, die andere für die Ukraine. Viel öfter sind es stimmige Details, die den Roman ausmachen: Irgendwo fängt ein Hund zu bellen an. Andere stimmen ein. Klein und groß kläffen im Chor, und dann schließen sich, ganz gegen die Vorschrift, auch noch die Schäferhunde im Gefängnis an. Wie in einer europäischen Stadt das Glockenläuten ergießt sich das Echo des Hundegebells über Ostrog. Quelle: Sasha Filipenko – Der Schatten einer offenen Tür Immer wieder nimmt der Roman Bezug auf die griechische Tragödie: Die Kapitel sind als Gesänge überschrieben und es wird bald klar, dass in dieser Geschichte so gut wie alle Menschen in Schuld verstrickt sind. „Der Schatten einer offenen Tür“ ist ein packender Roman, der als Gesellschaftsporträt genauso überzeugt wie als Kriminalfall.…
Das ist hart: Da wendet man sich als junger Mensch voller Sorgen an einen renommierten Gelehrten. Möchte von ihm wissen, ob und wie man heutzutage, angesichts immer neuer Kriege und Klimakatastrophen, noch hoffen könne. Auf eine menschenwürdige Zukunft zum Beispiel. Oder auf ein Leben in Glück und Frieden. Und bekommt dann zu hören, dass die Angst angesichts der gegenwärtigen Weltläufte durchaus berechtigt sei. Dass die Hoffnung allzuoft nur eine „Fluchthelferin“ aus der Wirklichkeit sei. Dass sie die Menschen sogar zu den schlimmsten Verbrechen verleiten könne. Und dass es, davon abgesehen, so etwas wie ein „Verbraucherrecht“ auf ein glückliches Leben schlichtweg nicht gibt. Kein Gericht der Welt kann deinen Anspruch durchsetzen, kein Parlament, keine Armee. Das musst du verstehen, sonst kannst du dich nie zu einer Art von erwachsenen Hoffnung durchringen. Diese Hoffnung ist vielleicht nicht das, was du erwartet hast, aber sie ist das Beste, was ich anzubieten habe. Quelle: Philipp Blom – Hoffnung Eine „erwachsene Art von Hoffnung“ Man kann Philipp Blom nur zustimmen: Mit einer solch „erwachsenen Art von Hoffnung“ aufzuwarten, mag auf den ersten Blick enttäuschend sein, hat aber etwas mit intellektueller Redlichkeit zu tun. Und wenn man an all die Propagandisten und Trickbetrüger in Politik oder sozialen Medien denkt, an ihren wachsenden Erfolg gerade bei der jungen Generation, dann wäre eine sozusagen hoffnungslos abgemagerte, ausgenüchterte Form der Hoffnung genau die richtige, überfällige Botschaft. Zumal der 54-jährige Historiker – preisgekrönter Verfasser scharfsichtiger Epochenporträts etwa über die Jahrhundertwende oder die Weimarer Republik – nur zu gut weiß, wie leicht es früher fiel zu hoffen, in Zeiten religiöser Heilsversprechen etwa oder eines ungebrochenen Fortschrittsglaubens. Und wie ungleich schwerer dagegen heute. Trügerische Kraft Wobei Letzteres aber nicht nur beklagenswert sei, so Blom. Zum Beispiel waren viele Menschen nach Hitlers Wahlsieg 1933 voller Optimismus für die Zukunft, doch selten war eine Hoffnung trügerischer. Dass sich die Hoffnung allzuoft als illusorisch erweist, sei wohl auch der Grund, warum die Griechen sie in der Büchse der Pandora vermuteten, neben allerlei anderen Übeln und Plagen. Doch ganz ohne die „stille Kraft“ der Hoffnung geht es angesichts einer, mit Albert Camus gesprochen, absurden Welt freilich auch für Philipp Blom nicht, im Gegenteil. Den Grund dafür, dass sie heute, zumal in den Wohlstandsgesellschaften des globalen Nordens, für die Menschen immer schwerer zu finden ist, liegt für den Historiker vor allem am Verlust übergeordneter Sinnzusammenhänge. Sinn aber werde von Narrativen, von Geschichten also, gestiftet, und eben deshalb hängt für Blom alles davon ab, die richtigen neuen Geschichten zu finden: Geschichten, die die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden, die der oder dem Einzelnen einen Platz geben und die helfen, unsere Handlungsspielräume zu erweitern. Hoffen können heißt vielleicht auch, sich über diese unerträgliche Brüchigkeit des Lebens hinwegzuretten, indem du deine eigene kleine und zerbrechliche Geschichte in eine größere Erzählung einfädelst. Quelle: Philipp Blom – Hoffnung Briefe an einen jungen Adressaten Auf seiner Suche nach dem „Wagemut des Hoffens“ in unserer Zeit stellt Philipp Blom auf knapp 200 Seiten viele kluge Fragen: Warum zum Beispiel wirbt niemand für Hoffnungslosigkeit? Welchen Einfluss haben konkrete Lebensumstände auf unsere Fähigkeit zu hoffen? Und warum scheint sie gerade in Gesellschaften am Abgrund am besten zu gedeihen? Dabei geht der Historiker in bester essayistischer Tradition sympathisch behutsam und tastend vor, und zwar in Form von sieben Briefen an einen jungen Menschen, der ihn nach einem Vortrag angesprochen habe. Für diesen – und alle anderen – Leser hat Philipp Blom am Ende noch einen Rat auf Lager: Um auf eine „erwachsene“ Weise zu hoffen, brauche es neben dem Mut zum Risiko vor allem zweierlei: Wissen und Können. Und das sei etwas, das einem keine noch so fixe KI abnehmen könne.…
Alevs Onkel Cem liegt im Koma. Für Alev, die in einem deutsch-türkischen Elternhaus aufgewachsen ist, ist er die stärkste Verbindung zur türkischen Seite der Familie. Während Alevs Vater kaum etwas von der Zeit erzählt, bevor er nach Deutschland gekommen ist, besticht ihr Onkel durch Gesprächigkeit und beste Laune. Cem ist in der Türkei geblieben, hat Karriere als Unternehmer gemacht und versucht, die weit verstreute Familie mit rauschenden Festen zusammenzuhalten. Nun ist er am Steuer seines Autos zusammengebrochen und dem Tod nahe. Sein ungewisses Schicksal treibt Alev ebenso um wie die politische Lage in der Türkei: Denn Leyla Bektaş‘ Roman setzt im Jahr 2017 ein – und damit kurz vor Verfassungsreferendum, das dem türkischen Präsidenten ein Jahr nach dem Putsch mehr Befugnisse sichern soll: In den Monaten darauf hielten alle den Atem an. Die Verbindung in die Türkei war wie gekappt. Niemand aus der Familie traute sich, in die Türkei zu fliegen. Täglich hörte man von unzähligen Festnahmen. Es war ungewiss, in welche Richtung es ging. Alev beobachtete die Ereignisse aus der Ferne. Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte Dass Alevs Vater ungern über die Familiengeschichte spricht, hat auch damit zu tun, dass er und seine Vorfahren einer religiösen Minderheit in der Türkei angehören: den Aleviten. Weil sie seit langer Zeit Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sind, haben sich viele Aleviten angewöhnt, ihre Religion zu verstecken. Geschickt verschränkt Leyla Bektaş in ihrem Roman verschiedene Zeitebenen miteinander und wechselt vom Jahr 2017 in die Vergangenheit: Sie erzählt, wie Alevs Vater in den 70er Jahren nach Deutschland kommt, auch beeinflusst von den Pogromen gegen Aleviten. Von der Gewalt gegen die Aleviten Später behandeln einzelne Kapitel die 80er und 1990er Jahre und beleuchten wie im Zeitraffer die jüngere türkische Geschichte. Sie erzählen vom wirtschaftlichen Aufstieg des Landes und davon, wie die Religion in der Politik eine immer größere Rolle spielt. Übergriffe auf Aleviten bleiben dabei an der Tagesordnung. So sorgt im Jahr 1993 ein Brandanschlag auf ein Hotel, in dem sich alevitische Künstler aufhalten, für Schlagzeilen: An den Barrikaden, die sich vor der jubelnden Menge auftürmen, entzünden sie das Feuer. Das Hotel, so hat Alev es woanders gelesen, war aus Holz gebaut. Darin befanden sich alle Teilnehmer des Festivals, denn die Menge hatte das Hotel eingekesselt, es gab keinen Hinterausgang. Die Barrikaden sind das letzte Zeichen von innen, das nach außen dringt. Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte Die Stummheit überwinden Wie meine Familie das Sprechen lernte ist ein einfühlsamer Familienroman. Wie auch Ronya Othman in ihrem Roman Die Sommer erzählt Leyla Bektaş vom Aufwachsen zwischen zwei Welten und dem Bewusstmachen der eigenen Familiengeschichte. Da für Alev die eigene Herkunft im Ungefähren liegt, hat sie lange keine Worte für ihre Geschichte und die ihrer Familie. Als im Unterricht die Sprache ein einziges Mal auf die Aleviten kommt, bleibt sie stumm: Etwas in Alev regte sich, aber sie traute sich nicht zu widersprechen. Sie wusste nicht, auf welche Beweise sie sich stützen sollte. Alles, was sie über Aleviten wusste, hatte sie in irgendwelchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, war für sie mit Rätseln belegt. Nichts davon schien gesichert. Alev öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Was hätte sie sagen können? Das Alevitentum ist all das, was der Islam nicht ist. Quelle: Leyla Bektaş – Wie meine Familie das Sprechen lernte Das Sprechen-Lernen, das schon im Titel anklingt, vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Auch mit Hilfe ihres Onkels, der aus dem Koma erwacht ist, versteht Alev, wie sehr Erfahrungen von Ausgrenzung und Gewalt die Familie geprägt haben. In dem sie sich diese Geschichten aneignet, trägt Alev auch dazu bei, sie zu bewahren. In Anbetracht der rasanten Geschwindigkeit, mit in der Türkei Geschichte über- und neu geschrieben wird, ist dieser präzise erzählte Familienroman auch politisch hochaktuell.…
1 SWR Bestenliste Dezember mit Büchern von Tezer Özlü, Katja Lange-Müller, Lydia Davis und Maria Stepanova 1:08:18
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1:08:18Kitsch oder nicht? Cornelia Geißler, Gregor Dotzauer und Klaus Nüchtern diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichneten Werke im barocken Schießhaus in Heilbronn. Vor allem das erstplatzierte Prosawerk von Tezer Özlü gab Anlass für grundlegende Diskussionen. Die Anfang der 1980er Jahre geschriebene und jetzt wiederentdeckte „Suche auf den Spuren eines Selbstmordes“ führte zur Frage, ob der Text unter Kitsch zu subsumieren sei. Vor allem der aus Wien angereiste Literaturkritiker des Wiener Magazins Falter Klaus Nüchtern mokierte sich über Sachfehler und missglückte Formulierungen der „pathetischen und egozentrischen Prosa“. Gregor Dotzauer, Literaturredakteur des Tagesspiegel, verteidigte den hohen Ton und die existentielle Dringlichkeit der Prosa. Cornelia Geißler, Literaturredakteurin der Berliner Zeitung, erinnert an den biografischen Hintergrund des Buchs, an die Gewalterfahrungen und Todessehnsucht der Autorin, denen beglückende Lektüren und nahezu therapeutische Sex-Szenen gegenübergestellt werden. Die 1943 in Anatolien geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Vertreterinnen junger Literatur in der Türkei. Obwohl sie auch in Deutschland gelebt hat, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Özlüs „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ erscheint hierzulande zum ersten Mal, obwohl das Buch auf Deutsch verfasst und mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin reist nicht nur zu den Schauplätzen ihrer literarischen Heroen wie Kafka, Svevo und Pavese, sie erkundet in einer „apodiktischen Sprache“ (Nüchtern) auch eigene Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das Buch entwickelt sich damit zu einer literarischen Feier der „unbedingten Rebellion“ (Dotzauer). Auf dem Programm in Heilbronn standen außerdem: mit „Unser Ole“ der neue Roman von Katja Lange-Müller (Platz 2), die Prosaminiaturen “Unsere Fremden“ von Lydia Davis (Platz 3) sowie der aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übertragene Roman „Der Absprung“ von Maria Stepanova (Platz 4). Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.…
Sommer 2023. Ein Krieg ist im Gange. Die Schriftstellerin M. ist im westeuropäischen Exil und wird zu einem Literaturfestival nach Dänemark eingeladen. Doch sie strandet – und nutzt die Gelegenheit, um zu verschwinden. Eine trickreiche, doppelbödige Prosa.
Es beginnt mit einer ungewöhnlichen Dreier-WG: Zwei Seniorinnen und ein autistischer Jugendlicher. Dann ereignet sich ein Unfall, der mehr als das gewesen sein könnte, und der Blick wird frei auf ein düsteres Mutter-Tochter-Verhältnis.
Davis ist ein Star der Short Story. Ihre Texte sind streng durchgearbeitet, formbewusst und radikal reduziert. 147 Stories komprimiert sie auf 300 Seiten. Ihr Blick für die Paradoxien des Alltags und auch für deren Komik ist frappierend.
Tezer Özlü, die 1986 starb, schrieb ihren Roman auf Deutsch, veröffentlichte ihn aber nur in eigener Übersetzung auf Türkisch. Nun ist erstmals die Originalversion zu lesen: Eine Prosa, die die Welt nicht beschreibt, sondern durchlebt.
Die Geschichte des Bürgerkriegs am Ende der Römischen Republik ist wohl kaum zu schreiben, ohne vom Aufstieg und Fall der großen Männer zu berichten – oder des einen großen Mannes: Caesars nämlich. In seinem jüngst erschienenen Buch über die Mordsache Caesar verbindet der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer diesen Ansatz mit dem der longue durée, also der Beobachtung von langfristigen Strukturen der Vorgeschichte eines Ereignisses. Dabei geht es ihm nicht nur um die letzten Tage des Diktators – so der Untertitel –, sondern die Geschichte der Republik schlechthin, dass nämlich die Geschichte von Caesars Ermordung 400 Jahre vor seiner Geburt mit der Gründung der Republik begonnen habe. Der Resilienzvorrat der Republik war durch den Bürgerkrieg erschöpft Der schon in den Jahren um Caesars Geburt 100 vor Christus tobende Krieg um die Vorherrschaft hatte den jahrhundertealten Freiheitsgedanken der römischen Patrizierschicht geschwächt. Und diese Schwächung des republikanischen Konsenses zeigt sich womöglich nirgends so deutlich wie in Caesars von seinem ersten Biographen Sueton überlieferten Satz am Rubikon: „Diesen Fluss nicht zu überqueren, wird Unglück über mich bringen, ihn zu überqueren, über die ganze Menschheit.“ Als Caesar den Rubikon dann in seinem ganzen Machtwillen überquerte: War er lediglich Profiteur eines allmählichen Verfalls des republikanischen Gedankens oder war er ein Akteur mit einem Programm zur Beendigung des Bürgerkriegs? Dazu meint der Autor Michael Sommer: Weder das eine noch das andere. Als Caesar am Rubikon stand, ging es ihm nur darum – seine Ehre – dignitas. Caesars Ego war so groß, dass es nicht mehr in die Republik mit ihren ehernen Prinzipien von Kollegialität und Annuität passte. Das Denken in den Kategorien von Standessolidarität und senatorischer Disziplin war dem Bezwinger Galliens fremd. Quelle: Michael Sommer Der Tyrannenmord geht aus dem Mythos der Freiheit hervor Caesars Selbstbild hat also offenbar nichts mehr mit republikanischen Tugenden zu tun – und das ruft seine Mörder auf den Plan. Bei seinen Überlegungen zu diesem Mordfall sieht sich der Historiker Michael Sommer als Ermittler: Freilich sind nicht die Mörder zu ermitteln, denn diese handelten in aller Öffentlichkeit – sondern ihre Motive. Und diese erschließen sich aus dem Mythos der Freiheit, ein Mythos, der sich im Namen des Haupttäters geradezu kondensiert: Lucius Junius Brutus war derjenige, der den letzten der Könige, Tarquinius Superbus, viereinhalb Jahrhunderte vor dem Mord an Caesar vertrieben hatte. Und dessen Mörder heißt wiederum Marcus Junius Brutus. Das war Zufall – und doch wieder auch nicht. Nichts geschah in der römischen Geschichte ganz zufällig. Das historische Gedächtnis war lang, und die Ahnen schwebten wirkungsmächtig über allem, was bedeutende Römer an großen Taten vollbrachten, Quelle: Michael Sommer - Mordsache Caesar So schreibt es Michael Sommer und spielt damit auf die Wirkmacht des mos maiorum der Römer an, dieses Destillat erinnerter Geschichte, das besagte, keinen Alleinherrscher zu akzeptieren. Wenn die Vertreibung des letzten Königs um 500 vor Christus zum Gründungsnarrativ der Republik werden konnte, warum gelang es den Caesarmördern nicht, Kapital aus ihrer Tat zu schlagen? Ja warum nicht? Es war ein mächtiges Narrativ, es hatte viele Menschen das Leben gekostet und noch viele mehr davon abgehalten, das Kollektiv der senatorischen Machtelite herauszufordern. Als Caesar tot am Boden lag, traten sofort Ereignisse ein, mit denen die Mörder nicht gerechnet hatten und die ihren Plan A über den Haufen warfen. Plan A lautete: Die Leiche Caesars wegschaffen und die Jubelstimmung ausnutzen, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es gab aber keinen Jubel und das Rad der Geschichte lässt sich auch nicht zurückdrehen. Augustus – „der junge Caesar“ Also galt es, den Schwung des Rades zu nutzen, um im Bild zu bleiben. Dies gelang Caesars Großneffen Octavian: Augustus ‚verkaufte‘ den Senatoren seine Alleinherrschaft als Fortsetzung der Republik und erklärte den Bürgerkrieg für beendet. Pax Augusta nannte er es – den augusteischen Frieden, und Michael Sommer kommentiert lakonisch: „Sieger schreiben Geschichte.“ In seinem Buch über Caesars Ende lässt er seine Leser und Leserinnen hinter die Kulissen dieser Siegergeschichte schauen.…
In Gipis Comic-Welt wird es kaum je richtig hell. Meist ziehen sich hellgraue Aquarellhimmel über menschenleere Landschaften. Überhaupt ist Grau die beherrschende Farbe. Gefühlt herrscht ständig Winter, es schneit oder regnet oder ist kurz davor. Jedes Dorf, jede Stadt gleicht der nächsten. Doch so trostlos Gipis „Geschichten aus der Provinz" auf den ersten Blick wirken – sie gehören zu den eindrücklichsten in der europäischen Comic-Szene. Denn Gipi lotet gekonnt die Dimensionen von Schuld, Loyalität und vor allem Gewalt aus. Obwohl explizite Gewalt selten in den Bildern zu sehen ist. Keine Kämpfe, aber Atmosphäre der Bedrohung Das gilt vor allem für sein Meisterwerk, für das Gipi 2006 den Grand Prix d'Angoulême gewonnen hat, den wichtigsten europäischen Comic-Preis: „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte." Darin lässt er die drei Freunde Stefano, Christian und Giuliano in einem Kriegs-Italien erwachsen werden. Auch wenn in den Bildern nie Kämpfe stattfinden – die Atmosphäre der Bedrohung gräbt sich in ihr Leben und ihre Freundschaft. Erst recht, als sie sich einer Gruppe Milizionäre anschließen. Die Gewalt, die jeden Moment auszubrechen droht, bringt die Unterschiede zwischen den dreien hervor. Sie zeigt, wie stark die soziale Schicht die Sicht auf das Leben prägt. Stefano: Du hast nie abgedrückt. Nie wirklich draufgehauen! (…) Du bist nicht wie wir. Giuliano: Wie meinst du das, ich bin nicht wie ihr? Stefano: Das weißt du. Du bist nicht wie wir. Du bist anders. Deine Familie hat Geld. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, reicht ein Anruf und deine Probleme sind gelöst. Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz Verknappte Stilmittel Gipis Strich zeigt, wie die erfahrene Gewalt sich als Härte in Körper und Psyche einschreibt. Seine Comics beweisen, dass man dafür nicht einmal besonders realistisch zeichnen muss. Die Gesichter seiner Protagonisten umreißt er als Flächen mit wenigen Linien. Vor allem ihr Mund ist nur ein dünner, schwarzer Strich. Und doch ist jede Regung klar erkennbar. Angst, Verachtung, Ungläubigkeit - alles da. Diese Knappheit setzt sich als Stilmittel fort bis in die Dialoge und die Dramaturgie. „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte" bleibt auch knapp 20 Jahre nach dem ersten Erscheinen ein Comic von Weltrang. Nicht alle Kurzgeschichten in diesem Band können dieses Niveau halten. „Zwei Pilze" aus dem Jahr 2005 sieht eher aus wie ein Rohentwurf. Grobe, mit schwarzem Stift hingeworfene Zeichnungen deuten an, dass es für die Hauptfigur um die Trauer nach dem Tod eines Freundes geht; um das komplizierte Verhältnis beider Männer zu den Vätern. Racheplan nach Inhaftierung Doch was wie ein Auftakt wirkt, endet abrupt. In sich stimmig ist dagegen „Sie haben das Auto gefunden", ein kurzer, verstörender Psycho-Thriller, der ebenso von dem lebt, was er ausspart wie von dem, was er zeigt. Genauso wie „Die Unschuldigen", ausgezeichnet mit dem Max und Moritz-Preis für den besten internationalen Comic. Wieder bewegen sich knapp und kantig gezeichnete Männer durch eine blassgraue Aquarell-Landschaft. Zwei Freunde treffen sich nach Jahren wieder. Einer von ihnen hat lange im Gefängnis gesessen. In Rückblenden, abgehoben von der Handlung als grobe Skizzen in Schwarzweiß, erfahren wir, dass damals Polizeiwillkür im Spiel war. Jetzt will der aus dem Gefängnis Entlassene Rache nehmen. Männliche Abgründe Valerio: Sie stehen unter Hausarrest und sitzen gemütlich zu Hause. Sind aber keine Polizisten mehr. Die Pistolen sind futsch. Sind ganz normale Leute wie du und ich. Aber ich weiß, wo einer von ihnen wohnt. Quelle: Gipi – Geschichten aus der Provinz Dann die Überraschung: Aus der Rache wird nichts. Sein Freund hat seinen kleinen Neffen dabei. Und vor dem Kind einen Mord begehen? In der Figur des Jungen gönnt Gipi seinen Männern diesmal einen Ausweg aus der Gewalt. Wo in Gipis Comics die Frauen bleiben? Am Rand. Obwohl in „Sie haben das Auto gefunden" eine Frau für die entscheidende Wendung sorgt. In den Bildern sind sie Körper, vielleicht noch Stichwortgeberinnen. Gipis Geschichten führen in männliche Abgründe. Aber die sind immer wieder lesenswert.…
So richtig gut ging es Manfred Krug zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht. Die Folgen eines Schlaganfalls im Jahr 1997 hat er zwar einigermaßen überwunden, doch der Herzschrittmacher drückt, das Treppensteigen ist beschwerlich – und alle Diäten sind vergeblich. Heute beginne ich wieder von vorn. Bei 118 Kilo fange ich erneut an. Es ist schrecklich. Alt werden ist ein einziges Leiden. Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn „Ich beginne wieder von vorn“ lautet der Titel der dritten Tagebuchlieferung von Manfred Krug aus den Jahren 2000 und 2001. Das klingt wie ein Neuanfang, bedeutet aber, nicht nur was das Körpergewicht betrifft, die Wiederkehr des Immergleichen. Und doch ist Manfred Krug entschlossen, mit dreiundsechzig noch einmal durchzustarten: als Sänger. Nicht als Schauspieler. Am 1. Januar 2000 notiert er unmissverständlich: Es wird das letzte Jahr sein, das man mich als Schauspieler sehen wird. Ich kann nicht mehr. Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn Abschied vom Fernsehen Tatsächlich verabschiedete sich Krug nach über fünfzehn Jahren vom „Tatort“. Die letzten Folgen als Hamburger Kommissar Stoever, die bis zum Sommer gedreht werden, sind eine Qual, die Drehbücher findet er miserabel. Zukünftigen Forschern, die wissen wollen, warum er, Manfred Krug, so beliebt gewesen sei, gibt er den Rat, Filme und Drehbücher miteinander zu vergleichen. Dann wird man ermessen, was er, Krug, eingebracht habe an Witz und Schlagfertigkeit. Wenn er sich abends im Fernsehen sieht, ist er sehr zufrieden mit sich, hält die beachtliche Einschaltquote fest und lässt sich gelegentlich sogar zu einem Glückwunschfax an den mäßig begabten Regisseur hinreißen. Trällerte Duette im „Tatort“ Der Abschied vom Film fällt ihm nicht schwer. Zu DDR-Zeiten war Krug als Sänger von Schlagern und Jazz-Standards mindestens genauso berühmt wie als Schauspieler. Im „Tatort“ trällerte er zusammen mit seinem Kompagnon Charles Brauer Duette, die nun als CD in die Charts gelangen. Krug legt „Deutsche Schlager“ und anderes nach. Wenn er mit Geschichten und absurden Gedichten auf Lesereise geht – Schriftsteller war er auch –, verlangt das Publikum, er solle singen. Also singt er. Das macht mehr Freude als die Arbeit am Set. Dass die als Volksaktie platzierte Telekom-Aktie an der Börse abstürzte, machte ihm durchaus zu schaffen, schließlich hatte er dafür geworben. Die Bild-Zeitung veröffentlichte einen Brief Krugs an einen Aktionär, der in einem lustigen Vierzeiler gipfelte. Manchmal stehn die Aktien hoch / und manchmal stehn sie niedrich, / ein Auf und Ab, grad wie beim Arsch / vom alten Kaiser Friedrich. Quelle: Manfred Krug – Ich beginne wieder von vorn „Bild“ hielt das für Verhöhnung der Aktionäre, musste aber schließlich eine Gegendarstellung drucken. In eigener Sache war Krug unerbittlich. Akribisch listete er auf, wer gerade woran und in welchem Alter gestorben ist: „Die Einschläge kommen näher.“ Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gab ihm eine produktive Distanz zum gesellschaftlichen Leben und zum Weltgeschehen, das er gleichwohl mit großer Neugier verfolgte. Lebenskünstler mit Charme Von heute aus gesehen wirkt das Jahr 2000 wie ein Luftanhalten zwischen Gestern und Morgen. Helmut Kohl steht wegen der Spendenaffäre vor dem Untersuchungsausschuss. Der serbische Präsident Slobodan Milošević wird verhaftet. Putin , frisch im Amt, attestiert Krug „den Gang einer energischen Soldaten-Ente“. Doch mit dem 11. September 2001 beginnt ein neues Zeitalter. Krug ist erschüttert; das kommt nicht oft vor. Die Tagebücher zeigen ihn als Lebenskünstler, der mit seinem Charme über alle Abgründe hinwegsegelte. Auch im Schreiben praktizierte er das, was ihn als Schauspieler und als Sänger so beliebt machte: in jeder Rolle vor allem er selbst, Manfred Krug, zu sein. Es ist so vergnüglich wie lehrreich, ihn mit seinem wachen Blick, seiner Lust an Klatsch und Tratsch, seiner Schnoddrigkeit und seiner auch sich selbst nicht schonenden Ironie durchs Leben zu begleiten.…
Davi Kopenawa ist ein Mitglied der Yanomami-Indigenen. Ungefähr 29 000 Yanomami gibt es heute in Brasilien, die im weitläufigen Amazonasgebiet leben. Davi Kopenawa hat sich vehement für die Rechte der Indigenen eingesetzt und dafür unter anderem den „Alternativen Nobelpreis“ 1989 erhalten. Doch er ist nicht nur ein Kämpfer für die seinen und für den Erhalt der Artenvielfalt im tropischen Regenwald, nein, er ist auch Schamane. Davi Kopenawa – Kämpfer für die Natur und Schamane Wir werden keine Schamanen, indem wir Wild oder Nahrung aus unseren Gärten essen, sondern nur mit den Bäumen des Waldes. Es ist das Yakoana-Pulver, der von den Bäumen ausgeschwitzte Saft, der bewirkt, dass sich die Worte der Geister offenbaren und weithin ausbreiten. Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels Yanomami-Schamanen inhalieren das Yakoana-Pulver, um einen tranceartigen, traumähnlichen Zustand zu erreichen. Dann nähern sich dem Schamanen die „Xapiri“ und führen ihre Tänze auf. „Xapiri“ sind Geisterwesen, sie können in vielen Formen auftreten. Als Tiere oder als Pflanzenwesen, oft sind sie auch menschenähnlich, manchmal verstorbene Ahnen. Das Entscheidende daran: Sie sind die Beschützer des „Waldes“, wie Davi Kopenawa sagt, also Hüter des Regenwaldes im Amazonasgebiet. Natur ist keine Verbrauchsware, sondern ein organisch-lebendiges Wesen Auf unser westliches Denken übertragen, heißt das: Die „Xapiri“ sind Abbilder der lebendigen Natur – der „Natura Naturans“, der schöpferischen Natur. Die Natur ist nicht einfach ein Objekt, dessen Gesetzlichkeiten bestimmt werden und das man gebrauchen und verbrauchen kann, sondern es ist ein organisch-lebendiges Wesen. Man verspürt weder mehr Hunger noch Durst. Man kennt weder mehr Schmerz noch Schlaf. Die Geister der Yakoana haben unser Fleisch verschlungen und unsere Augen sind tot. In diesem Augenblick sehen wir eine heftige, blendende Klarheit anbrechen. Die Kohorte der singend auf uns zukommenden Xapiri ist zu erkennen. Quelle: Davi Kopenawa, Bruce Albert – Der Sturz des Himmels Hüter des Waldes Initiationsriten der Schamanen sind schon öfter beschrieben worden – etwa in dem prominenten Buch „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ von Mircea Eliade. Doch was Davi Kopenawa beschreibt, ist Neuland für unser westliches Denken. Denn er erzählt seine gesamte Geschichte: Ein junger Mann, der beschließt Schamane zu werden und alle Stadien der Initiation durchmacht bis er die „Xapiri“ tanzen sieht und sie bei ihm ihr Haus der Geister bauen. Man mag über diese Geisterwesen lächeln, man mag über die Drogen-Trance die Nase rümpfen – doch die westliche Überheblichkeit schwindet beim Lesen von Kopenawas Buch. Denn der Schamane mit seinen „Xapiri“ hat kein anderes Ziel, als Hüter des „Waldes“, also Hüter der Natur zu sein. Und es sind wir, die diese Natur zerstören. Vor allem Goldgräber und Siedler haben im Amazonas-Gebiet den Regenwald zerstört, durch Krankheiterreger und auch mittels roher Gewalt die Yanomami-Indigenen dezimiert. Das ist die andere Geschichte, die in „Der Sturz des Himmels“ erzählt wird. Ein Buch für alle, die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen Mitte der 1970er-Jahre lernte der französische Anthropologe Bruce Albert Davi Kopenawa kennen. Daraus entwickelte sich eine Lebensfreundschaft. Albert lernte die Sprache der Yanomami. Und in jahrelanger Arbeit erzählte ihm Kopenawa seine Geschichte. Albert hat daraus ein Buch in französischer Sprache gemacht. Sicher, ein gewagtes Unternehmen, denn unsere westlichen Sprachen bringen ganz andere Geisterwesen hervor als die Sprache der Yanomami. Aufklärung und Technik versus schöpferische Natur – das wäre die Kurzformel. Genau deswegen ist Davi Kopenawas und Bruce Alberts „Der Sturz des Himmels“ ein unverzichtbares Buch für all jene, die die Natur als bedrohten und daher schützenswerten Organismus begreifen.…
Wir spiegeln uns in Rom, und es ist gerade der Untergang des Reichs, der immer wieder zur Folie unserer eigenen Gegenwart herangezogen wird. So auch in „Stürzende Imperien“ von Peter Heather und John Rapley. Peter Heather ist Althistoriker und unterrichtet am Kings College in London, er ist ausgewiesener Experte für die Spätantike, John Rapley ist Ökonom in Cambridge und Fachmann für das Gebiet Globalisierung und Ungleichheit. Beide lehnen die schon klassische Erzählung ab, die es längst ins Arsenal der rechtspopulistischen Agenda gebracht hat, dass Rom an seiner eigenen Dekadenz und an einer Barbareninvasion gescheitert sei. Nein, sie bestehen darauf, dass das antike Rom sich nach der Krise des 3. Jahrhunderts wieder berappelt hat und durch die Reichsteilung, die Tetrarchie, eine Verwaltungsreform und eine modifizierte Besteuerung um 400 u. Z. sogar auf dem besten Weg in eine goldene Zukunft gewesen sei. Ein Lebenszyklus eines Imperiums Aber warum dann trotzdem der nicht zu bestreitende Kollaps wenige Jahrzehnte später? Die beiden Autoren entwickeln so etwas wie einen Lebenszyklus eines Imperiums, das sie geopolitisch aufteilen in das eigentliche Machtzentrum, dann die Provinzen noch innerhalb des Reichs, und die Peripherie außerhalb der Grenzen. Was sie beobachten, ist eine zunehmende Bedeutungsumkehrung von Zentrum, Provinz und Peripherie. Die Waren- und Menschenströme in die Randgebiete stärken diese Bereiche wirtschaftlich so, dass aus der abhängigen Provinz bedeutende Städte wie Trier oder York in England werden, wogegen die ökonomischen Daten von Italien nach unten zeigen. Und während die ersten Schlachten mit den, wie die Römer sie nennen, Barbaren schon mal verloren gehen können, siehe die Varus-Schlacht im Jahr 9 unserer Zeit, weil die germanische Bündnisse einfach nach den Siegen wieder zerfallen, sehen sich die Römer 300 Jahre später ganz anderen Gegnern gegenüber. Militarisierte Strukturen in der Peripherie In der Peripherie haben sich feste, stark militarisierte politische Strukturen gebildet, es gibt Könige, gut ausgebildete Heere, die von ihren römischen Feinden gelernt, ja sogar als Foederati für den römischen Kaiser gekämpft haben – ein ganz spezieller Wissenstransfer, der das Zentrum schwächt und die Ränder stärkt. Diese stabilen Verbände tragen die Namen, die ihnen die frühere Geschichtswissenschaft gegeben hat, Westgoten, Ostgoten, Vandalen, Alanen, obwohl man sie heute nicht mehr Völker nennen würde. Sie sind nur unter großem militärischem Aufwand kontrollierbar, wenn überhaupt, was natürlich die Finanzlast für den Kaiser wiederum erhöht. „Einen menschlichen Tsunami“: der Hunnensturm Ein Teufelskreis. Aber der entscheidende Schock ist das Auftauchen der Hunnen, die wohl aus klimatischen Gründen gen Westen stoßen und die Peripheriebewohner hinein ins Reich treiben. „Einen menschlichen Tsunami“ nennen Heather und Rapley den Hunnensturm. Nun befehlen die fremden Herrscher gleichsam Enklaven im römischen Reich mit dem Effekt, dass lokale Großgrundbesitzer sich ihnen zuwenden und lieber vor Ort die Steuern zahlen als einem fernen Zentrum. Eine Finanzkrise im Kernbereich ist unumgänglich. Die Geschichte des Westens Heather und Rapley deuten nun auch die Geschichte des Westens nach diesem Schema, was manchmal nur mit einem etwas grobem Keil gelingt, schon weil es den Westen als politische Einheit nicht gibt. Die großen Player der Neuzeit entstehen jeweils an den Rändern eines Reichs, die Niederlande folgen Spanien und Portugal, dann entsteht das britische Empire, mit dem Ableger USA, der nach dem 1. Weltkrieg die globale Macht innehat, wenn man denn Russland etwas aus den Augen verliert. Und heute? Sind die einstigen Kolonien bzw. Peripherien wie Indien, Südkorea, Brasilien nach Heather und Rapley die neuen Boom-Staaten, was die wirtschaftlichen Daten nicht immer hergeben, während der alte Westen unter geringen Wachstumsraten, enormem Schuldenstand und demographischer Unwucht stöhnt. Wer sind die Hunnen von heute? Und China? China hat es zum zweiten Hegemon gebracht, zur anderen Großmacht wie zu Roms Zeiten das Sassanidenreich in Persien. Aber während damals die entscheidende Währung das knappe Land war, heißt sie heute Geld, das scheinbar unbegrenzt zur Verfügung steht. Darum ist die kritische Frage: Wer sind die Hunnen von heute? Wer zerstört die fragile Balance? War es Corona? Oder sind es doch die sich auftürmenden Schulden, weil nur mit viel Geld die gesellschaftlichen Konflikte noch zu übertünchen sind? Ganz klar wird das nicht. Politisch sind Heather und Rapley wackere geistige Sozialdemokraten. Sie glauben zwar nicht mehr an ein „Make den Westen great again“, aber sehr wohl daran, dass eine kluge Außenpolitik es ermöglicht, zwei Hegemonialmächte zum gewinnbringenden und fairen Ausgleich zu bringen, nämlich China und die USA, und eine clevere Innenpolitik mit einer stärkeren Besteuerung der Vermögen, nicht der Einkommen, dem Staat die Gelder zur Verfügung stellt, um einen sozialen Ausgleich zu schaffen. Kein lachender Dritter Das liegt zweifelsohne nicht im Zeitgeist. Der erinnert eher an die Verzwergung des oströmischen Reichs, das sich zusehends mit dem persischen Imperium kriegerisch verkeilt hatte, wodurch es einen lachenden Dritten gab, die unter der Fahne des Islam neu vereinigte arabische Welt, der die beiden erschöpften Streithammel nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Wenigstens ist im Augenblick ein lachender Dritter nicht in Sicht.…
Die Geschichte des Bauernkriegs aus Sicht der Bauern und Bäuerinnen Die Bäuerinnen und Bauern hatten damals eine Idee, von der wir heute lernen können, meint die Australierin Lyndal Roper, Expertin für die Geschichte der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. In „Für die Freiheit. Der Bauernkrieg 1525" erzählt die Autorin die Geschichte des Bauernkriegs aus Sicht der Bauern. Der Bauernkrieg hat mich immer fasziniert. (...) Und ich wollte wissen, wie so etwas zustande kommt und wie es sich anfühlt, an so einem Aufstand teilzunehmen. Quelle: Lyndal Roper im Gespräch Für ihre Recherche fuhr die Historikerin die Schauplätze des Bauernkrieges viele hundert Kilometer mit dem Fahrrad ab. Die Tour führte sie vom elsässischen Straßburg bis nach Konstanz, aber auch in Thüringen sei sie unterwegs gewesen. "Das war eine ganz wichtige Erfahrung, durch die ich viel verstehen konnte", so Roper im Gespräch. Religöse und wirtschaftliche Dimensionen Die Bauern lehnten sich zu dieser Zeit gegen wirtschaftliche Not und gegen die Ausbeutung durch ihre Grundherren auf. Mit der Reformation kam dann noch eine religiöse Dimension dazu. Aus dem anfänglichen Protest wurde ein blutiger Krieg. Lyndal Roper habe während ihrer Recherchen herausfinden wollen, welche Träume die Bauern hatten und was sie dazu bewogen hat, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ihre Vorstellung war, dass wir nach Brüderlichkeit leben sollten, dass wir aufeinander acht nehmen sollen, dass wir fair miteinander umgehen und die Ressourcen gerecht geteilt werden sollen. Diese Fragen, mit denen sie konfrontiert waren, sind heute noch offen. Quelle: Lyndal Roper im Gespräch Im Gespräch erklärt die Autorin, welchen Anteil Theologen wie Martin Luther oder Thomas Müntzer an der Eskalation der anfänglichen Proteste zum Krieg hatten. Außerdem geht sie auf den Freiheitsbegriff der Bauern ein und auf die Frage, weshalb man sich noch heute mit dem Bauernkrieg beschäftigen sollten.…
1 lesenswert Magazin: Von menschengemachten Krisen und tierisch unheimlichen Begegnungen. Neue Sachbücher helfen beim Bewältigen. 54:58
Neue Bücher von Jörg Baberowski, Jan Mohnhaupt und anderen.
Zu Beginn sollte man einem Missverständnis vorbeugen: Macht und Herrschaft im Zarenreich - dahinter könnte sich womöglich eine zähe Strukturgeschichte verbergen, ein akribischer Röntgenblick durch das gesamte Herrschaftssystem zwischen Baltikum und Wladiwostok bis hinunter ins kleinste Dorf, der auf über tausend Seiten dann wirklich nur absolute Insider interessiert. Zum Glück aber ist dieses dicke Buch alles andere als das. Jörg Baberowski hat eine bewundernswert kenntnisreiche und dennoch gut lesbare, stellenweise sogar fesselnde Geschichte der Zarenherrschaft geschrieben. Sie beginnt um 1700 herum, mit jenem Zaren, der in Russland ein neues Zeitalter einleitete: mit Peter dem Großen. Schwerwiegendes Strukturproblem Peter wollte den Fortschritt Europas nach Russland bringen. Aber Jörg Baberowski sieht einen ähnlichen Mangel wie unter Peters Vorgängern: Rußland wurde nicht von Königen und Ständen, sondern von Tyrannen und Sklaven regiert. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Denn unter Peter und unter seinen Nachfolgern litt das Riesenreich - anders als etwa Frankreich, England oder Preußen - unter einem fatalen Strukturproblem. In Rußland gab es keinen mächtigen, regional verwurzelten Adel mit Grundbesitz, dessen Wert schwer gewogen hätte. Die Adligen waren Knechte des Zaren und zugleich Herren der Bauern. Auf diesem Fundament ruhte das System der Selbstherrschaft. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Mit Gewalt auf allen Ebenen, bis hinunter ins kleinste Dorf auf Kamtschatka. Nur so ließ sich das größte Land der Erde zusammenhalten. Dabei kann Baberowski zeigen, wie sich im 19. Jahrhundert durchaus freiheitliche Ideen ausbreiteten. Um 1880 schien in Petersburg gar eine regelrechte Aufbruchsstimmung zu herrschen. Kein anderer als Fjodor Dostojewski beschwor die Mission Russlands, die ganze Menschheit im Frieden zu vereinen. Seine Zuhörer reagierten euphorisch, wie Dostojewski seiner Frau schrieb: Ich kann Dir das Geheul, das Gebrüll der Begeisterung gar nicht beschreiben: Die Menschen im Publikum weinten, Fremde fielen sich in die Arme und brachen in Tränen aus und schworen einander, bessere Menschen zu sein, sich in Zukunft nicht mehr zu hassen, sondern zu lieben. Alle stürzten zu mir aufs Podium, vornehme Damen, Studenten, Staatssekretäre und wieder Studenten – all das umarmte und küßte mich. Alle, buchstäblich alle, weinten vor Begeisterung. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Von der westlichen Aufklärung abgeschnitten Aber solche Ideen der Freiheit, der Menschenwürde und der Aufklärung schlugen keine Wurzel; und sie kamen für das Riesenreich viel zu spät. Baberowski konstatiert: Die Vorstellung, der Mensch sei ein autonomes Wesen, verbreitete sich in Rußland erst zu einer Zeit, als sich der autoritäre Staat im Leben der Untertanen bereits fest verwurzelt hatte. In Rußland waren Freiheit und Individualität mit der Vorstellung verbunden, eine Person könne nur sein, wer sich dem Staat und seinen Formen widersetzte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Also ein anarchische Totalobstruktion, ähnlich wie sie heute mitunter in sogenannten sozialen Netzwerken en vogue ist. Unter diesen Umständen konnte man für sinnvolle Oppositionsarbeit kaum Anhänger finden. So hielt Kirchenminister Konstantin Pobedonoszew den Liberalen sein pessimistisches Menschenbild entgegen: Pobedonoszew glaubte nicht an die erzieherische Kraft vernünftiger Argumente. Schwach, selbstsüchtig, dumm, gegenüber jeder Vernunft immun seien die meisten Menschen. Demokratie und Rechtsstaat seien in den Ländern des Westens Schöpfungen einer gebildeten, selbstdisziplinierten Elite, die sich auf eine lange Tradition des Individualismus berufen könne. Worauf aber könnten die liberalen Petersburger Eliten schon verweisen? Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich So gab es in Russland lange Zeit weder Parteien noch Gewerkschaften. Keine Organisation, die sich als oppositionelle Kraft tatsächlich auf nennenswerte Teile der Bevölkerung hätte stützen können. Diese Bevölkerung begehrte durchaus auf, wenn ihr etwas nicht passte. Aber, so Baberowski: Die meisten Arbeiter konnten weder lesen noch schreiben, wußten nicht, wie sich Bedürfnisse zur Sprache bringen und durchsetzen ließen. Arbeiter zerstörten Maschinen, verwüsteten Kontore und plünderten Läden, ballten sich auf den Straßen in Massen zusammen. Aber nie kam ihnen in den Sinn, daß sich Gewalt nur dann in produktive Energie verwandeln ließ, wenn man sie in den Dienst von Zwecken und Zielen stellte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Der letzte Zar: machtlos So erschöpfte sich Protest in tumbem, ziellosem Aufruhr. Auf der anderen Seite stand eine immer schwächere Monarchie. Zar Nikolaus II. war nurmehr ein Spielball der Interessen und der Intrigen bei Hofe. Alles blieb in der Schwebe, niemand wußte, wem der Zar sein Vertrauen schenken würde. Wie hätte sich unter diesen Umständen ein Gefühl für die Bedeutung rechtsstaatlicher Verfahren durchsetzen können? Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich 1905: die erste Revolution 1905 erlebte Russland seine erste Revolution. Der gerissene Premierminister Sergej Witte schaffte es, Nikolaus Zugeständnisse abzuringen: In seinem berühmten Oktobermanifest machte der Zar sein Reich tatsächlich zu einer konstitutionellen Monarchie. Damit aber hatte er in dem Land, in dem schon so viele Reformen gescheitert waren, keine Chance. Die einen hielten das Oktobermanifest für ein leeres Versprechen, die anderen für einen Verrat an der Autokratie. Seine Versprechungen glätteten die Wogen nicht, sondern verwandelten den Proteststurm in einen Orkan. Es gab in den Jahren der ersten Revolution wahrscheinlich keinen Ort in Rußland, der nicht vom Terror heimgesucht wurde. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Im ganzen Land ließen die Bauern ihrem aufgestauten Zorn freien Lauf. Sie wandten sich gegen ihre adligen Herren, steckten deren Schlösser in Brand. In Saratow an der Wolga beobachtete das die damals 20jährige Maria von Bock. Was für eine Ironie der Geschichte. Das erste zerstörte Herrenhaus gehörte jenem liberalen Gutsbesitzer, der gewaltige Summen für die Subventionierung der linken Zeitungen geopfert hatte. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Wittes Politik der Verständigung war steckengeblieben. Nur mit rücksichtslos harter Hand brachte Innenminister Iwan Durnowo die Lage unter Kontrolle. Ohne die Entschlossenheit, ja Skrupellosigkeit Durnowos aber wäre der zarische Staat wahrscheinlich schon im Dezember 1905 zusammengebrochen. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Reformer ohne Chance Er hielt sich noch knapp zwölf Jahre. Baberowski weiß noch von hoffnungsvollen Ansätzen zu berichten: Die Gewalt nach der Revolution habe die Liberalen zur Einsicht gebracht, dass sie, statt im Parlament geräuschvoll Fundamentalopposition zu betreiben, mit dem Zaren und seiner Regierung verhandeln mussten. Dann konnten sie Zugeständnisse erreichen. Auf der Regierungsseite kam ihnen der neue Ministerpräsident Pjotr Stolypin entgegen. Stolypin legte nicht nur dem Parlament, sondern auch dem Zaren Fesseln an. Witte hatte das Zarenreich in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt. Stolypin bewahrte sie vor dem Untergang. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Aber Stolypin wurde ermordet, 1911 in Kiew. Mit diesem Attentat schließt das Buch. Man legt es ungern aus der Hand. Reizvoll zu lesen wäre eine Fortsetzung: zu Russlands Weg in den Ersten Weltkrieg, zur Februarrevolution 1917, schließlich zu der Katastrophe für die Menschen in Russland, die übrigens von kaiserlich deutscher Seite eingefädelt wurde: Lenins Oktoberrevolution mit dem Beginn der jahrzehntelangen sowjetischen Tyrannei. In einem vergleichsweise knappen Buch hat Baberowski sich vor drei Jahren schon damit befasst. Hoffentlich schreibt er auch sein Monumentalwerk künftig noch dahingehend weiter. Für den Moment beschränkt er sich auf eine leise Mahnung: Man wird die Revolutionen der Jahre 1905 und 1917, Lenins Terror und Stalins Gewaltherrschaft, nicht verstehen, wenn man sie nur als Ausdruck eines Ideenkonfliktes und nicht auch als Versuche begreift, eine bedrohte Ordnung vor dem Zerfall zu bewahren. Quelle: Jörg Baberowski – Der sterbliche Gott. Macht und Herrschaft im Zarenreich Nachdem durch immer neue Gewaltorgien im ganzen Reich ganze Generationen traumatisiert worden waren. Russische Tragödie So erzählt dieses höchst lesenswerte Buch letztlich eine bedrückende Geschichte: Die Geschichte eines riesigen Landes, in dem enormes Potential steckte, in dem aber immer wieder Chancen verpasst wurden. Weil die Monarchie zumeist keine Ahnung hatte, wo ihre Untertanen der Schuh drückte, und nur Härte kannte. Weil eine liberale Opposition viel zu lange unrealistische Ziele verfolgte. Weil das zaristische Establishment Reformern in der Regierung Knüppel zwischen die Beine warf. Und weil die Masse der Bevölkerung von Politik nichts wissen wollte. Vielleicht war dieses Land in seiner Vielfalt aber auch zu groß, um anders als mit Härte zusammengehalten zu werden. Zwischen den Zeilen kann man bei Baberowski herauslesen, dass er in den Reformjahren nach 1907 Chancen sieht, Russland tatsächlich in eine stabile konstitutionelle Monarchie zu verwandeln. Der Erste Weltkrieg aber setzte all diesen Versuchen ein Ende. Und so war er mit seinen Folgen vielleicht für Russland noch mehr als für die übrige Welt die vielzitierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Mit Folgen bis heute.…
1 Florian Werner (Hg.) – Meine bessere Hälfte. Musiker*innen erzählen über ihre Instrumente | Buchkritik 5:21
Anne-Sophie Mutter spielt ihre Stradivari von 1710, die außer ihr selbst (und hin und wieder dem Geigenbauer) niemand auch nur anfassen darf. Sie beschreibt in ihrem Text auch, wie sie selbst als Virtuosin jede Violine erst erkunden muss: „In welchem Winkel setze ich den Bogen auf? Mit wie viel Druck spiele ich, und mit wie vielen Haaren? Auf welcher Höhe setze ich den Bogen an, und wie wird das Instrument darauf reagieren? Die Geige macht also nicht, was ich will – ich muss tun, was die Geige will!“ Oh ja, Instrumente stellen Ansprüche. Das ähnlich antike Cello von Steven Isserlis sitzt im Flieger stets neben ihm (und zwar am Fenster!); tourende Pianisten dagegen wie Michael Wollny – die müssen mit eher lockeren Bindungen leben: „Auf jeder Bühne ein neues Instrument, jeden Abend eine neue bessere Hälfte. Denn: ich reise nicht mit meinem Instrument. Ich treffe es an.“ Erfahrungen von Musikern vieler Genres und Generationen Es ist eine bunte Runde, die Florian Werner hier zusammengestellt hat: „Das Ganze fing eigentlich schon an als so eine Art Fanboy-Projekt, da sind natürlich viele Musikerinnen und Musiker dabei, die ich einfach schon seit Jahrzehnten wahnsinnig toll finde. Tabea Zimmermann, die Bratschistin, oder Budgie, der Schlagzeuger von Siouxsie & The Banshees, oder eben Jochen Distelmeyer von Blumfeld. Und dann hab ich natürlich geschaut, dass man da so eine große Bandbreite von Instrumenten, von Persönlichkeiten und natürlich auch von musikalischen Genres hat.“ Die angesprochene Bratschistin Tabea Zimmermann etwa erzählt, wie sie ihre künftige Profession schon als Kleinkind mit zwei Kochlöffeln simuliert hat und wie sie, viel später, mit einem Instrumentenbauer ihre perfekte Viola entwirft. Auch Florian Werner spielt Bratsche, das war natürlich der Anstoß zum Buch. So Florian Werner: „Es ist schon so eine Hassliebe, so eine Beziehung mit Höhen und Tiefen zu dieser Bratsche, die, seitdem ich zehn oder zwölf bin, immer in meinem Leben ist, die ich überall dabei hatte, in USA, in Russland, in Ungarn, weiß nicht wo, also die hat mich sehr viel begleitet, und trotzdem immer wieder, wenn eben etwas nicht gelingt auf dem Instrument, und das ist sehr häufig leider bei mir der Fall, dann hat man natürlich so Aggressionen, die man auf dieses Instrument projiziert, also fast als wär das so’ne Partnerin oder ein Partner, wo man denkt, so: Mensch, was ist mit dir los eigentlich, warum antwortest du mir nicht so, wie ich es mir doch wünsche.“ Lustige Anekdoten und historische Betrachtungen Die Texte nun (meist von den Musizierenden geschrieben, teils im Interview gewonnen) sind auch formal vielfältig: Andreas Martin Hofmeir erzählt in lustigen Anekdoten, wie seine Tuba Fanny zu ihren Namen kam und was grobe Zöllner ihr angetan haben; Cellist Steven Isserlis oder der Sitar-Fan PeterLicht dagegen haben eher kulturhistorische Abhandlungen verfasst. Jochen Distelmeyer von der Hamburger Band Blumfeld - er stilisiert seine Gitarre nicht ganz uneitel zur Waffe des Widerstandskämpfers und zum Werkzeug des Sinnsuchers; Inga Humpe vom Elektropop-Duo 2raumwohnung – sinniert schwärmerisch von den Ausdrucks- und Täuschungsmöglichkeiten der Stimme und ihrem gesellschaftpolitischen Potenzial: „Singen Sie in einem Chor! Chorsingen bedeutet, dass man lernt, sich selbst und gleichzeitig anderen zuzuhören. Und das ist eigentlich die Grundvoraussetzung für ein Zusammenleben mit anderen Menschen.“ Vom Glück des Musikmachens Wir lernen außerdem, welch komplexes Instrument das Tonstudio ist – und welch beeindruckendes ein - Pferdeskelett. Und dass manchmal auch Tinnitus oder orthopädische Beschwerden dazugehören, Saxophonist Benjamin Koppel hat beides und noch eine Metallallergie; er spielt trotzdem, unter Schmerzen und mit bisweilen blutigen Fingern. Und so handeln am Ende all diese unterschiedlichen Texte gleichermaßen von der Faszination des Musikmachens; vom Glück, ein Instrument zu spielen. Es ist eine inspirierende Lektüre. Florian Werner meint: „Wenn man weiß, wie die Beziehung zwischen Musikerin/Musiker und Instrument besteht, dann hört man auch die Musik anders und weiß sie auch anders zu schätzen – und bekommt hoffentlich auch selber Lust zu musizieren. Also mir geht’s zumindest so, dass ich mich gerade jeden Morgen mit ganz neuem Schwung an das Klavier setze und dort… dilettiere.“…
Francesca Melandri stellt in ihrem Buch viele kluge Fragen über Krieg und Frieden, aber über allem steht die Überlegung, ob sich Geschichte tatsächlich wiederholen kann. Melandri sagt: „Ja“. Zum Beweis zeichnet sie in ihrem Buch „Kalte Füße“ frappierende Parallelen nach, die sie zwischen dem Faschismus des 20. und des 21. Jahrhunderts erkennt, wenn man die Ukraine in den Blick nimmt. Erst kamen die Nazis, dann Putin, der seinen Krieg groteskerweise als Feldzug zur Entnazifizierung der Ukraine tarnt. Was ist Faschismus? „Was ist Faschismus?“, fragt Melandri den italienischen Widerstandskämpfer Massimo Rendina: Faschismus ist kein politisches Phänomen‘, erklärte er mir. ‚Faschismus ist eine Geisteshaltung‘. Und für dich verwandte er den Begriff anständiger Faschist. Seither bin ich verwirrt, Papa. Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Melandri hat weite Teile ihres Buches in der Form eines Zwiegesprächs mit ihrem verstorbenen Vater Franco verfasst. Aber was soll ein anständiger Faschist sein? Rendina war 1942 mit dabei, als Franco Melandri als Kommandeur einer Truppe so genannter „Gebirgsjäger“ in der heutigen Ukraine gegen die Russen kämpfte. Die „Alpini“ waren Verbündete Nazideutschlands. Rendina stieg aus. Melandri blieb dabei, erkrankte schwer und wurde in Rom als Journalist beim Faschistenblatt „Gazzetta del Popolo“ eingesetzt. Dort trafen sich die beiden wieder: Rendina fungierte als Spion der Partisanen, Melandri schrieb seine Artikel, die mitunter neben der Tageslosung von Goebbels standen. Aber der Vater hat Massimo Rendina nicht verraten. Licht- und Schattenseiten eines Vaters Francesca Melandri liebt ihren Vater sehr. Der literarische Teil ihres Buches behandelt Konflikt und Qual einer Tochter, die mit dem Unterschied klarkommen muss, was der Vater für sie war und was er in der Welt draußen womöglich angerichtet hat. Seite für Seite folgen wir der Autorin in ihrer steigenden Verzweiflung. Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa? Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Melandri fährt in die Ukraine, um zu den Orten zu recherchieren, an denen ihr Vater Krieg führte. Wir kennen ihre Namen aus den Nachrichten: Isjum, Charkiw, Mykolajiwka. Für seinen Einsatz in Mykolajiwka erhielt Franco Melandri einen Tapferkeitsorden in Silber. Die Tochter, so lesen sich ihre hochemotionalen Ausführungen zum Krieg dort heute, ist entschlossen, vielleicht auch stellvertretend für den Vater, dieses Mal auf der richtigen Seite zu stehen. Die Russlandfreunde unter den Linken sind ihr suspekt geworden. Was bringt es, uns als stolze Antifaschisten zu fühlen und Bella Ciao zu singen, aber dann einen lupenreinen Faschisten wie Putin nicht zu erkennen, wenn er direkt vor uns steht? Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Der Wolpertinger unter den Büchern „Kalte Füße“ ist eine rasante Mixtur vieler Textformen. Neben der Zwiesprache mit dem Vater, gibt es kluge essayistische Passagen, zum Beispiel über Hartnäckigkeit und Heldentum, eine Nacherzählung der Familiengeschichte der Melandris, Protokolle, Reportagen, historische Ausführungen, etwa zu einem sibirischen Lager, in dem einst Solschenizyn gefangen war und heute russische Deserteure eingesperrt sind. Da ist es wieder, Putins Projekt, das zukünftige Russland in die Windungen der Vergangenheit einzuwickeln. Quelle: Francesca Melandri – Kalte Füße Eine Tragödie, die sich als Farce wiederholt Der Titel „Kalte Füße“ bezieht sich auf zwei Dinge: einmal konkret auf die nahezu erfrorenen Füße der italienischen Gebirgsjäger 1942 in der Ukraine und zum anderen auf die symbolisch kalten Füße der Westeuropäer, gegen Putin Partei zu ergreifen. Geschichte wiederholt sich, so Francesca Melandris Grundthese. Und mit dieser Ansicht ist sie nicht allein. „Hegel bemerkte, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen“, schreibt Karl Marx im Jahr 1852 Hegel habe aber „vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“…
Hoffnung habe in der Polykrise der Gegenwart Hochkonjunktur, schreibt Jonas Grethlein zu Beginn seiner „Kulturgeschichte eines Weltverhältnisses“ und stellt sich die Frage, woher dieses Gefühl eigentlich kommt. Oder ist es gar kein Gefühl, sondern eine Strategie, über welche die menschliche Ratio frei verfügen kann – zum Trost, zur Bestärkung oder gar zur Flucht vor und aus den Bedrängungen des Lebens? Unterschied zwischen Hoffnung und Utopie In acht Kapiteln spannt Jonas Grethlein einen Bogen von der homerischen Antike bis ins 21. Jahrhundert und zeigt dabei die Facetten eines Begriffs, der in die Zukunft weist: So wie die Erinnerung sich der Vergangenheit, so wendet sich die Hoffnung der Zukunft zu. Aber was unterscheidet die Hoffnung von der Utopie? Utopie ist ganz wörtlich genommen der Nicht-Ort. Es handelt sich um Idealvorstellungen, die sich so nicht realisieren lassen. Hoffnungen haben dagegen immer etwas als Gegenstand, was einem als möglich und prinzipiell realisierbar erscheint. Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung Es geht offenbar um eine beidseitige Beeinflussung: „Hoffnung“ ist von der jeweiligen Kultur geprägt – Grethlein zitiert den römischen Historiker Sallust, der in der Hoffnung einen Ausdruck eines Sittenverfalls sieht, spiegele sie doch die Gier römischer Hegemonialpolitiker; aber umgekehrt prägt sie auch das Denken der Menschen und führt zu einem kulturellen Paradigmenwechsel: Nur drei Generationen nach Sallust steht der positiv konnotierte Hoffnungsbegriff im Zentrum der Lehre des Apostels Paulus und wird zur folgenreichen Begründung einer Religion, welche die Hoffnung zur Tugend erhebt. Ist es vermessen, von einem Anzeichen des Endes der Antike durch diese paulinische relecture des lateinischen Begriffs „spes“ bzw. des griechischen Begriffs „elpis“ zu sprechen, die beide mit Hoffnung übersetzt werden? Paulus ist in der Geschichte der Hoffnungen eine wichtige Zäsur; war Hoffnung davor in der Antike etwas eher Ambivalentes, so wird Hoffnung jetzt als die Hoffnung auf das Ewige Leben ganz stark und positiv aufgeladen. Quelle: Jonas Grethlein – Hoffnung Hoffnungsbegriff als treibende Kraft in der Geschichte Aber auch im Hochmittelalter erweist sich der Hoffnungsbegriff und seine Wandlungen als treibende Kraft: Inmitten einer durch ein nachgerade in Stein gemeißeltes ordo-Denken geprägten Epoche entfaltete sich durch die christliche Hoffnung eine eigene Dynamik: Es war die Geschichtstheologie des Joachim von Fiore, die laut Jonas Grethlein die diesseitige Zukunft als Raum für weitreichende Hoffnungen eröffnete – was aber eben auch zu utopischen Zukunftsentwürfen führte. Letztere haben ein Charakteristikum des Hoffnungsbegriffs geschwächt – nämlich die Unverfügbarkeit. Oder mit den Worten Jonas Grethleins: „Hoffen ist an Kontingenz gebunden, sie entfaltet sich im Raum des Anders-Sein-Könnens und zielt auf Unverfügbares.“ Somit ist Hoffnung inkompatibel mit den großen geschichtsdeterministischen Ideologien des 19. Jahrhunderts: Weder die Revolutionsvorhersagen des Marxismus noch die Idee, dass der Nationalstaat das Telos der Geschichte sei, können – so Grethlein – mit Hoffnung assoziiert werden, weil sie die Geschichtlichkeit des Menschen leugnen und Kontingenz durch die Notwendigkeit des Fortschritts ersetzen. Und was wird aus der Hoffnung im Schatten der Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts? Das vorletzte Kapitel öffnet ein Panorama, das von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ über Albert Camus‘ Skepsis gegenüber jeglicher Hoffnung bis hin zu Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung reicht. Wo aber bleibt – so fragt Grethlein – die Hoffnung im Konzentrationslager? Offenbar droht der Hoffnung angesichts von Auschwitz das gleiche Schicksal, das Adorno für die Poesie diagnostizierte, nämlich die Unmöglichkeit. Hoffnung motiviert Handeln Und doch gibt es Hoffen im Anthropozän – so der Titel des letzten Kapitels; aber es gibt sie womöglich nur um den Preis ihrer Funktionalisierung: „Hoffnung motiviert nicht nur Handeln, sie trägt auch zur Zufriedenheit bei“, heißt es gegen Ende eines Buchs, das Hoffnung – daran sei erinnert – eingangs als Weltverhältnis charakterisiert. Angesichts von Klimakrisen, Kriegen und politischen wie sozialen Verwerfungen ist die Hoffnung eine Herausforderung. Jonas Grethleins Buch ist ein Plädoyer dafür, sie anzunehmen.…
Die Anwohner sind längst gegangen. Sie fliehen vor dem Hochwasser. Nur eine nicht: Die 81-jährige Gudelia harrt aus in ihrem Haus. Sie will es nicht den drohenden Fluten überlassen, nicht dem Durcheinander danach. »In dem Haus ist mein ganzes Leben.« Er schnaubt. »In dem Haus ist dein ganzes Leid.« Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und geht. Ich bleibe zurück, sehe ihm hinterher. Der Himmel zieht zu. Wir haben beide recht. Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Gudelia – das wird in Thomas Knüwers Kriminalroman von Anfang an deutlich – hat etwas zu verbergen. Was genau? Das erzählt Knüwer auf drei Zeitebenen: Im Jahr 1984 stirbt Gudelias 15-jähriger Sohn Nico, nachdem er mit Schulfreunden auf einer Party war. Im Straßengraben findet sie ihn. „Schwuchtel“ steht auf seinem Unterarm mit Edding geschrieben. Vierzehn Jahre später – also 1998 – zerbricht ihre Ehe. Ihr Ehemann hat schon immer viel getrunken. Aber seit dem Tod seines Sohnes hat er kaum etwas anderes gemacht. In der Erzählgegenwart 2024 setzt das Hochwasser ein. Gudelia bewacht ihr Haus und sieht in der Nacht die Leichen zweier Menschen, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt sind. Psychogramm einer trauernden Frau Dieser Kriminalfall um die zwei gefesselten Menschen wird in „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ eher beiläufig abgehandelt, er wäre auch nicht nötig gewesen: Die Vergangenheit ist spannend genug. Man ahnt zwar früh, was Gudelia verbirgt. Das gesamte Ausmaß überrascht aber doch. Gudelias Tun wird mit zu vielen unnötigen Details geschildert, die für einige Seiten das zuvor gekonnt gehaltene Erzähltempo verlangsamen. Der Wunsch, alles zu erklären, nimmt dem Wahnsinn Gudelias die verzweifelte Unerbittlichkeit. Überwiegend aber gelingt es Knüwer, mit knappen Sätzen und präzisen Beobachtungen Atmosphären und Szenen entstehen zu lassen. Beim Abendessen war draußen kein Mensch mehr. Die Straßen hatten Autos durch Wasser ersetzt. Ich habe mir ein Spiegelei gebraten und auf eine Scheibe Graubrot mit Butter und Schinken gelegt. Strammer Max. Habe ich Heinz und Nico oft gemacht. Schnell, einfach, sättigend. Für Nico mit Ketchup, für Heinz mit Bier. Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Horror in der Provinz Mit klug gewählten Details entwirft Knüwer Gudelias Leben in dem fiktiven kleinen Dorf Unterlingen, irgendwo im Süden Deutschlands. Mit einer Zeitung namens „Donau-Nachrichten“, ein bisschen Landwirtschaft, einer Kirche und einem Pferdehof. Gudelia dachte, sie weiß, wie es sein würde, mit Mann und Kind alt zu werden. Nicos Tod hat alles erschüttert. Das spiegelt sich in der bündigen Erzählweise, den zwischen den Jahren wechselnde Kapiteln und den kurzen, bruchstückhaften Passagen, die zugleich eine dräuende Spannung aufbauen. Knüwer, gelernter Journalist und Inhaber einer Digital- und Kreativagentur, erkennt eine Pointe, wenn sie sich bietet, strapaziert sie aber nicht über. Vielmehr durchbricht er damit für einen Moment das schleichende Grauen dieses Dorfhorrorromans. Niemand darf hier sein. Niemand. Hinter dem Garten stehen drei Fichten. Bernhards Rhododendron ist gut gewachsen. Höher, als ich groß bin. Die Blätter glänzen braun, sie stinken. Der Garten hat die Fluten überstanden und mit Schönheit bezahlt. Die Pflanzen sind stark. Sie verbergen, was der Riss offenbart – was ich seit vierzig Jahren verstecke. Quelle: Thomas Knüwer – Das Haus in dem Gudelia stirbt Das Szenario, das Thomas Knüwer entwirft, ist erschreckend nah an der Realität, nicht nur eines Lebens in einem Dorf. Erst im Sommer gab es Hochwasser in Süddeutschland. Die Bilder von Wassermassen, überfluteten Häusern und zerstörten Gebäuden übermitteln aber nicht den bestialischen Gestank, der sich durch überflutete Gebiete zieht. In Unterlingen entstanden durch Schweinekadaver, Dreck und übergelaufene Kanalisation. Für Gudelia ist dieser Gestank eine Waffe. Er hält unerwünschte Eindringlinge fern. Doch gegen das Wasser gibt es kein Mittel. Unerbittlich dringt es in jede Ritze des Hauses ein. Und spült in diesem packenden Kriminalroman die ganzen dreckigen Geheimnisse nach oben.…
Werden Eltern alt, sehen sich ihre Kinder häufig, auch wenn sie nicht vor Ort wohnen, mit wachsenden Aufgaben konfrontiert. Peggy Elfmanns Anregungen, wie man die Situation etwas entspannter meistern kann, sind im vertraulichen Ton einer Freundin geschrieben, die gerade durchgemacht hat, was einem selbst noch bevorsteht. Man wird als Leserin also geduzt. Gleichzeitig heißt es immer wieder – und hier denkt man dann eher an einen Coach oder Agenten: „Ich möchte Dich dazu einladen“ dieses und jenes zu versuchen, nachzudenken oder auch nur einmal innezuhalten. Das Thema ist ernst und belastend, gleichzeitig aber für viele eine Alltagserfahrung: Über das Pflegen zu sprechen fällt schwer, denn es geht auch ums Abschiednehmen. Niemand kann dir sagen, was die Zukunft bringt und all die Wünsche und Pläne dafür brauchen immer wieder ein Update. Quelle: Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt Der sich schnell verändernden Situation die besondere Schwere zu nehmen und in den permanenten Veränderungen ein Stück Normalität zu sehen, ist ein Anliegen des Buches. Den richtigen Zeitpunkt für Maßnahmen zu finden, die das Leben erleichtern, ist eine Kunst für sich. Häufig sind gerade die alten Eltern der Ansicht, dass alles „noch Zeit habe“. Das Zeitverständnis unterscheidet sich bei älteren Menschen grundlegend vom Tempo der um eine oder mehrere Generationen jüngeren Helferinnen. Und schnelle Lösungen sind eher nicht gefragt, stattdessen müssen Ideen sich erst allmählich entwickeln. Schöne Momente sammeln Die 50 Tipps der Autorin sind sehr unterschiedlich. Manches ist einfach nur banal, wie to-do-Listen zu schreiben und nach Wichtigkeit zu sortieren, gibt es tatsächlich Menschen, für die das etwas Neues ist? Andere Ideen klingen sinnvoll, so die Idee, schöne, gemeinsam erlebte Momente aufzuschreiben und auf Zetteln zu sammeln. Aber dann geht es sehr ins Detail: So ein Marmeladenglas mit feinen Momenten kann einen kleinen Beitrag leisten. Und: Jeder kann es füllen. Egal ob Enkel oder Freunde. Schnappt euch ein Marmeladenglas, genießt den Inhalt auf Frühstücksbrötchen oder Pancake und verwendet das Gefäß dann für deine, für eure süßen Erinnerungen. Quelle: Peggy Elfmann – Meine Eltern werden alt Im Gespräch unter Freunden mag dieser Vorschlag die Betroffenen aufmuntern. Liest man ihn in einem Buch, mutet er, solchermaßen munter ausgeschmückt, etwas zu pathetisch an. Zuhören, einander Zeit schenken, Tannenzapfen oder Beeren von einem Spaziergang mitbringen, um Erinnerungen zu wecken oder haptisch ein wenig Natur zu genießen, Musik aus der Jugendzeit zu hören, all das mag bereichern oder auch die Melancholie wecken. Dennoch: Peggy Elfmann, die selbst drei Kinder alleine großzieht und aus der Ferne sich gemeinsam mit den Geschwistern um die Eltern gekümmert hat, führt warmherzig an die Probleme heran. Nachsicht mit sich selbst walten lassen Sie rät auch immer wieder dazu, nicht nur mit den alten Eltern nachsichtig zu sein, die nicht immer annehmen, was man ihnen Gutes tun möchte, sondern auch mit sich selbst. Niemand sollte seine eignen Interessen zu sehr vernachlässigen, sondern sich aktiv Hilfe bei der Bewältigung der kräftezehrenden Aufgabe suchen. Hier wird es schwierig. Unter Geschwistern, Enkeln und Verwandten kann man die Aufgabe nur aufteilen, wenn welche vorhanden sind. Ein soziales Netzwerk aus der Nachbarschaft und Freunden erfordert Offenheit und Vertrauen der alten Menschen. Und gerade auch zu Zeiten des demographischen Wandels: Schon in naher Zukunft wird es nicht mehr genügend agile Nachbarn geben, die hilfsbedürftige Alte unterstützen können, und wenn doch, sind diese vermutlich mit den eigenen Eltern beschäftigt. Hilfe von Außenstehenden zu bekommen, aber auch sie anzunehmen, ist schwierig, die Probleme liegen also tiefer und sie sind nicht einfach zu lösen. Man darf sich also von Elfmanns Ideen im konkreten Fall nicht allzu viel versprechen.…
Prag an einem geschäftigen, sonnigen Herbstnachmittag: Touristen strömen durch die Gassen der Altstadt – auch vorbei an einem Renaissance-Haus, über dessen Holztür zwei Bären prangen. Es ist das Geburtshaus von Egon Erwin Kisch, in dem sein Vater und Onkel einen Laden für Tuchwaren hatten, erzählt Krimiautor Martin Becker: „Der Onkel von Egon Erwin Kisch und der Vater hatten hier dieses Geschäft. Und Kisch war, so beschreibt er es selbst, als Kind oft dort und hat dort auch seine erste Zeitung namens ‚Zeitung‘ herausgebracht. Er hat halt Bleibuchstaben zusammengesucht, bis er irgendwann drei Sätze zusammen hatte, und hat dann quasi unter dem Tisch sitzend in diesem Tuchwarenladen seine eigene Zeitung rausgebracht." Schon zu Kischs Zeiten ist es in dieser Ecke Prags lebhaft zugegangen. Egon Erwin Kisch wird zum Kriminalreporter Der spätere „rasende Reporter“ wird hier bereits einiges von der Stadt mit ihren hellen und dunklen Seiten mitbekommen haben, ist sich Becker sicher: „Überliefert ist, dass Kischs Mutter vom Balkon aus manchmal die hier wartenden Prostituierten gefragt hat, wo denn Egonek sei. Und die haben dann gesagt, wissen wir nicht." In ihrem Roman machen Martin Becker und Tabea Soergel aus dem Reporter Egon Erwin Kisch einen Kriminalreporter, der eigene Fälle löst. Das liegt durchaus nahe, denn Kisch war in Prag bestens vernetzt und kam auch immer wieder mit Gaunern und Ganoven in Kontakt. Der Roman spielt im Jahr 1910. Kisch war damals 25, hatte sich bereits einen Namen gemacht und schrieb für eine konservative Tageszeitung: Das ist der Eingang der Bohomia . Quelle: Martin Becker Martin Becker blickt durch die Toreinfahrt eines klassizistisch anmutenden Hauses, in dem heute das Ballett des Prager Nationaltheaters probt und sagt: „Man kann einen kleinen Blick in den Hof hineinwerfen und sehen, dass da hundertprozentig Platz war für allerlei Druckmaschinen." Prag im Jahr 1910 – Alltag und politische Lage 1910 erschien die Bohemia zwei Mal am Tag. Tabea Soergel hat sich unzählige Ausgaben der Zeitung angesehen: „Man kann leider nicht, wenn man in diesem Archiv sucht, irgendwie Copy und Pasten. Aber ich habe wirklich von Hand sehr viele Artikel einfach abgeschrieben, wo ich dachte, das könnte man vielleicht noch mal gebrauchen." Im Buch finden sich viele Artikel der damaligen Zeit als Schlagzeilen wieder – in kurzen Aufzählungen, die viel über die politische Lage des Jahres 1910 und den Alltag in Prag verraten: In Britisch-Indien begann ein Aufstand gegen die Kolonialherrschaft, wovon man in Prag wenig Notiz nahm. Und genauso wenig Nachhall hatte dort die Ermordung des ägyptischen Ministerpräsidenten durch einen jungen Medizinstudenten. Und die deutschen Schüler der Kunstgewerbeschule in Prag traten aus Protest gegen die Entlassung eines deutschen Mitschülers tagelang in den Schulstreik. Quelle: Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag Für größere Aufregung sorgte damals der Halley’sche Komet, der an der Erde vorbeiraste und dessen vermeintlich giftiger Schweif die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Der Kriminalreporter wittert eine Sensation In diesem Tumult geht die Mordserie, die sich im Roman ereignet, fast unter: Erst stirbt ein Versicherungsmakler, dann der Kriminalreporter des Prager Tagblatts. Seinen Kollegen Kisch beflügeln diese Unglücke. Er wittert die große Sensation, den Solokarpfen, auf den er schon lange wartet: Wenn er hörte, dass es in manchen Familien zu Gerangel kam, weil jeder zuerst seine neue Gerichtsreportage lesen wollte, dann schmeichelte ihm das. Aber es reichte ihm nicht. Worauf Kisch seit Jahr und Tag lauerte, das war der große Scoop. Der Solokarpfen. Der ihn nicht nur in seiner Stadt, sondern im ganzen Land berühmt machen würde. Quelle: Martin Becker, Tabea Soergel – Die Schatten von Prag In dem Fall voran kommt er allerdings nur mit Hilfe der Medizin-Studentin Lenka Weißbach. Sie ist von Berlin nach Prag zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Problematisches Verhältnis zu Frauen Während die Autoren ihre Kisch-Figur mit einem intuitiven Gespür für Situationen ausstatten, besticht Lenka durch einen scharfen, analytischen Blick. Dass es diesen zweiten Blick gibt, war Tabea Soergel wichtig: „Die ganzen progressiven jungen Literaten in Prag, also auch Kafka, die hatten alle ein sehr problematisches Verhältnis zu Frauen. Auch Kisch, glaube ich. […] Er war schon ein Macho. Okay, er hat auch sehr viele positive Seiten. Deswegen ist es eben auch gut, dass es eine sehr präsente weibliche Hauptfigur gibt neben ihm." Das historische Setting und die Dynamik der Figuren erinnern an die Kriminalromane von Volker Kutscher: Kisch ist wagemutig und melancholisch zugleich. Lenka kämpft dagegen mit dem Frauenbild ihrer Zeit. Besonders reizvoll macht die neue Krimireihe aber Prag als Handlungsort, den das Autorenteam mit vielen Details beschreibt - so wie mit dieser Szene, die sich am berühmten Wenzelsplatz zugetragen haben soll, meint Becker: „Spätnachts, wenn im Grunde alles schon zu hat, gab es - das hat Kisch sehr ausführlich beschrieben - mobile Teestationen, wo man eine Buchtel, eine Zigarette und einen Tee mit Schuss bekam. Kisch behauptet, dass die Teestation, die hier stand, angeblich von einer Dame betrieben wurde, die diesen Wagen von zwei Doggen ziehen ließ. Ob das stimmt, weiß man natürlich wieder nicht." Spannender und atmosphärisch dichter Krimi Auch wenn sie bei ihrer Recherche zahlreiche Biographien, Bildbände und natürlich die Reportagen von Egon Erwin Kisch zu Hand genommen haben, hätten sie sich ihren eigenen Kisch erfunden und es – genau wie der rasende Reporter – an der einen oder anderen Stelle mit der historischen Wahrheit nicht ganz so genau genommen, erzählen Martin Becker und Tabea Soergel. Mit Die Schatten von Prag ist ihnen ein spannender und atmosphärisch dicht erzählter Krimi gelungen, der Lust auf eine Fortsetzung macht. Und tatsächlich ist Kischs zweiter Fall bereits in Arbeit: Die Feuer von Prag , so der Arbeitstitel, soll im Herbst 2025 erscheinen.…
Falle Schnee, auf unsere Kindheit – / Zuflucht aus Treue und Klang, / hier waren wir vertraut / mit der dunklen Seite der Sprache / mit der Verdunklung der Zärtlichkeit, / hier lernten wir die Stimmen zusammen zu legen / wie Besitz … Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Eine „kurze Geschichte vom Schnee“ will die Stimme in diesem Gedicht von Serhij Zhadan zusammentragen, gestützt auf Nacherzählungen von Augenzeugen, ebenso auf Lieder und Erinnerungen von Passanten. Der Schnee wird dabei selbst auf den Weg geschickt, durch die nächtliche, dunkle Stadt, zu den Feldern vor ihren Toren, ebenso durch die Lebenszeit eines Menschen. Und nichts verschwindet hier unter dem Schnee. Im Gegenteil: Alles tritt ans Licht. Schnee als Metapher für Veränderung Für Serhij Zhadan – so erzählt er dieser Tage im Interview – ist der Schnee eine Metapher für Bewegung und Veränderung, selbst in Momenten der Erstarrung: „Einerseits ist Schnee, das, was das Leben bedeckt, das, was nach einer bestimmten Manifestation des Lebens kommt, andererseits ist Schnee nichts Endgültiges, nichts, was alle möglichen Auswege versperrt. Trotz allem kommt nach ihm etwas, nach ihm bleibt trotz allem die Möglichkeit eines Auswegs, die Möglichkeit der Stimme." Im neuen Gedichtband „Chronik des eigenen Atems“ nimmt die „kurze Geschichte des Schnees“ eine wichtige Rolle ein. Das lange Gedicht, datiert auf den 10. Februar 2022, ist das letzte, das vor dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine entstand. Vier Monate lang konnte Serhij Zhadan keine Poesie mehr schreiben. Die Sprache verschwand, berichtet der Schriftsteller, der heute auch als Soldat für die Freiheit seines Landes kämpft, im Nachwort des Buches. Der tiefe Bruch, die russische Invasion, ist in der Mitte des Gedichtbandes dokumentiert. Gedichte gegen das Verstummen und die Angst Es gibt ein sicht- und fühlbares Davor und Danach. Die Gedichte nach dem Februar 2022 richten sich auch gegen das Verstummen, ebenso gegen die Angst Es erwarten Menschen den Abend, die Schnecken gleichen, / so hart schlafen sie auf den Bahnhöfen, so tief. / Gebrochen die Grenzlinie wie ein Kiefernzweig. / Der Weg ist schwer, wenn du dein Haus und dein Gestern auf dem Rücken trägst. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Die Menschen, die den Schnecken gleichen, flüchten vor den russischen Aggressoren: Frauen und Kinder, auf der Odyssee westwärts, auf Wegen, die von Stimmlosigkeit markiert sind. „Das Haus ist euch genommen, nicht aber das Herz“, ruft ihnen die Stimme im Gedicht aus dem August 2022 nach. Die Poesie, so Serhij Zhadan, könne das aufnehmen, was auf den ersten Blick als unsagbar erscheint. Es könne hinter die Dinge, hinter das Sichtbare blicken. Das macht diese Form des Schreibens – in den Augen des Schriftstellers – besonders: „Und natürlich braucht es ein Bild, eine Metapher, eben genau die metaphorische Art zu sprechen, um diesen Dingen Klang zu verleihen, um sie aus dem Schatten zu holen, um sie aus dem Dunkel ans Licht zu holen. Vielleicht ist das eine Funktion der Dichtung in diesen Zeiten, in den Zeiten des Krieges, dass die Dichtung von etwas Zeugnis ablegen kann, wozu die gewöhnliche menschliche Sprache nicht in der Lage ist, wofür ihr die Sprachkraft, das Vokabular nicht reicht." Serhij Zhadans „Chronik des eigenen Atems“, begonnen im März 2021, führt bis in den Juni 23. Immer wieder durchstreifen die Gedichte, eindrücklich übertragen von Claudia Dathe, die große Stadt: Charkiw. Hier ähnelt die Metropole – vor der Ausweitung des Angriffskrieges – einem Liebesbrief, dort wird sie, im ersten Kriegswinter, von Sternsängern durchquert, dann schließlich wird sie von den Menschen verteidigt und vorgetragen „wie ein Gedicht“. Ebenso werden die Landschaften im Umland, darunter die Flussufer und die Weinberge, im Wandel der Jahreszeiten und Zeitläufte festgehalten in den Versen. Poetische Gespräche mit Autoren Und: Serhij Zhadan führt immer wieder ein poetisches Gespräch mit Autoren, die für ihn wichtige Bezugspunkte im Schreiben sind. Darunter Bruno Schulz, der große polnischsprachige Erzähler aus Galizien, 1942 von den Deutschen ermordet. So Zhadan: „(Bruno) Schulz‘ Figur hat eine besondere Tragik, denn nun sind ja schon 80 Jahre vergangen, seit er umgekommen ist, und in der Ukraine werden immer noch Autoren umgebracht, kommen immer noch Autoren um, das ist natürlich, das ist unverzeihlich, es ist sehr bitter, sich das zu vergegenwärtigen, es ist sehr bitter, darüber zu sprechen, denn die Kultur ist schrecklich empfindlich, was den Krieg angeht, sie ist de facto die Komponente, die in erster Linie zerstört wird, sie ist die erste, die dem Druck nicht mehr standhält, die kaputtgeht, zerstört wird, und das sind dann die Welten, die sich später nicht mehr wiederherstellen lassen." Serhij Zhadan hat Bruno Schulz eine Reihe von Psalmen gewidmet. Dem Krieg – und mit ihm den immer wiederkehrenden Schnee – setzt er die Liebe entgegen. Sie steht überhaupt im Zentrum der gesamten Gedichtsammlung, ist Kontrapunkt zu allen Verheerungen der Gegenwart. Auch wenn es nicht um Liebe geht – es geht trotzdem um Liebe. / Auch wenn du nicht existierst – deine Abwesenheit / gibt denen Hoffnung, die überhaupt nichts haben, / die in den Trümmern alte Schulbücher finden. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Je länger der russische Krieg gegen die freie Ukraine andauert, desto mehr findet auch das damit verbundene Geschehen konkreten Niederschlag in den Gedichten. Nur selten aber vordergründig, wie etwa dann, wenn, im ersten Winter und im Schnee, von Kämpfern die Rede ist, die dem Land ausgehen. Der dritte Kriegswinter in der Ukraine Serhij Zhadan schreibt oft aus einer Position der Stille heraus, abtastend, beobachtend, erkundend. Während seine „Chronik“ in Deutschland erscheint, beginnt in der Ukraine der dritte Kriegswinter. Als der Schriftsteller einige Gedichte aufnimmt, so berichtet er, schlägt in der Nähe seiner Wohnung eine Rakete ein: „Denken Sie einfach daran, dass tatsächlich genau jetzt unsere Städte, unsere Dörfer unter russländischem Beschuss liegen, genau jetzt Ukrainer, Erwachsene und Kinder sterben, das passiert jeden Tag, und da ist eine furchtbare Sache, die man weder auf die Politik noch auf die Geopolitik noch auf irgendwelche ökonomischen Interessen schieben kann. Natürlich hoffen wir sehr auf Hilfe. Vielleicht mehr noch als auf Hilfe hoffen wir auf Verständnis, für uns ist es sehr wichtig, dass wir in einer gemeinsamen Sprache miteinander sprechen, dass es sich dabei um eine ehrliche Sprache, um eine offene Sprache handelt. Das ist es, was die Menschen tun können." Am 19. Oktober 2022 (kurz vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan) heißt es in der „Chronik des eigenen Atems“: Die Sprache brauche jene, die leise sprechen / und überzeugend schweigen. Quelle: Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems Das wäre auch eine treffende Umschreibung für diese Gedichte, Ausdruck eines tiefen Humanismus und einer stetigen Ermutigung. Wir sollten hören, was dem Schweigen inmitten von Krieg und Kälte erwächst.…
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Bücher von Anne Tyler, Cemile Sahin, Doris Vogel, Martin Becker, Tabea Soergel und einem Gespräch über ein unerwünschtes Fest zum 50. Geburtstag
Ausgerechnet am Tag vor der Hochzeit ihrer einzigen Tochter kommt es ziemlich dicke für die 61-jährige Gail: Nach Jahren als stellvertretende Schuldirektorin droht ihr die Kündigung wegen vorgeblich mangelnder Sozialkompetenz. Dann steht plötzlich ihr Ex-Mann Max vor der Tür, um sich für zwei Nächte in ihrem Häuschen in Baltimore einzuquartieren. Zu allem Überfluss mit einer alten Katze im Schlepptau, dabei ist der Schwiegersohn in spe schlimm allergisch. Damit nicht genug, sitzt wenig später die Tochter Debbie aufgelöst auf dem Sofa, weil sie von einem nicht lang zurückliegenden Seitensprung ihres Bräutigams erfahren hat. Frauenleben auf emotionaler Sparflamme Das ist die Ausgangssituation des neuen Romans von Anne Tyler, „Drei Tage im Juni“. Wie wird es in diesen drei Tagen nun weitergehen? Wird Max mit seiner raumgreifenden Art seiner Exfrau, wie erwartet, den letzten Nerv rauben? Wird Debbies Hochzeit platzen oder werden ein paar kleine „white lies“ alles richten? Und wie wird es mit der Katze weitergehen, vom Job ganz zu schweigen? I ch malte mir aus, wie ich in der halbleeren Kirche saß, während die restliche Hochzeitsgesellschaft mit dem Finger auf mich zeigte und ,Die arme Gail, habt ihr schon gehört?‘ flüsterte. Gefeuert. Mit einundsechzig. Weil sie keine Sozialkompetenz hat. […] Diese biedere Frau, diese blasse Person mit den Schnittlauchlocken, die sich nicht im Mindesten um ihr Aussehen schert! Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Anne Tyler lässt dieser Exposition ein Kammerspiel folgen, das sich zum Porträt einer Frau mit einem Leben auf emotionaler Sparflamme weitet. Ganz oder fast alltägliche Vorgänge wie ein ziemlich misslingender Friseurbesuch, der Kauf eines Anzugs für den Brautvater Max, Restaurantbesuche und Imbisse in der eigenen Küche, die Probe für die Trauung am nächsten Tag rufen Erinnerungen auf: an das Kennenlernen in der Studenten-WG, den ersten Kuss bei einem Picknick vor einem malerisch gelbgoldenen Getreidefeld, die ersten gemeinsamen Jahre. Die kleinen Dinge statt der großen Dispute Um die Leser ins Nachdenken zu bringen – etwa über Willensfreiheit, die Rolle des Unbewussten oder die Frage, was eine Ehe am Laufen hält – braucht Anne Tyler keine tiefgründig-bildungssatten Dialoge oder Erwägungen. Die kleinen Dinge illustrieren Gails Beziehung zu Max. Zwanzig Jahre nach der Scheidung und einigen schwierigen Phasen ist das Verhältnis der beiden einigermaßen befriedet. Doch weiterhin hängt Gail der Auffassung an, Max neige im Umgang mit anderen wie mit sich selbst zu einer gewissen achtlosen Übergriffigkeit. Grenzen – sein großes Problem. Er kannte keine Grenzen. Für mich waren Grenzen wahnsinnig wichtig. Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Wie zu erwarten war, geraten diese Grenzen bei Gail nach und nach ins Bröckeln. Die gemeinsam verbrachte Zeit, das erleichternde Gefühl des Einverständnisses gegenüber den Herausforderungen der Hochzeitsfeierlichkeiten, die geteilte Sorge um die Tochter führen Gail vor Augen, was Max vielleicht schon länger wusste: dass da noch etwas ist, woran man anknüpfen könnte. Er entpuppt sich nämlich als gar nicht so achtlos, wie Gail denkt, sondern kennt sie womöglich besser als sie selbst. So begegnet er ihrer gewohnheitsmäßigen Bedenkenträgerei mit einem fast rührenden Vergleich: Er musterte mich. ,Weißt du, was du brauchst? Du brauchst einen Donnermantel.‘ ,Einen was?‘ ,So ein eng anliegendes Mäntelchen, das man Hunden anzieht, die sich vor Donner fürchten. Meine Güte! Führst du eine Liste, auf der jede Sache, um die du dich sorgst, einzeln aufgeführt ist? Und wie merkst du dir das alles?‘ Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Tatsächlich ist Gails Selbstbewusstsein prekär und schwankt zwischen Selbstzweifel, verdrängten Gefühlen von Schuld und Trauer und – ja, auch – Rechthaberei. Das macht es den anderen im Allgemeinen und Max im Besonderen nicht gerade leicht. Stichwort „fehlende Sozialkompetenz“. Denn sie wissen nicht, was sie tun Gails allmählich wachsende, kurz sogar von Panik begleitete Selbsterkenntnis, nachdem die Tochter in die Flitterwochen aufgebrochen ist und Max wieder heimwärts Richtung Delaware, gießt die begnadete Menschenkundlerin Anne Tyler in ebenso komische wie ergreifende innere Monologe: Was sollte ich mit dem Rest meines Lebens machen? Ich bin zu jung für diese Situation, dachte ich. Nicht zu alt, wie man hätte meinen können, sondern zu jung, zu unbeholfen, zu ahnungslos. Warum waren keine Erwachsenen in meiner Nähe? Warum nahmen alle an, dass ich wüsste, was ich tat? […] Warum war ich nur so verschlossen ? Quelle: Anne Tyler – Drei Tage im Juni Dass Menschen mitnichten immer wissen, was sie tun, kann bekanntlich fatale Folgen haben. Auch Anne Tylers in ihrer ganzen verschlossenen Unbeholfenheit bezwingende Heldin Gail hat dies einmal erfahren – und damit ihre Ehe ruiniert. Es kann aber auch ein Glück sein, vorausgesetzt, man tut das, was Gail künftig neu lernen wird: es auch mal gut sein lassen. Gut möglich, dass eine betagte Katzendame ihren Anteil daran hat. Anne Tylers „Drei Tage im Juni“ ist ein Kabinettstück aus der Mittelschicht der USA, deren Angehörige trotz allem mehr oder weniger erfolgreich versuchen, ihrem moralischen Kompass zu folgen. Ein kleiner, feiner Roman, den man gern zwei- oder dreimal liest, um herauszufinden, wie alles so kommen konnte.…
Der Held in Lucy Frickes neuem Roman „Das Fest“, Jakob, wird 50 und steckt in einer klassischen Midlife-Crisis. Er ist Single, nicht mehr ganz erfolgreich im Beruf und der Meinung, das Wichtigste im Leben liege hinter ihm. Statt seinen runden Geburtstag zu feiern, würde er sich am liebsten allein verkriechen. Seine beste Freundin Ellen aber akzeptiert das nicht. Vermeintlich zufällige Begegnungen Der Tag beginnt damit, dass Ellen Jakob eine Badehose schenkt und ihn ins Freibad schickt, wo er auf seine langjährige Beziehung trifft. Mehrere solcher vermeintlich zufälligen Begegnungen des Tages führen Jakob zu neuen Einsichten und tiefer Freundschaft. Am Ende wird dann doch gefeiert! Im Gespräch mit Anja Brockert spricht Literaturkritiker Christoph Schröder eine starke Empfehlung für Lucy Frickes neuen Roman „Das Fest“ aus.…
Eine lyrisches Biopic über Elvis Presley: Literaturkritiker Denis Scheck ist berührt von diesem Gedichtband von Doris Vogel über den „King“, seine Songs und sein Leben. Mit allen Registern des lyrischen Sprechens wird der Mensch Elvis Presley spürbar. Schecks persönliches Buch des Jahres.
Ein Hochzeitssaal in Rotterdam. Es ist das Jahr 1995. Die Familie Korkmaz. Eine Braut und ein Bräutigam. Ein Schuss. Und Keko, der Bräutigam, ist tot. Wer war es? Wer hat ihn ermordet? Und vor allem: warum? Von diesem Hochzeits-Murder-Mystery ausgehend zieht Cemile Sahin die Erzählstränge ihres Romans: Ein Scharfschütze ist ein Scharfschütze ist eine stille Person. Sein Sturmgewehr ist ein Echo, das durch die Geschichte hallt. Diese Szene ist wie eine Seite aus einem Buch, dessen Worte sich in den Pausen zwischen den Schüssen entfalten. Während der Scharfschütze seine Geschichte in stiller Konzentration weiterspinnt. Und während er darauf wartet, dass sein Ziel auftaucht, wird sein eigenes Schicksal zu einem Teil dieser Geschichte, die das Leben selbst ist. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Die Vergangenheit und die Zukunft einer kurdischen Familie Im Mittelpunkt von „Kommando Ajax“ steht eine kurdische Familie, mit Mitgliedern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Brüder, einer von ihnen, Keko, auf der Hochzeit ermordet. Ali Hüseyin, der dicke Dachdecker, mit dem Traum, Maler zu sein. Xidir, den die Polizei für Kekos Mörder hält. Ali Ekber und Ali Haydar, die auf dem Bau arbeiten und später eine Baufirma gründen. Und die Schwester Fatma, die ehrgeizige und clevere Putzfrau mit dem Traum vom Mercedes, obwohl sie gar keinen Führerschein besitzt. „Kommando Ajax“ führt uns in die Zeit, nach dem Mord, aber auch zurück in die Vergangenheit der Familie Korkmaz. Wir folgen Ali Hüseyin, der malt wie die Alten Meister, gekonnt wie Caravaggio, dessen Talent von den Brüdern belächelt wird. Ali Hüseyin malt nur Selbstporträts, aus verschiedenen Perspektiven mit der Landschaft des Heimatdorfes im Hintergrund. Er war der erste, der das kurdische Dorf verließ, um – mit Zwischenstopp in Istanbul - in die Niederlande zu emigrieren. Wer brachte ihn so versteckt nach Holland? Ein Schmuggler. Warum? Weil türkische Sicherheitskräfte Mezra über Nacht in Brand steckten. Warum? Sie führten einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, der schon begann, bevor Ali Hüseyin und seine Geschwister geboren waren. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Die Herausforderungen der Migration In Rotterdam müssen sich die verschiedenen Generationen nach der Flucht nach Europa neu orientieren. In der Familie Korkmaz geht man unterschiedlich mit dem neuen Leben im Exil um. Während Ali Hüseyin malt, wird der andere Bruder spielsüchtig. Schwester Fatma befreit sich von ihrem gewalttätigen Ehemann. Liebevoll schrullig zeichnet Sahin ihre Figuren voller seelischer Narben, und mit leisem, manchmal düsterem Humor beschreibt sie die Herausforderungen der Migration: Auf der Baustelle lernte man die Sprache eines Landes viel schneller, weil auf der Baustelle immer alle Ausländer sind und sich eben über die neue Sprache verständigen, die sie mit ach und krach beim Arbeiten lernen, um sich besser zu verstehen, anstatt dass alle Ausländer in ihrer jeweiligen Ausländersprache miteinander sprechen und so nie jemand jemanden versteht. So reden alle schlecht Holländisch, aber die Männer auf der Baustelle reden besser als die Frauen, die in der Spielbank putzen gehen. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Cemile Sahins dritter Roman „Kommando Ajax“ ist Cemile Sahins dritter Roman. Und immer wieder beschäftigt sie sich in ihrer literarischen Arbeit mit der kurdischen Identität. Heimatlosigkeit und Sehnsucht nach den Wurzeln plagen die Figuren in „Kommando Ajax“. Eine weite Landschaft. Die Sonne wandert über Hügel. Über Berge. Zoom auf einen Gipfel. Die Sonne blendet. Zoom auf ein Lehmhaus. Eine Ziegenherde läuft durch das Bild. Zoom auf einen Birnbaum, der vor dem Lehmhaus steht. Zoom out. Ein Bild von sechs Geschwistern. Voiceover: Dies ist die Geschichte von sechs Geschwistern: fünf Brüdern und einer Schwester, die ihr Dorf, auf Kurdisch: MEZRA, das in Dêrsim liegt, verlassen mussten. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Ein aufwendig gestaltetes Buch Und wer hat nun den Bruder auf der eigenen Hochzeit ermordet? Das erzählt Sahin nach und nach, verwebt die Erzählstränge ineinander, führt uns spannend wie in einem Thriller auf falsche Fährten. Und neben glücklichen und unglücklichen Zufällen, Begegnungen mit Gangstern und Kriminellen, spielt die bildende Kunst in diesem Roman eine große Rolle. Cemile Sahin schreibt nicht nur, sie ist auch Künstlerin, sie arbeitet mit Video, Schrift und Fotomontagen. Diese Erfahrungen fließen in den Roman mit ein: Immer wieder tauchen Bilder und Grafiken mit auf, oft wird der Text selbst zu einem gestalterischen Element. Es gibt fast drehbuchhafte Passagen, Sahin springt wie im Filmschnitt zwischen Dialogen, Rückblenden und Zooms hin und her. „Kommando Ajax“ ist visuell lebendig, sprachlich und dramaturgisch erfrischend. Absurde und doppelbödige Einfälle Und dann kommt auch noch - Stichwort: Murder Mystery - eine Agatha Christie ins Spiel. Die ist zwar Namensvetterin der britischen Krimipäpstin, in diesem Fall aber verwandtschaftlich mit dem Christies Auktionshaus verbandelt. Zoom auf Agatha Christie. Agatha Christie bekommt einen denkwürdigen Auftritt. Natürlich. Quelle: Cemile Sahin – Kommando Ajax Was es mit dieser Figur auf sich hat, wird hier nicht verraten. Sahin überrascht immer wieder mit absurden und doppelbödigen Einfällen – und erzählt zugleich die Geschichte von prekären Existenzen, Schicksalsschlägen und der Sehnsucht nach einem Zuhause. Das macht „Kommando Ajax“ zu einem spannenden, rasanten Stück Gegenwartsliteratur. Ein kunstvoll gestaltetes Buch, das man gar nicht mehr weglegen mag. „Kommando Ajax“ - Kommando: lesen!…
Als der Roman „Die Nichtswürdigen“ beginnt, hat die Apokalypse schon stattgefunden: Ein globaler Kollaps und eine Umweltkatastrophe gigantischen Ausmaßes. Länder sind unter Wassermassen verschwunden, dann sind Meere ausgetrocknet, Bäume und fast alle Tiere verschwunden. Nur wenige Menschen haben überlebt, sie irren durch eine zerstörte Welt ohne Strom und Internet, jagen Tauben oder Ratten, um nicht vor Hunger zu sterben, sie töten sich gegenseitig. Agustina Bazterrica schildert das Grauen in Rückblenden, denn die Ich-Erzählerin ihres Romans, eine junge Frau, hat nach langem Herumstreunen einen Zufluchtsort gefunden. Sie lebt im Haus der Heiligen Schwesternschaft, wo sie gemeinsam mit anderen Frauen einem mysteriösen, Mann, der nur Er genannt wird, und einer brutalen Schwester Oberin unterworfen ist. Es gibt hier etwas zu essen, ein wenig Wasser, Kleidung und Betten, aber auch eine streng hierarchische Ordnung, die auf Gehorsam, blindem Glauben und Sadismus beruht. Geist der Grausamkeit Von den sogenannten Nichtswürdigen, zu denen die Erzählerin gehört, wird Läuterung verlangt, Selbstgeißelung, Opfer aller Art. Sie alle wollen aufsteigen in der Hierarchie der Heiligen Schwesternschaft, wollen sogenannte Auserwählte oder Durchgeistigte werden. Deshalb konkurrieren die Frauen gnadenlos miteinander, quälen sich gegenseitig. Es herrscht ein Geist der Grausamkeit – und das von der ersten Romanseite an: Jemand schreit im Dunkeln. Ich hoffe, es ist Lourdes. Ich habe ihr Kakerlaken ins Kopfkissen gesteckt und den Bezug vernäht, damit sie nicht so leicht herauskönnen, damit sie unter ihrem Kopf krabbeln oder über ihr Gesicht. Hoffentlich kriechen sie ihr in die Ohren und nisten auf ihren Trommelfellen, hoffentlich spürt sie, wie die Brut ihr ins Gehirn dringt. Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Nichts für Zartbesaitete. Makabre Passagen gibt es immer wieder in Bazterricas Roman. Auch, wenn die Strafen geschildert werden, die die Nichtswürdigen beim geringsten Fehlverhalten ertragen müssen – wenn die Schwester Oberin mal wieder die Peitsche schwingt oder einer Nichtswürdigen noch Schlimmeres geschieht. Die Dienerinnen banden sie an einen Pfahl, um den Äste und Strünke gehäuft waren. Sie zündeten sie an, und Mariel stand in Flammen. Sie war wunderschön. Ein Feuervogel. Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Eine vom jahrelangen Kampf ums Überleben abgestumpfte Gemeinschaft, in der selbst im Verbrennen einer Frau Schönheit gesehen wird: Inmitten ihrer Dystopie einer unbewohnbaren Welt hat Agustina Bazterrica einen Ort ersonnen, an dem Frauen Unterdrückung und Folter aller Art ausgesetzt sind – auch die vermeintlich Privilegierten. Damit erfindet die Autorin aber nichts Neues, damit treibt sie nur Szenarien von misogyner Gewalt und Missbrauch auf die Spitze, die es immer schon gegeben hat. Messianische Figur bringt Erlösung In dem perversen System der Heiligen Schwesternschaft funktioniert keine Sisterhood, bis eine Frau, eine fast messianische Figur, zur Gemeinschaft stößt, die Erlösung bringt: Durch Barmherzigkeit – und Liebe. Lucía streckte einen Arm zum Himmel, als wollte sie die Sterne berühren. Wir sind Töchter des Mondes, sagte sie. Sie küsste mich, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte sie bloß ansehen, bloß streicheln mit den Fingerspitzen (…). Quelle: Agustina Bazterrica – Die Nichtswürdigen Schade, dass in „Die Nichtswürdigen“ die Sprache oft so klischeehaft ist. Was die schockierenden Passagen des Romans angeht, so sind diese ein nachvollziehbares Mittel, um die Verrohung der Menschheit nach dem Zivilisations-Kollaps zu verdeutlichen. Die Autorin zeigt auf erschreckende Weise, wie aus dem Chaos ein allumfassendes System des Bösen entstehen könnte. Die Nichtswürdigen ist einer von vielen Romanen, die von der Apokalypse handeln – aber durchaus ein interessanter. Geschmälert wird das Leseerlebnis durch Allgemeinplätze, einige Redundanzen und ein nicht ganz überzeugendes Ende.…
Über die Berliner „Mohrenstraße“ wurde ausgiebig gestritten, bei Bismarck-Denkmälern würden manche Leute gern den Vorschlaghammer hervorholen, der Hindenburg-Damm muss doch nicht nach einem Demokratiefeind heißen, und das N-Wort hat in einem Kinderbuch nichts zu suchen. In all diesen Fällen geht es um Symbole und um Sprache. Und all diese Fälle sind hart umkämpft. Komplett verfeindete und unversöhnliche Parteien scheinen sich gegenüberzustehen. Für die einen kann ein Straßenname verletzend, gar retraumatisierend sein. Andere berufen sich auf Traditionen oder ein komplexes Geschichtsbild, das sich nicht einfach durch das Auslöschen von Begriffen übermalen lässt. Wenig verbindet diese Positionen. Was darf man (noch) wie sagen? Darum tobt ein Kulturkampf Es tobt ein regelrechter Kulturkampf. An diesem Punkt setzt der schmale Essay der Politologen und Philosophen Jörn Knobloch und Christoph Sebastian Widdau an. Sie fragen: „Was ist und was soll Political Correctness?“, beschreiben also zunächst die Grundlagen der Auseinandersetzung, die Herkunft des Begriffs, die Intentionen, die hinter der Forderung nach politischen Korrekturen stecken. Political Correctness wurde in der Bundesrepublik früh durch Feministinnen praktiziert. Sie zielten darauf, die ungenügende Repräsentation von Frauen in Sprache, Kultur, Politik anzuprangern. Aber längst gehe es neben der Kritik am Sprachgebrauch auch ... … um die Bewertung und Sanktionierung bestimmter Weltanschauungen oder die politisch-moralisch begründete Auswahl von Sprechern in der Öffentlichkeit. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Beitrag zur Versachlichung in der Diskussion um Political Correctness Political Correctness ist ein Kampfbegriff, dessen Wesen schon zur Genüge wissenschaftlich und feuilletonistisch diskutiert wurde. Knobloch und Widdau aber gehen einen Schritt über die Beschreibung hinaus. Ihr Anliegen: Sie wollen die Diskussion versachlichen, und zwar indem sie versuchen, die verfeindeten Strömungen der Bewahrer und Korrektoren auf eine gemeinsame ideengeschichtliche Wurzel zurückzuführen. Wir vermuten (…), dass beide Positionen auf dem Liberalismus fußen. Zumindest, um dies vorsichtiger zu formulieren, lassen sich ihre Ursprünge auf liberales Denken zurückführen. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Natürlich gibt es Rechtsextreme, die der Political Correctness aus durchschaubaren Gründen den Kampf ansagen. Das ignorieren Knobloch und Widdau keineswegs. Aber im Kern der Auseinandersetzung stünden sich unterschiedliche liberale Gesinnungen gegenüber. Dies eröffne die Möglichkeit, doch Übereinkünfte zu finden, die aufgrund der aufgeheizten Debatten schier unerreichbar scheinen. Wenn sich aber die Streitparteien darauf einigen könnten, dass sie sich innerhalb liberaler Demokratien bewegen und den Liberalismus ernst nehmen, dann könnte man prüfen, ob von hier aus gesehen bestimmte Praktiken, Routinen und Konventionen, Sprechweisen und Handlungen sinnvollerweise als »korrekt« oder »inkorrekt« bezeichnet werden können. Quelle: Jörn Knobloch, Christoph Sebastian Widdau – Was ist und was soll Political Correctness? Fundament gemeinsamer liberaler Überzeugungen gibt Hoffnung Letztlich begreifen die Autoren die Debatte als Reaktion auf die Krise des Liberalismus. Es handelt sich um einen Streit darüber, wie der Liberalismus fortgeführt, liberalisiert werden könnte. Vor Gerichten lässt sich das schwerlich austragen, durch Gesetze nur um den Preis tieferer Spaltungen regeln. Auf dem Fundament gemeinsamer liberaler Überzeugungen aber könnten beide Streitparteien die Wichtigkeit ihrer Anliegen erkennen und diskutieren – und Kompromisse aushandeln, die aus der Unbedingtheit des Entweder-Oder ausbrechen. Der Sprachgebrauch müsse, so Knobloch und Widdau, einer Inventur unterzogen werden; diese ermögliche Suche nach tatsächlichen oder vermeintlichen Beleidigungen. Darauf ließe sich aufbauen. Freilich basiert dieser Vorschlag auf einer von Jürgen Habermas inspirierten Diskursethik, die vernunftbegabte und offene Teilnehmer voraussetzt. Auf solche darf man zwar hoffen. Ob man sie gegenwärtig wirklich finden kann, ist allerdings zweifelhaft.…
Eine weitläufige Zimmerflucht als Zuhause, der Blick aus dem Kinderzimmer in einen üppigen, gepflegten Garten, Privatunterricht mit Hauslehrern und berühmte Autoren zum Abendessen. Es ist eine ferne, faszinierende Welt, in die Molly MacCarthy uns in ihren Kindheitserinnerungen „Kleine Fliegen der Gewissheit“ mitnimmt. Ich wurde in den Achtzigern in behütete, äußerst behagliche religiöse und literarische Kreise hineingeboren. Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Ironische Distanz zur eigenen Familie Kindheitserinnerungen bergen die Gefahr der nostalgischen Verklärung. Dass Molly MacCarthy nicht in diese Falle tappt, macht „Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert“ – so der Originaltitel der autofiktionalen Erzählung – umso lesenswerter. Immer ist das Bemühen der Autorin um Ehrlichkeit wahrnehmbar, was sich oft auch in einem Ton ironischer Distanz gegenüber der eigenen Familie und deren Werten niederschlägt. Molly, die eigentlich Mary heißt, ist das zweitjüngste von acht Kindern des Vize-Schuldirektors Francis Warre-Cornish und seiner Frau Blanche. Die Autorin ist zwölf Jahre alt, als ihr Vater seine Stelle in Eton antritt und die Familie in das weiträumige Tudor-Haus neben dem Eliteinternat zieht. Mollys Familie gehört zum gehobenen Bildungsbürgertum. Um die Aufmerksamkeit der zerstreuten und exzentrischen Mutter kämpft die Tochter oft vergeblich. Häusliche Theateraufführungen, Vorlesestunden und Klavierkonzerte machen für MacCarthy auch im Rückblick den Mangel an mütterlicher Zuwendung nicht wett. Völlig unerwartet entscheidet die Mutter überdies, die Tochter in ein katholisches Internat zu geben. Die weitläufigen, weißen Schlafsäle, (…) und die Kapelle, in der ein schwerer Weihrauchduft lag, vermittelten ihr das Gefühl dieser disziplinierten Ordnung und Ruhe, nach der sie sich selbst sehnte und die sie einer Tochter nur zu gerne vermittelt hätte. (…) So rasch wie möglich sollte ich in dieser hochkirchlichen Festung eingekerkert werden. Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Kaum Berufsperspektiven trotz Schulabschluss Trotz Heimweh, Einsamkeit und rigiden religiösen Geboten versucht das Mädchen, die Beweggründe der mütterlichen Entscheidung nachzuvollziehen. Diese Balance zwischen Fakten und subjektivem Rückblick zeichnet das Buch aus, das einen höheren literarischen Anspruch als ein Memoir hat und von der Ich-Perspektive bisweilen auch in die dritte Person wechselt. Nach ihrem Schulabschluss sieht sich das junge Mädchen allerdings mit einem unerwarteten Problem konfrontiert. Auf der Suche nach einer Zukunftsperspektive geht sie im „Jahrbuch der englischen Frauen“ die Liste mit den Berufen durch. Obgleich das Jahrbuch alle Berufe nannte, die eine Frau in jener Zeit hätte ergreifen können, von der Universitätsprofessorin bis zur Müllkutscherin (…) an den Hafendocks, wurde es mir zu meiner großen Bestürzung klar, dass ich ohne Beruf dastand. Unter diesen Umständen entschließe ich mich zu einem drastischen Schritt. „Ich werde Hygieneinspektorin“, verkünde ich meiner Familie. Sie brüllen vor Lachen. Quelle: Molly MacCarthy – Kleine Fliegen der Gewissheit Mollys Berufssuche wird ebenso in Ehe und Mutterschaft enden wie die ihrer Schwestern. Vorher dürfen die jungen Mädchen in London noch ein wenig ihre Freiheit auf sittsamen Tanztees genießen. Die zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz machen den beeindruckenden Bildungshintergrund deutlich, der für junge Mädchen der britischen Upperclass selbstverständlich war. Als Queen Victoria, Königin von Großbritannien und Kaiserin von Indien, 1901 stirbt, endet eine Epoche und mit ihr auch die Kindheit und Jugend der 19-jährigen Molly MacCarthy. Das sachkundige Vorwort bettet die Erzählung in den historischen Kontext der berühmten Bloomsbury Group ein, deren Mitglied Molly MacCarthy war. „Mit Neid und Entzücken“ habe sie Mollys Kindheitserinnerungen gelesen, schreibt Virginia Woolf 1924 in einem Brief an ihre Cousine. Auch hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung bereiten die anrührenden, nachdenklichen und amüsanten Kindheitserinnerungen große Lesefreude.…
Das Glutnest, aus dem in „Ein ganz normaler Bürger“ ein regelrechter Flächenbrand wird, hat einen Namen. Er lautet Aufstiegswille: Du wirst deinen Weg gehen, so wahr mir Gott helfe. Und du fängst da an, wo ich nach dreißig Dienstjahren aufhöre … mit gerade mal zwanzig. Ein junger Mann, der etwas werden will, denkt nur an sein Fortkommen, an sonst nichts, sollen die anderen sich den Strick nehmen! Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger So spricht der kurz vor der Rente stehende Giovanni Vivaldi mit seinem Sohn Mario, der im Rom der 1970erJahre im gleichen Ministerium wie sein Vater eine Prüfung vor sich hat. Sie soll Mario für eine höhere Beamtenlaufbahn qualifizieren und ihm damit den sozialen Aufstieg und das Entkommen aus der kleinbürgerlichen Enge seiner Verhältnisse ermöglichen. Damit Mario der Aufstieg gelingt, legt sich Giovanni mächtig ins Zeug, konkurrieren schließlich 12.000 Bewerber um 2.000 Plätze. Er tritt auf Einladung seines Vorgesetzten, Dottor Spaziani, der Freimauerloge bei und macht sich dort erst einmal lächerlich. Doch durch diese Mitgliedschaft gelingt es ihm, sich die Fragen und Antworten für die Prüfung seines Sohnes schon vorab zu erschleichen: ‚Hier habe ich die Abschrift der Prüfungsaufgabe‘, raunte Dottor Spaziani und blickte sich misstrauisch um. Wie von einem Magneten in seinem Bauch angezogen, schnellte Giovanni nach vorn, packte die Hände des Vorgesetzten und bedeckte sie mit ungestümen Küssen. Er wollte sie gar nicht mehr loslassen und schwitzte und stöhnte. Zwischen Schmatzern, Speichelfluss und Seufzern stieß er ein Dutzend ‚Danke‘ hervor. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Ein verzweifelter Kriecher Man könnte Giovanni einen Kriecher nennen. Oder einen Verzweifelten. Der Aufstieg des Sohnes scheint aber beschlossene Sache zu sein. Doch am Tag der Prüfung geschieht ein Unglück. Vater und Sohn durchqueren eine Straße, in der ein Raubüberfall stattfindet: Ein Wimpernschlag und zugleich eine Ewigkeit. Bevor Mario noch »Mamma« sagen konnte, war er schon tot. Einen Augenblick oder hundert Jahre zuvor der gellende Schrei einer Frau, wie er nur im höchsten Falsett möglich ist. Aus dem Hosenbein des Jungen floss Blut wie aus einem Wasserhahn. Die tödlichen Schüsse stammten aus Feuerwaffen. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Von diesem Moment an, so stellt Ceramis atmosphärischer dichter Roman es dar, ist Giovannis Schicksal endgültig besiegelt. Es geht unerbittlich nur noch in eine Richtung: bergab. Die Enge der Verhältnisse Indem Cerami die Handlung einbettet in die bleierne Atmosphäre im Rom der 1970er-Jahre, an der sich auch Pier Paolo Pasolini abarbeitete, gewinnt das traurige Schicksal Giovannis parabelhafte Züge. Durch die bildhafte Sprache hinterlässt „Ein ganz normaler Bürger“ einen tiefen Leseeindruck. Sofort erkannten die beiden den Sonntag wieder: an den heruntergelassenen, mit Schmierfett geölten Rollgittern der Läden, an den Wohnhäusern mit ihren zu hohnlächelnden Mäulern aufgerissenen Toren, an den entlang der Bürgersteige geparkten Autos gleich einbalsamierten Hunden, an den menschenleeren Straßenbahnen – lahme, verschreckte Raupen – und schließlich an der einen, die ganze Stadt durchquerenden Häuserkette, die sich überallhin verzweigte wie Haarbüschel auf einem grindigen Kopf. Quelle: Vincenzo Cerami – Ein ganz normaler Bürger Schilderungen wie diese von Giovannis und Marios Rückkehr von einer Angeltour am Rand der Stadt sind typisch für Ceramis Roman, der in seiner Klarheit und Genauigkeit von den ersten Seiten an so packend ist, dass man ihn kaum zur Seite legen, dass man erfahren möchte, welch traurigen Weg dieser ganz normale Bürger, eingezwängt in die Enge der Verhältnisse, gehen muss.…
Tove Ditlevsen nahm sich 1976 das Leben. Als sie starb, war sie noch keine 60 Jahre alt. Ihr letztes Buch „Vilhelms Zimmer“, in Dänemark bereits 1975 erschienen, liest sich wie eine Ankündigung ihres Freitods und wie ihr literarisches Vermächtnis. In Dänemark war Tove Ditlevsen bereits zu Lebzeiten sehr erfolgreich. In Deutschland hingegen wurde die Dänin erst vor wenigen Jahren wieder entdeckt, vor allem ihre autofiktionale „Kopenhagen Trilogie“, in der sie ihre Kindheit, Jugend und ihre Abhängigkeit verarbeitet. Übersetzerin Ursel Allenstein im Gespräch In Ditlevsens jetzt ins Deutsche übertragenen Buch „Vilhelms Zimmer“ verarbeitet sie ihre schwierige letzte Ehe. Das Buch handelt von der Hassliebe zwischen der Protagonistin Lise Mundus, eine erfolgreiche Schriftstellerin, und ihrem narzisstischen Ehemann Vilhelm. In der Ehe wie auch im ganzen Roman geht es um Leben und Tod. Tove Ditlevsen war eine Vorreiterin des autofiktionalen Erzählens und damit war sie ihre Zeit total weit voraus. Quelle: Ursel Allenstein - Übersetzerin von Tove Ditlevsen Durch den stetigen Wechsel der Erzählperspektiven sei die Übersetzung von "Vilhelms Zimmer" die schwierigste aller Ditlevsen-Übersetzungen gewesen, berichtet Übersetzerin Ursel Allenstein im lesenswert-Gespräch. Tove Ditlevsen ist eine Ikone der dänischen Literatur. Sie hat Generationen von Leserinnen und Lesern geprägt. Sie ist auch heute, 50 Jahre später, noch wahnsinnig modern. Wie sie über weibliches Leben und Leiden schreibt, hat immer noch eine große Aktualität. Sie ist unglaublich kompromisslos und in ihrer Radikalität, dass sie wirklich immer alles von sich gibt, finde ich sie einzigartig. Quelle: Ursel Allenstein - Übersetzerin von Tove Ditlevsen…
Wäre es für Verlage nicht rentabel, wenn man vor dem Druck eines Buches absehen könnte, wie erfolgreich es wird? Ab Ende des Jahres steht der Verlagswelt eine künstliche Intelligenz zur Verfügung, die genau das kann: Eine Art Bestseller-Orakel, das mithilfe eines Algorithmus vorhersagt, welche Bücher zu Verkaufsschlagern werden. Ob das ein Fluch oder ein Segen für die Literaturbranche ist, darum geht's im Gespräch mit Thomas Montasser, Literaturagent aus München. Algorithmus bezieht sich auf Vergangenheit Die Firma Media Control, die das Programm "Demandsens" entwickelt hat, verspreche den Verlagen eine 85-prozentige Prognose-Sicherheit darüber, ob ein Buch ein Bestseller werde oder nicht, sagt Literaturagent Thomas Montasser. Allerdings: 'Demandsens' kennt nur den literarischen Massengeschmack. Wenn wir nicht aufpassen, gibt es bald nur noch Einheitsbrei und alles, was neu ist, findet nicht mehr statt. Quelle: Thomas Montasser - Literaturagent aus München Der Algorithmus von "Demandsens" basiere sich in seiner Prognose aber lediglich auf Trends der Vergangenheit. Unvorhersehbares, wie etwa die Vergabe eines Literarturpreises, woraufhin Werke in manchen Fällen zu Bestsellern werden, könne das Programm in seine Berechnungen nicht einbeziehen, erklärt Montasser. Künstliche Intelligenz kann als Ansporn dienen Ihm zufolge könne künstliche Intelligenz aber auch Positives für die Buchbranche bewirken: Ich bin selbst nicht nur Agent, sondern auch Autor. Wenn ich heute einen Text schreibe, dann überlege ich mir am Ende regelmäßig: 'Hätte das auch eine KI schreiben können?' Und wenn ich zu dem Ergebnis komme: 'Ja, möglicherweise schon.' Dann muss ich den Text löschen, denn dann genügt er meinen eignen Ansprüchen nicht. Die KI hält uns den Spiegel vor. Wir müssen besser als die KI bleiben, denn sonst hat der Mensch keine Chance. Quelle: Thomas Montasser - Literaturagent aus München…
Der Ursprung dieses Buches ist eine zufällige Begegnung in einer Leipziger Kneipe. So behauptet es jedenfalls der Ich-Erzähler in Clemens Böckmanns „Was du kriegen kannst“. Es ist Zufall, dass Uta und ich uns kennengelernt haben. Eine Freundin von mir war, im Rahmen ihrer Forschung in Leipzig, an einem Abend müde in eine Bar gegangen. An einem der Tische saß eine ältere Frau. Sie kamen ins Gespräch. Über vier Stunden erzählte Uta Einzelheiten aus ihrem Leben. Am nächsten Morgen rief die Freundin mich an, war verwirrt und überfordert und gleichzeitig eingenommen von einer Person, die sich ihr fast hemmungslos offenbart hatte. Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst Diese Frau aus der Bar ist Uta Lothner, die (durchaus widersprüchliche) Heldin des Romans. Sie arbeitet in den frühen 1970er-Jahren als Möbelverkäuferin in ihrer Heimatstadt Zwickau. Uta sieht gut aus, ist erlebnishungrig und Männerbekanntschaften nicht abgeneigt, kurz: eine ganz normale junge Frau, die in einem ganz und gar unnormalen, wenn auch grundspießigen Staat aufwächst. Im Jahr 1971 wirbt die Staatssicherheit Uta an, um rund um die internationalen Leipziger Messen Geschäftsleute und Besucher aus dem Westen auszuspionieren. Das funktioniert natürlich am besten, indem man mit ihnen schläft. Uta wird zur Sexarbeiterin und Agentin, die regelmäßig Berichte an ihre Kontaktleute abliefert, zugleich aber selbst immer unter Beobachtung steht. Clemens Böckmann beleuchtet Utas Biografie aus unterschiedlichen Erzählperspektiven: Sein Ich-Erzähler zeigt die Uta der Gegenwart als prekäre Alkoholikerin. Uta selbst erzählt im umgangssprachlichen Jargon aus ihrem Leben. Und große Teile des Romans schließlich bestehen aus Aktenvermerken des Ministeriums für Staatssicherheit: In ihrer Begleitung befindet sich meistens die Verkäuferin aus der Konsumgenossenschaft Zwickau (schwarzer Balken) wohnhaft in Zwickau, (schwarzer Balken) sowie auch oftmals die Verkäuferin vom Warenhaus (schwarzer Balken) aus Schneeberg (schwarzer Balken) wohnhaft in (schwarzer Balken). Alle Genannten werden als Männertoll eingeschätzt. Seit dem 30.1.1972 ist die Obengenannte Mitglied der SED. Gesellschaftliche Funktionen übt sie keine aus. Ansonsten kann gesagt werden, dass es sich bei der Obengenannten um eine attraktive Erscheinung handelt, die auch stets mit der neusten Mode gekleidet ist.“ Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst „Was du kriegen kannst“ ist ein komplexer, anspruchsvoll zu lesender Roman, eine Collage aus unterschiedlichen Textgattungen. Die Fülle an Informationen, die hier aus verschiedenen Quellen zusammengetragen wird, dient im Grunde einem einzigen Zweck: Zu zeigen, dass es keine gesicherten Informationen gibt. Uta ist eine ambivalent gezeichnete Figur: Ist sie Täterin oder Opfer? Clemens Böckmann ist subtil genug, die Antwort auf diese Frage in der Schwebe zu halten. Er zeigt, wie man in die Maschinerie des Spitzelapparates hineingeraten kann. Er führt vor, wie ein Individuum komplett hinter einer Sprache verschwindet, die auf bloße Funktionalität ausgerichtet ist und in ihrer bürokratischen Verschraubtheit nahezu unlesbar ist. Der Geruch von Abgasen und Schnaps Uta ist in diesem Roman beobachtetes Objekt und sprechendes Subjekt zugleich, doch beide Perspektiven ergeben kein abgerundetes Bild, sondern stecken voller Widersprüche. Genau darin liegt die historische Wahrhaftigkeit dieses Romans. Zugleich transportiert Böckmann die Gerüche, Geräusche, Milieus des nach Abgasen, Zigaretten und Schnaps riechenden, muffigen Alltags eines sich selbst als progressiv verstehenden Staats auf verblüffende Weise. Die Ambivalenz zwischen Utas Unschuld und Täterschaft kommt auch in kleinen Szenen zum Vorschein. Beispielsweise, wenn die junge Uta in ihrer Wohnung ihren Vater empfängt: Irgendwann später hat er mich mal besucht, und da hat er eine Einladung von der persischen Botschaft gesehen. Da hat er Augen gemacht! Meine Tochter beim Empfang in der persischen Botschaft! Da habe ich ihm alles erzählt. Also nicht das mit dem Sex, aber, dass ich da für die STASI hingehe, in deren Auftrag, und dass ich schon seit vier Jahren für die arbeite. Da war er stolz! Damit hatte er gar nicht gerechnet. Quelle: Clemens Böckmann – Was du kriegen kannst Clemens Böckmann, so kann man nachlesen, hat für seinen Roman ausgiebig recherchiert. Es gab schon einige, durchaus gelungene Versuche, den Staatssicherheitsapparat der untergegangenen DDR in Literatur zu fassen, Wolfgang Hilbig mit seinem grandiosen Roman „Ich“ zum Beispiel. Aber in den vergangenen Jahren hat sich nun eine neue, junge Generation von Autorinnen und Autoren herausgebildet, die sich dem Leben in der DDR nicht aus eigener Erinnerung, sondern aus der Sicht der Nachgeborenen nähert. Der 1988 geborene Clemens Böckmann gehört zu diesen neuen Stimmen und bekommt nun für sein vielschichtiges, komplexes Debüt „Was du kriegen kannst“ den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung – verdientermaßen. Was genau in diesem Buch erfunden und was in Archiven entdeckt wurde, bleibt bewusst unklar. Wer Uta Lothner tatsächlich war, weiß man nach der Lektüre nicht und soll es auch nicht wissen. Aber wie kann man einer solchen versehrten Existenz mit all ihren Brüchen, die bis in die Gegenwart hineinreichen, gerecht werden? Die Antwort auf diese Frage ist dieses Buch: Indem man von ihr erzählt.…
In den acht Jahren, die er und Nastaran zusammen waren, waren sie noch nie ernsthaft miteinander in Streit geraten. Man konnte sie zu den unkomplizierten Paaren zählen… Seit ein, zwei Jahren aber fragt Mama Malli ständig: „Findet ihr nicht, dass es Zeit ist zu heiraten?“ Quelle: Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur Amir Hassan Cheheltan im Gespräch: „In my apartment, in the building that I live in, 20 families live in this building, and we had two couples, who live together without marriage. And this is the real picture of my country, or at least the real picture of Tehran as the mega city and as the heart of Iran." Amir Hassan Cheheltan kennt zwei unverheiratete Paare im eigenen Haus, das sei heute Realität in Teheran, dem Herzen Irans, sagt er. Auch zwei seiner Romanfiguren, der Schriftsteller Nader und die junge Grafikdesignerin Nastaran, leben in „weißer Ehe“. Nastarans Gefühle waren echt… Nader bewunderte ihre dezente Unverblümtheit und ihre Zivilcourage. Quelle: Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur Abtrünniger, Ungläubiger, Hedonist: Der Dichter Omar Khayyam Aber dann kommt der attraktive, alle betörende Engländer David, benennt ihre Lebenslügen, und die Dreiecksgeschichte driftet in die Katastrophe. Dieses Beziehungsdrama unterfüttert Cheheltan, der Homme de lettres, mit philosophischen Gesprächen und historischen Lektionen. Im Zentrum Omar Khayyam, ein Dichter aus dem 11./12. Jahrhundert. David verehrt Khayyam, den Abtrünnigen, Hedonisten, den Gegenspieler aller Glaubensverkäufer. So Amir Hassan Cheheltan: „In his poetry, he's against God, he's against everything. He cares only about this moment. I want to clear up something at the present. Khayyam is a figure that is against everything that Islamic Republic is based on and at the same time, I wanted to show a modern life in Tehran." Historie zur Klärung der Realität also. Khayyam lehnte alles ab, worauf die heutige Islamische Republik basiert, resümiert Amir Cheheltan. Wozu noch Selbstmordattentate, wenn es kein Paradies gibt? Wozu Wein und Musik im Diesseits verbieten, wenn kein Jenseits existiert, lässt er seine Figuren fragen, öffnet Diskussionsräume und zeigt die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit. Aus der persischen Literaturgeschichte zitiert er eine Fülle von Beispielen, auch zu Tabus wie Homosexualität. Europa sei prüde gewesen, sagt er und lässt das Personal seines bildungstrunkenen Romans überall debattieren, auf Märkten, beim opulenten Essen, im Theater. Über Gott und die Welt, Orient und Okzident, es wird eine Menge geredet und zugleich verhüllt. „Manchmal redet man viel, um etwas zu verbergen“ Amir Hassan Cheheltan: „This is my style in narration always, that I am not so direct to anything. Because I think a human life is very complicated, and sometimes you talk a lot just because you want to hide something." Das menschliche Leben sei kompliziert, manchmal rede man viel, um etwas zu verbergen, weiß Amir Hassan Cheheltan, Ende 60, ein Schriftsteller von stilistischer Raffinesse, ein Meister von Innenräumen, der hinter Fassaden blickt, der mit Erwartungen spielt und immer wieder falsche Fährten legt. Nastaran heißt seine weibliche Hauptfigur, sie kommt aus Nischapur wie Omar Khayyam und wie die echte Rose von Nischapur, die Blume, die im fernen England, am Grab von Khayyams Übersetzer vertrocknete. Eine Rose, nicht feuerrot, aber wunderbar duftend. Quelle: Amir Hassan Cheheltan – Die Rose von Nischapur Amir Hassan Cheheltan ist Iraner und Weltbürger. In der Zeit der Massenhinrichtungen in Iran Ende der 90er-Jahre lebte er in Italien, später in Deutschland und den USA. Immer ging er nach Teheran zurück, das Land sei sein Zuhause, die Stadt sein Arbeitszimmer, sagt er: „I am so connected to my home, the country, my country is my home. The capital of my country is my study room. And whereever in the world I am, I feel like a passenger who is in the station to get the next train." Wo immer er in der Welt sei, er fühle sich wie ein Passagier, der auf den nächsten Zug warte, meint Cheheltan. Auch diesmal wird er wieder aus Europa zurückkehren in die Islamische Republik. Er hält sich fern von politischen Organisationen, selbst dem Schriftstellerverband, in dem er einst aktiv war. Seit vierzig Jahren publiziert er, seit zwanzig Jahren können seine Bücher nur im Ausland erscheinen. Aber er schreibt, in Romanen und deutschsprachigen Zeitungen, erstaunlich deutlich über Korruption, Inflation, Frauen, den offenen und stillen Protest, nichts davon gibt es auf Persisch. Irans „Weg des Todes“: eine Sackgasse? Amir Hassan Cheheltan: „In fact, after the Mahsa movement, maybe the government was even more strict. So many lives were lost during this movement. Many eyes were blinded in the streets, in the protest scene. But like any other movement it has got up and down. It is still an ongoing movement, and nowadays, there is a lot of people active in social obedience. You see many girls in public places without hijab." Zu Beginn der Jina Mahsa Amini-Bewegung sei das Regime rigider gewesen, so viele verlorene Leben, beim Protest in den Straßen erschossen oder geblendet, aber die Bewegung gehe weiter, immer mehr junge Frauen zeigten sich öffentlich ohne Hijab, sagt Cheheltan. Irans neuer Präsident Massud Peseschkian, ein Reformer im Amt, schien ein Zeichen, als hätte das Regierungssystem der Mullahs verstanden, dass der rigide Kurs eine Sackgasse, ein „Weg des Todes“ gewesen wäre. Aber die Hinrichtung eines Deutschen wäre ein fataler Fehler gewesen. Den Preis zahlten am Ende wieder die Iraner, sagt Cheheltan. Die Reformer sind eliminiert, aber die Mittelschicht verweigert sich, nur 15 Prozent der Bürger Teherans gingen zur Wahl. Iraner haben mehrere Gesichter Die Menschen lebten in eigenen Welten, hinter den Wohnungstüren meist liberaler, Iraner hätten drei, vier Gesichter, sagt er. Und mit dem Krieg in Nahost wolle die Mehrheit nur noch „Iran first“, keine Einmischung im Libanon oder in Palästina. Für Nastaran, „Die Rose von Nischapur“ im Roman, gibt es kein glückliches Ende. Aber, wo es keine Hoffnung gebe, sagt Amir Hassan Cheheltan, müssten wir sie schaffen. Ost und West seien heute ein Dorf und Literatur immer eine Hilfe, sie sei alles in der Welt: „We should create hope if there is not any. Of course, the West and East, we are living in a very small village now. Always, literature is helpful. Literature is everything in the world."…
Es ist alles lange her, was den Menschen, die in diesem Roman ihr Innerstes ausbreiten, durch den Kopf geht. Und doch ist es für sie noch immer präsent wie eine nie vergehende Gegenwart. So lebte die Frau, die an ihre Jugend zurückdenkt, einst als Tochter eines Plantagenbesitzers in Angola, als das Land noch eine portugiesische Kolonie war. Trotzdem ist das Mädchen, das sie einmal war, in ihr noch immer so lebendig wie ein zweites Ich, von dessen Empfindungen nichts verloren gegangen ist, wenn sie zurückblickt. Obwohl ich vor vielen Jahren weggegangen bin, habe ich die Orte, die ich bewohnt habe, nie verlassen, oder aber sie sind es, die mich immer begleiten, ich höre den Mispelbaum, höre das Pfeifen der Gräser, Domingas Warnung 'Vorsicht der Wind Menina, Vorsicht der Wind'. Quelle: António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres Es war einmal in Afrika In Wirklichkeit befindet sich die Frau nicht mehr in Afrika, genauso wenig wie die beiden anderen Protagonisten des neuen Romans von António Lobo Antunes. Die beiden anderen, das sind ein ehemaliger Offizier der portugiesischen Kolonialtruppen und ein Beamter der Kolonialverwaltung. Alle drei sind längst wieder in Portugal, „Am anderen Ufer des Meeres", wie es im Romantitel heißt, nur dass die beiden Ufer in ihren Erinnerungen immer wieder miteinander verschwimmen. Bis zur sogenannten Nelkenrevolution von 1974 war Portugal eine katholisch-autoritäre Diktatur. Seit den 1960er-Jahren verrannte sich das Regime in lange, qualvolle und hoffnungslose Kriege um den Erhalt seiner afrikanischen Kolonien. Diese Gewaltgeschichte hat Antunes in seinem Erzählwerk schon oft thematisiert und auch in seinem neuen Roman bilden zwei Schlüsselereignisse dieser Zeit den historischen Hintergrund. Das eine ist der brutal niedergeschlagene Landarbeiterstreik in einer angolanischen Baumwollplantage. Das andere ist der dadurch ausgelöste Befreiungskrieg gegen die portugiesische Herrschaft. Das Murmeln der Erinnerungen In der Erinnerung der Romanfiguren sind diese historischen Vorgänge nicht als Abfolge von Ereignissen sondern als Gefühlsgeschichte präsent. Da verdichten sich Stolz und Niederlagen, Beschämungen, Verluste und Verklärungen zu einem oft ununterscheidbaren Knäuel von Empfindungen. Ohne Übergang wechselt der Erinnerungsmonolog des Offiziers von der Schilderung sexueller Anzüglichkeiten zum angeberischen Bericht über die Vorbereitung eines Gemetzels. Die Lastwagen fuhren in Quela ein, ich gab den Soldaten den Befehl, in Schussposition auszusteigen, die Offiziere und die höheren Dienstgrade vorn, in einer Art Halbmond vor dem Hüttendorf, ich ließ die Bazooka zu mir bringen, seitlich davon zwei Maschinengewehre, während zwei Flugzeuge über den Bäumen auftauchten. Quelle: António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres Im Wechsel der Romankapitel reden die drei Protagonisten weder miteinander, noch zu irgendjemand sonst. Sie reden vor sich hin, gleichsam ins Leere - ein perfektes Bild der Einsamkeit. Im Bewusstseins- und Redestrom ihrer Monologe vermischen sich einschneidende und alltägliche Momente ihres Lebens, Vergangenheit und Gegenwart unablässig. Vorgefunden hat Antunes diese komplexen emotional geprägten Erzählmuster in seiner viele Jahre ausgeübten Praxis als Psychiater. Seine Figuren beherrschen nicht den Stoff ihres Lebens sondern werden von ihm beherrscht, sie sind ihm ausgeliefert. Dieses Erzählverfahren hat Antunes zu höchster Kunst entwickelt. Unverkennbar wird das selbstversunkene Monologisieren dieser Menschen angetrieben von Verletzungen und Verlusten aber auch von schal gewordenen Triumphen. Die Grundmelodie des Ganzen wird von Melancholie bestimmt. Portugiesische Passionsgeschichten Die Tochter des Plantagenbesitzers ergibt sich dem Zauber ihrer Erinnerungen, weil ihr Leben nie wieder so wurde wie einst in Afrika. Für den Offizier bilden seine militärischen Heldentaten, deren verbrecherischen Anteil er verdrängt, den Höhepunkt seines Lebens. Der Staatsbeamte kann sich nicht lösen von den Resten seines früheren privilegierten kolonialen Daseins, weil ihm das portugiesische Mutterland fremd geworden ist. Wozu mich auf ein Schiff zurück zum anderen Ufer des Meeres begeben, wo ich dort schon niemanden mehr kenne, denn nach so vielen Jahren ist Lissabon natürlich anders, Häuser und Straßen, keine Ahnung, wie sie jetzt aussehen, Leute auf den Fußwegen oder, besser gesagt, Fremde, die mich nicht beachten. Quelle: António Lobo Antunes – Am anderen Ufer des Meeres Antunes portugiesische Passionsgeschichten handeln von der Gefangenschaft des Menschen in der erdrückenden „Ordnung der Dinge", wie er einen seiner früheren Romane nannte, das heißt in der Ordnung ihrer seelischen Prägungen, ihrer sozialen Stellung und der historischen Verhältnisse. Mit unerbittlicher Konsequenz hat Antunes die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms weiterentwickelt zu einem Medium nationaler Befindlichkeiten und Traumata, die sich aber über Portugal hinaus ebenso gut auf die menschliche Existenz überhaupt beziehen lassen. Den Nobelpreis hat er bislang nicht bekommen. Aber die Anerkennung für sein großartiges Werk, für das auch dieser neue Roman stehen kann, ist ihm gewiss.…
1 Bei Krisen aller Art hilft: Lesen! Bücher von Joachim Meyerhoff, Tove Ditlevsen und Clemens Böckmann 55:00
Mit guten Büchern kann man die Krisen und Brüche der politischen Welt für ein paar Stunden ausblenden - und das Lesenswert Magazin hat die passenden Tipps dafür.
Will man von seinem Leben erzählen, muss man entweder ein großer Poet und Dichter sein, sprachlich etwas entstehen lassen, das in keiner Form so erlebbar wäre, oder man braucht ein aufregendes, von dramatischen Ereignissen durchzogenes Leben. In einer psychiatrischen Klinik aufzuwachsen, als Sohn des medizinischen Leiters, inmitten von mehr oder minder liebenswürdigen, in jedem Fall aber sonderbaren Gestalten, das ist großer Romanstoff. Reisen nach Amerika, die Sehnsucht nach Behausung, schicksalhafte Todes- oder Krankheitsfälle sowie die erste große Liebe sind es ebenfalls. Von all diesen Dingen erzählt Joachim Meyerhoff, und doch verlässt er sich nicht darauf. Er bleibt immer bei einem beiläufigen Ton, der Selbstverständlichkeit suggeriert, wo wahrhaft Aufregung geherrscht haben muss. Jedes meiner Organe schien maßlos enttäuscht von mir zu sein und genug von mir zu haben. Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen So beginnt er sein neues Buch „Man kann auch in die Höhe fallen“, das zwar die Genrebezeichnung Roman trägt, sich aber liest wie ein Memoire, eine sprachliche Verarbeitung von Gewesenem, und das mit den Nachwehen seines Schlaganfalls einsetzt. Aus Berlin zur Mutter an die Ostsee So sehr ich mich auch bemühte, oft wurde ich eine mir völlig wesensfremde Gereiztheit nicht los. Dinge ärgerten mich, die mir früher in Wien, vor dem Schlaganfall, nicht einmal aufgefallen wären. Unordnung machte mich unverhältnismäßig nervös, ungemachte Betten ließen meine Unterlippe erzittern vor Empörung. Geräusche, welcher Art auch immer, Straßenlärm oder Kinderlärm, wurden mir schlagartig zu viel. Es war vorgekommen, dass ich durch eine neben mir plötzlich aufheulende Krankenwagensirene in Tränen ausgebrochen war. Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen Meyerhoff verlässt Berlin, die Stadt, die ihm nach dem Schlaganfall in Wien zur neuen Heimat werden sollte und zieht sich zu seiner Mutter an die Ostsee zurück. Eine Art Privat-Sanatorium in mütterlicher Hand, nicht zu hart, aber auch nicht zu locker, soll ihn wieder in die Balance bringen und ihm auch über eine unerklärbare Schreibblockade hinweghelfen. Tag für Tag schrieb ich, ohne zu wissen, wohin mich meine Erzählungen tragen würden. Es kam mir völlig absurd vor, nach einem Sujet zu suchen, nie hatte ich das getan, immer hatte ich das geschrieben, was mir unter den Nägeln gebrannt hatte. Unter Literaturgattungen herrscht eine brutale Hierarchie. Es gibt Versepen, Gesänge und tausendseitige Gesellschaftsromane, die alles überdauern. Es gibt unsterbliche Dramen, deren Personal unverwüstlich durch die Zeiten schreitet. Und natürlich Lyrik, die dem Wort unsterblich einen tieferen Sinn verleiht. Aber dann gibt es eben auch die kleineren Formen, die keine allzu lange Lebensdauer haben. Eintagsfliegen aus Worten. Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen Die offene Art zu erzählen, nimmt die Leser gefangen Es sind diese kleinen Geschichten, oft nicht mehr als Anekdoten, die Meyerhoff in seinen Text streut, und deren Entstehen er wiederum mit anderen Worten beschreibt, als gäbe es zwei Ebenen des Textes, verschiedene Zeiten und Orte. Tatsächlich aber sind wir unmittelbar dabei, wie dieses Buch entsteht. Zumindest fühlt es sich so an. Hier wird nicht tiefenpsychologisch analysiert oder auf einer philosophischen Ebene reflektiert, sondern einfach nur erzählt. Mit dem Gestus des „weißt Du noch“ holt er Geschichten hervor, die er selbst erlebt, aber keineswegs heldenhaft gemeistert hat. Das beginnt bei einer Erzählung, die der kleine Joachim in der Grundschule mit Bleistift in ein Heft geschrieben hatte, und endet bei einem Wutausbruch bei der Geburtstagsfeier seines Sohnes in Berlin. Doch die offene Art, wie Meyerhoff keinerlei Rücksicht auf sich selbst nimmt und den Erzähler oft in ausweglosen Situationen schildert, nimmt den Leser gefangen. Diese kleine Schulheftgeschichte zum Beispiel, als Faksimile im Buch abgedruckt, ist so voller Fehler, dass kaum ein orthografisch richtiges Wort übrigbleibt und dazu kommentiert der offensichtliche Legastheniker, dass er schon bei seinem eigenen Namen Joachim Phillip Maria Meyerhoff ins Straucheln kam und nicht wusste, ob Phillip mit zwei l oder zwei p zu schreiben sei. Meyerhoff wird weiter schreiben – hoffentlich! Tatsächlich hilft ihm die beruhigende Gegenwart der Mutter, das tägliche Schwimmen in der Ostsee oder dem eigenen Teich, die Gartenarbeit, die nie aufzuhören scheint und die Leichtigkeit des Seins, dem jede Verantwortlichkeit entzogen wurde. Den zweiten Band, „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ über seine Kindheit in der Psychiatrie, hat Sonja Heiss erfolgreich verfilmt. Bei dem bildstarken Stoff lag das nahe. Joachim Meyerhoff, das wissen wir am Schluss dieses Buches, wird weiterschreiben. Auf eine weitere Verfilmung, die diese Schlussszene enthalten könnte, müssen wir hoffen. »Morgen fährst du.« »Ja.« »War so schön, dass du da warst. Mal richtig mit Zeit.« »Ja.« »Bist du zufrieden mit dem, was du geschrieben hast?« »Hm.« »Glaubst du, es wird ein Buch?« »Ich weiß es nicht, Mama.« »Ich würde, ehrlich gesagt, lieber doch nicht drin vorkommen.« »Na bravo.« Quelle: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen…
Vor dem Putschversuch von 1923 erschien in den USA ein erstes längeres Interview mit Hitler, geführt von dem prominenten Deutsch-Amerikaner George Sylvester Viereck, einem Bestsellerautor, Publizisten und Esoteriker. Einen Monat vor dem misslungenen Bierkellerputsch in München (und natürlich auch vor Hitlers Buch „Mein Kampf“ von 1925), verhehlt Hitler Anfang Oktober 1923 seine Absichten weniger als später. In seinem Antisemitismus sind mörderische Töne nicht zu überhören. Wir haben es hier mit der Frage Jude und Arier zu tun. Die Mischrasse stirbt aus; sie ist ein wertloses Produkt. Rom ging unter, als es nicht mehr auf den Erhalt seiner Rasse achtete. In der Literatur, im Film, in der Wissenschaft ist der Einfluss des Juden destruktiv. Wir gleichen einem Schwindsüchtigen, der nicht merkt, dass er dem Untergang geweiht ist, wenn er nicht die Mikroben aus seiner Lunge vertreibt. Wie Individuen tanzen auch Nationen in der Nähe des Abgrunds oft besonders wild. Deshalb sage ich, wir brauchen gewaltige Korrektive, starke Arznei, vielleicht Amputation. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews Lügen und Propaganda eines Diktators So deutlich wird Hitler später nicht mehr. Und Fragen zum Antisemitismus bleiben in Hachmeisters Buch ohnehin die Ausnahme. Viele Auslandsjournalisten begnügten sich mit der Sensation einer Exklusiv-Begegnung mit einem angesagten Politiker und späteren Diktator, sie ließen ihn reden, ohne nachzufragen, und verbreiteten es als Clou. So gelingt Propaganda. Das erste (wenn auch kurze) Hitler-Interview in einer französischen Zeitung erschien am 19. März 1932 in L’Œuvre (»Das Werk«), einer linken Publikation. Es war aber kein klassisches Interview mit Fragen und Antworten, schreibt Hachmeister, sondern eher ein Monolog: Hitler als Friedensfreund. Man hat gesagt: Hitler bedeutet Krieg. Ich will Ihnen versichern: Mein Sieg wird die deutschen Beziehungen mit dem Ausland in keinster Weise ungünstig beeinflussen können. […] Der Frieden in Europa, ich sage es noch einmal, wird nicht gestört werden, es sei denn ein Land will das. Wir werden das nicht sein. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews Der Diktator und die Journalisten Interessant in diesem Buch ist die Bestandsaufnahme einer internationalen Journalistenszenerie und die Kurzbiographien dazu, in denen Hintergründe, fragwürdige Allianzen, Eitelkeiten der Branche, Verführbarkeit, Karrieresucht angedeutet werden. Dazu veranschaulicht eine lange Reihe weitgehend unterbeleuchteter Memoirenliteratur die Begegnungen mit dem Diktator. Zur Rolle der französischen Journalisten fasst Lutz Hachmeister zusammen: Man kann sagen: Die wenigen Interviewer verhielten sich zuvorkommend gegenüber Hitler. Vielleicht war es eine gewisse complaisance oder eine Faszination, die er auf Journalisten aus dem Ausland ausübte. Oder zunehmende Rechtstendenzen spielten eine Rolle. Oder eine Selbsttäuschung, denn keiner wollte Krieg; alle wollten Hitler glauben, wenn er von Frieden sprach. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews Massenpsychologie und Täuschungsmanöver Insgesamt bringt diese aufwendig recherchierte Bestandsaufnahme Hachmeisters nicht unbedingt neue Erkenntnisse für die Hitler-Forschung. Einblicke in die Journalistenbranche hingegen sind höchst aufschlussreich und wenig schmeichelhaft. Es herrschte viel Opportunismus und Spökenkiekerei, Irrtümer, Naivität und Dummheit verstellten die Sicht, Servilität und Kollaboration waren verbreitet. Wiederholt warnt Hachmeister vor Interviews mit Diktatoren oder Autokraten, auch mit Blick in die Gegenwart. In seinem Vorwort zitiert der Medienfachmann den französischen Mediziner und Soziologen Gustave Le Bon aus seiner „Psychologie des foules“ von 1895. Darin spricht der französische Autor über Massenpsychologie und die Macht von Täuschungen. Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer. Quelle: Lutz Hachmeister – Hitlers Interviews…
1 Alexander Kluge und Anselm Kiefer – „Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“ | Buchkritik 4:09
Weißer Umschlag, grüner Balken – von außen sieht das Buch aus wie ein klassischer Band aus der Bibliothek Suhrkamp. Wenn man sich aber hineinvertieft, ist es viel mehr: Schatzkasten, Zauberkunststück, Überraschungsei. Um den besonderen Charme dieser medialen Neuerfindung zu entdecken, muss man aber erst einmal lesen. Das Buch ist aus dem Dialog zwischen dem Künstler Anselm Kiefer und dem Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge entstanden: Das ist das Schöne am Dialog, dass er ein ganz anderes Metier hat als ich. Ich habe mein Metier als Autor und als Filmemacher. Er hat ein Metier: er macht feste und recht große Bilder. Er ist aber übrigens ein poeta doctus. D.h. er ist ein gelehrter Maler, der sich auch interessiert. Und das fügen wir zusammen und dabei gibt es Riss-Stellen. Wir überraschen uns gegenseitig. Das ist Dialog. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« Kunst vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit Es geht um Freundschaft, auch wenn das Wort nicht strapaziert wird, es geht um Unterschiede und Berührungspunkte zwischen den Menschen, den Künsten und der Zeit. Für mich innerlich war das Thema: Was ist Verlässlichkeit in einer zerrissenen Welt. Das ist eigentlich meine Grundfrage, die mich die ganze Zeit, letztes Jahr, dieses Jahr beschäftigt. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« In Text-Collagen, Assoziationen, Zitaten und gemeinsamen Gesprächen kommentiert Alexander Kluge das Werk von Anselm Kiefer und reflektiert dabei seine eigene künstlerische Position. Im Hintergrund beider Biografien wummert der Krieg. Alexander Kluge ist 1932 in Halberstadt geboren, Anselm Kiefer im März 1945 in einem Luftschutzbunker in Donaueschingen. Als er auf die Welt kam, schreibt Kluge über Kiefer, „waren Süddeutschlands Himmel voller alliierter Flugzeuge“. Flugzeuge werden zu wiederkehrende Motiven in Kiefers Werk. Kluge vergleicht den Maler und Bildhauer mit einer Fledermaus. Die Tiere werfen Töne an die Wände und orientieren sich am Echo. Und sie haben ein Ohr, sie sehen mit dem Ohr, das ist etwas sehr Interessantes. Und ich habe manchmal den Eindruck, dass Anselm Kiefer, wenn er malt, Musik macht. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« Künstlerische Gemeinsamkeiten Die beiden Künstler verbindet das Prinzip, ihr Material zu zerlegen, zu schichten und zu verdichten. Die abgebildeten Werke von Kiefer bestehen aus Stroh, Gold, Schellack. Er zersetzt seine Bilder durch das Elektrolyse-Verfahren oder begräbt sie unter Blei. Einige, sagt er im Buch, könnten einen Atomkrieg überstehen. Gemeinsam ist den Werken der unbedingte Anspruch an die Kunst. Alexander Kluge schreibt. Es müsste möglich sein, dass die Verschränkung von Texten, Bildern, Filmen, Dokumentationen und Poemen: die tausend Splitter und Fragmente, dazu führt, dass Tote auferstehen. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« Das Buch wird zum Kino Und dann wandelt sich der Charakter des Buches: Kleine QR-Codes erscheinen auf den Seiten. Wenn man sie mit dem Handy scannt, wird das eigene Smartphone zum Taschenkino. Kurze Filme öffnen sich, nur eine Minute lang, wie die ersten Filme in der Geschichte des Kinos. Alexander Kluge kreiert neue Bilder auf den übermalten Rändern der Leinwände von Anselm Kiefer, die dieser Elefantenhaut nennt: Er ist wie ein Alchimist tätig und schafft auf diese Weise unbekannte Materialien. Wenn ich sie als Hintergrund nehme für mein filmisches Emblem, dann ist das so, als ob eine Felsmalerei entsteht. Quelle: Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben« „Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“ – der unscheinbare Band birgt mehrere Stunden Film. Da sind zwei Systemsprenger am Werk. Getreu bleiben sich Anselm Kiefer und Alexander Kluge, indem sie immer wieder die Grenzen ihrer Kunst überschreiten.…
Yaroslav Hrytsaks Buch über die Ukraine ist in seiner Heimat ein Bestseller. Mittlerweile in neunter Auflage, stillt dieses Grundlagenwerk offenbar ein elementares Bedürfnis der Ukrainer, sich mit ihrem Land und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Mein Buch ist sehr populär bei Ukrainern, besonders bei denen im Osten, in den großen russischsprachigen Städten, die seit Kurzem ukrainische Patrioten sind. Das ist ein radikaler Wandel. Viele Ukrainer haben jetzt erst ihre nationale ukrainische Identität entdeckt. Quelle: Yaroslav Hrytsak Hrytsaks Buch, das nun unter dem Titel „Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation“ auf Deutsch erschienen ist, handelt von der Kiewer Rus, einer Art vornationalem Handelsbündnis, dessen Gründer im 9. Jahrhundert Wikinger waren – und von den globalen Folgen der Entdeckung Amerikas. Damals brachte ein intensiverer Warenverkehr entscheidende Impulse auch für Osteuropa, bis hin zur Gründung eines Kosakenstaats im Jahr 1648. Kosakentum als Herzstück der Nation Dem Kosakentum mit seinen urdemokratischen Strukturen – für Hrytsak ein Herzstück noch der heutigen Ukraine – ist im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kosaken wählten ihren Anführer jeweils auf Versammlungen in der Sitsch, ihrem Hauptquartier. In Russland hatten die Kosaken eine ganz andere Rolle, betont Hrytsak. Natürlich gibt es auch russische Kosaken: Donkosaken, Kubankosaken, Uralkosaken. Doch sie unterscheiden sich deutlich von den ukrainischen Kosaken. Die russische Geschichte kann man leicht ohne Kosaken schreiben, weil die Kapitel über sie etwas über den russischen Staat erzählen, nicht aber über die Kosaken. Die ukrainische Geschichte dagegen kann man nicht ohne die Kosaken erzählen, weil sie eine Geschichte von unten nach oben ist. Im Gegensatz dazu ist die russische Geschichte eine Geschichte von oben nach unten. Quelle: Yaroslav Hrytsak Mit den Kosaken hat es auch zu tun, dass Russen Ukrainer bis heute gern „chochly“ nennen, nach der einzelnen Haarsträhne auf dem kahlgeschorenen Kopf. Das verlustreiche 20. Jahrhundert Weiter geht es in Hrytsaks Buch von den blutigen Jahren des Ersten Weltkriegs zum millionenfachen Mord des Zweiten Weltkriegs. Die Gemetzel wurden oft genug durch Begehrlichkeiten nach den fruchtbaren Böden der Ukraine ausgelöst. Die Tatsache, dass Teile der ukrainischen Bevölkerung in den 1940ern mit deutschen Einheiten kollaborierten, um nationale Autonomie zu erlangen, benutzt die Putinsche Propaganda bis heute, indem sie Ukrainer grundsätzlich als „Faschisten“ bezeichnet. Dagegen hält Hrytsak, dass in der heutigen Ukraine alle Ethnien, von den Krimtataren bis zu den Juden, gegen Russland zusammenstehen. Das hat auch damit zu tun, dass die moderne Ukraine sich ihrer Mitverantwortung am Holocaust bereits gestellt hat. Was die meisten westlichen Beobachter, einschließlich der deutschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ist die große Gruppe der Juden in der Ukraine, die sich ganz bewusst als Ukrainer fühlen. Da gab es jetzt einen sehr bewegenden Fall: Der oberste Rabbiner von Kiew hat seinen Sohn an der Front verloren. Das war ein tragischer Moment, der eine Menge darüber sagt, ob die Ukraine wirklich ein faschistischer Staat ist. Quelle: Yaroslav Hrytsak Loslösung aus dem russischen Narrativ Hrytsaks starkes Buch treibt die Loslösung der ukrainischen Geschichte aus dem so lange dominanten russischen Narrativ weiter voran. Punkt für Punkt widerlegt Hrytsak Putins neoimperiale Argumentation, die stets darauf hinausläuft, dass die Ukraine ein marginales Land ohne eigene Identität sei. Ein gut zu lesendes Buch, dass auch deutschen Lesern die ukrainische Perspektive überzeugend näherbringt.…
Das Leben der beiden ist voller Bruchstellen, Surrealem, inneren und äußeren Konflikten sowie Fragen wie: Ist es möglich, nur nach persönlicher Erfüllung zu streben? Und wofür soll man die eigenen Kräfte einsetzen – zumal wenn sie, wie in Helens Fall, sogar telekinetisch sind? Das Cover muss man ziemlich weit von sich weghalten, um zu erkennen, dass das abstrakte Gebilde darauf das Profilbild einer geologischen Bruchzone ist. Rätselhaft kommt das Buch daher. Dabei scheint auf den ersten Seiten alles noch ganz einfach: Helen ist eine gefragte bildende Künstlerin mit Ausstellungen in ganz Europa. Sie reist herum, auch in den hohen Norden, ins Permafrostgebiet, wo sie an neuen Bildern arbeitet. Ihr Partner Lenell arbeitet als Seismologe in Egio, Griechenland. Er beschäftigt sich mit der geografischen Bruchzone, an deren Rand Egio liegt. Lenell ist depressiv und braucht Hilfe, was die Beziehung zu Helen stark belastet. Der Punkt, an dem es zumindest für Helen kompliziert wird, ist ihr Gewissenskonflikt im Umgang mit ihren telekinetischen Fähigkeiten. So kann sie zum Beispiel den durch den Klimawandel aufgetauten Permafrostboden wieder gefrieren lassen. Kunst oder Weltrettung Damit verbunden ist für sie die existentielle Frage, ob es nicht besser wäre, ihre Kräfte für die Verbesserung der Welt einzusetzen oder wenigstens Lenells Depression zu heilen, anstatt Kunst zu machen. War das nicht Verschwendung? Vielleicht wäre es richtig, dachte sie, wenn jeder Mensch in diesem Sinne für den Planeten arbeiten würde, für die Zukunft und für nichts sonst. Quelle: Joshua Groß – Plasmatropfen Der Roman handelt nicht nur auf der inhaltlichen Ebene von Bruchzonen, auch formal tun sich Brüche auf: Da ist zum einen Groß’ sehr gegenwärtige Sprache: Da pulsieren Wolkenschichten cremig, da wird „geswervt ohne Demut“, da hat Lenell „Speedracerqualitäten“. Und der Text ist durchzogen von immer wieder auftauchenden und fein verbundenen Motiven, den Koräen-Kiefern, dem Meer oder den titelgebenden Plasma-Augentropfen. Was im Verlauf der Lektüre jedoch zunehmend stört, sind die sich häufenden Passagen, in denen die Figuren sich selbst reflektieren. Hier verschwindet Groß’ feiner literarischer Ton hinter einer abstrakten und in vielen Fällen aus Theoriefragmenten zusammengesetzten Sprache, die am Anfang lediglich irritiert, im Verlauf des Textes aber ermüdet und dazu führt, dass man blättern oder zumindest diese langatmigen Passagen überspringen möchte. Und wenn man müde war, gegen die Beschwichtigungen anzukämpfen, konnte man entweder indolent werden oder depressiv. Oder versuchen, im Fernmöglichsten die Misskonfigurationen auszuhalten, sie spürbar zu machen, wobei man sich eben ständig sagen musste, dass es kein Vorgeben war, kein Vorschieben. Und mündete das Aushalten der Misskonfigurationen nicht auch in einer Depression höherer Ordnung? Quelle: Joshua Groß – Plasmatropfen Außerdem stört im Handlungsverlauf immer mehr der Eindruck der Wohlstandsblase, in der sich die Figuren befinden: Ständig wird guter Espresso aus Siebträgermaschinen getrunken, Müsli mit frischem Obst zubereitet und Basketball gespielt – oder Racinggames am Handy. Helen schüttete sich den zweiten Espresso rein. Sie verspeiste ein Croissant und steckte das andere in die Gepäckbox. Sie zahlte. Dann fuhr sie mit ziemlich viel Speed nach Osten. Bröckelnder Asphalt oder sogar Schotterstraßen. Diffuse Schilder. Aber ihr Navi war zuverlässig. Im Grunde musste sie sich auf die Helligkeit zubewegen, die am Horizont sengte. Quelle: Joshua Groß – Plasmatropfen Erfahrungsarmut der Figuren Wirkliche Arbeit kommt in dem Text schlicht nicht vor. Die künstlerische Tätigkeit Helens erahnen wir nur aus ihren Reflexionen, etwa wenn sie sagt, dass gemalte Bilder sie nicht interessieren, sondern nur diejenigen, die sie in Zukunft noch malen wird. Und auch die seismologische Arbeit Lenells wird nicht gezeigt, sondern schlicht und ergreifend in kurzen Sätzen behauptet, etwa wenn er am Computer kurz Daten überprüft, nur um sich dann sofort wieder einem YouTube-Meditationsvideo oder seinen verqueren Selbstreflexionen zuzuwenden. Auch der surreale Spechtmensch, ein Wesen halb Vogel, halb Mensch, mit dem Lenell ein homoerotisches Verhältnis beginnt und sich damit aus der Depression befreit, rettet den Text nicht vor seiner Banalität und der letztendlich überall durchschimmernden Erfahrungsarmut der Figuren. Hier stellt Groß seine Figuren ein Stück zu sehr bloß, indem er andeutet, die Depression sei womöglich nur eine Folge der Wohlstandsverwahrlosung kinderloser Mittdreißiger. Dieser Bruch zwischen inhaltlicher Oberflächlichkeit und formaler Raffinesse löst sich – anders Lenells Depression – leider nicht auf.…
1 SWR Bestenliste November 2024 mit Büchern von Jana Volkmann, Simone de Beauvoir, Eva Maria Leuenberger und Clemens Meyer 1:11:31
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1:11:31Literaturkritik über die deutschsprachigen Ländergrenzen hinweg: Aus der Schweiz war Martina Läubli, Literaturredakteurin der Neuen Zürcher Zeitung , ins Künstlerhaus Edenkoben angereist. Aus Österreich die Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, deren Rezensionen unter anderem in der Wiener Tageszeitung Die Presse zu lesen sind. Literaturkritiker Jörg Magenau, der unter anderem für die Süddeutsche Zeitung schreibt, kam aus Tübingen in die Pfalz. Besprochen wurden vier Titel der SWR Bestenliste im November, und zwar mit „Der beste Tag seit langem“ (Residenz) der neue Roman von Jana Volkmann. Mit „Die Mandarins von Paris“ von Simone de Beauvoir (Rowohlt) stand die Neuübersetzung von Claudia Marquardt und Amelie Thoma auf dem Programm. Während die zweite Hälfte der gewitzten Mensch-Tier-Parabel von Jana Volkmann kritisiert wurde, lobte die Runde einhellig die lehrreiche und auch literarisch überzeugende Darstellung der französischen Debattenkultur in der Nachkriegszeit. Die Jury-Runde diskutierte kontrovers über den Lyrikband „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger (Droschl) und war sich einig im Lob des Spitzenreiters der SWR Bestenliste im November: Der Roman “Die Projektoren“ von Clemens Meyer (S. Fischer) sei „epochal“, sagte Jörg Magenau. Der Autor habe mit dem Roman „gewagt und gewonnen“, erklärte Daniela Strigl, und Martina Läubli gab zu, die vielschichtige Prosa habe sie „verzaubert“. Aus den vier Büchern, die in Edenkoben vorgestellt wurden, haben Antje Keil und Sebastian Mirow gelesen.…
Ein Ich in einem abgeschlossenen Zimmer, das an die Decke starrt und dort eine Spinne erblickt, die zur Beobachterin und Begleiterin wird. Ein Szenario, das zunehmend dystopisch wird. Und ein Ich, dessen Position kunstvoll in der Schwebe bleibt.
Auf mehr als 1000 Seiten ein wilder Ritt durch die Geschichte und durch Geschichten. Es kommen vor: Das Velebit-Gebirge, in dem die „Winnetou“-Filme gedreht wurden, ein Partisanenkämpfer und ein verschwundener Psychiatrie-Patient.
Mehr als 1000 Seiten, 1954 erschienen, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, jetzt in deutscher Neuübersetzung. Es ist das Denken europäischer Intellektueller in Gesprächen und Debatten der Nachkriegszeit, das hier inszeniert wird.
Ein Pferd in einer lauen Sommernacht, das zwei Frauen, Tante und Nichte, nach Hause begleitet. Die Tiere in Wien, die plötzlich den Aufstand proben. Ein Roman über die Solidarität unter den Lebewesen, und zwar unter allen.
„Die Achse der Autokraten“: Das weckt Assoziationen an die Achsenmächte des Zweiten Weltkrieges, die nicht nur militärisch kooperierten, sondern durch eine faschistische Ideologie verbunden waren. Demgegenüber sind die Bündnisse, die heute die Autokratien von Russland, China, Iran, Nordkorea, Syrien usw. miteinander eingehen, schreibt Applebaum, rein pragmatischer Natur: Vereint seien sie in ihrem gemeinsamen Widerstand gegen die westlich-liberale Weltordnung. Kooperation: Ideologische Unterschiede sind kein Hindernis Ideologische Unterschiede etwa zwischen dem iranischen Mullah-System, der Diktatur Putins und dem kommunistischen Nordkorea hielten die autokratischen Länder nicht davon ab, miteinander militärisch und politisch zu kooperieren. Vereint im Hass auf die Demokratie Verbindend sei ihr „Hass auf die Demokratie“, die Verachtung des Völkerrechts und die Bereitschaft, skrupellos Gewalt einzusetzen, um sich an der Macht zu halten. Besser als der Begriff der „Achse“ passt Applebaums Beschreibung der neuen globalen Bündnisse als internationale „Netzwerke“, die sich im Interesse kleptokratischer Bereicherung und geopolitischer Machtausübung gegenseitig stützen. Unaufhaltsamer Siegeszug der liberalen Demokratien Aber wie kam es zu diesen autokratischen Netzwerken? Applebaum macht dafür die westlichen Länder selbst mitverantwortlich, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Weltordnung des Kalten Krieges nicht nur der Illusion vom „Ende der Geschichte“, das heißt dem unaufhaltsamen Siegeszug der liberalen Demokratien anhingen. Darüber hinaus ermöglichte das neoliberale Wirtschaftssystem den Autokratien, ihre krummen Geschäfte im globalen Maßstab abzuwickeln: Dank der Globalisierung der Finanzwelt, der Vielfalt an Geldverstecken und der gütigen Duldung ausländischer Gaunereien durch Demokratien eröffnen sich Autokratien heute Möglichkeiten, von denen sie vor einigen Jahrzehnten nicht zu träumen gewagt hätten. Quelle: Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten Weit verzweigte Netzwerke internationaler Autokratien Anne Applebaum belegt diese Diagnose mit einer Vielzahl von Beispielen, indem sie etwa beschreibt, wie russische Oligarchen mit Hilfe westlicher Banken und einem System von Briefkastenfirmen ihren gestohlenen Reichtum sicherten. Oder indem sie zeigt, wie die korrupte Elite Venezuelas die Gewinne aus der Ölwirtschaft in ihre eigenen Taschen leitete, dabei tatkräftig gefördert nicht nur durch die westliche Finanzindustrie, sondern durch andere autokratische Länder wie zum Beispiel Iran oder Russland, eben jener internationalen Netzwerke, die die regelbasierte Weltordnung untergraben. Was sie verbindet, sind das Erdöl, der Antiamerikanismus, die Unterdrückung ihrer Demokratiebewegungen und die Notwendigkeit, Sanktionen zu umgehen. Quelle: Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten Detailliert schildert Applebaum den hierzulande wenig bekannten Fall von Simbabwe, dessen despotisches Regime sich mit Hilfe russischer Kampfjets und chinesischer Überwachungstechnologie an der Macht hält und sich dafür revanchiert, indem es seinen Helfershelfern Schürfrechte an Bodenschätzen und diplomatische Unterstützung zum Beispiel für Russlands Krieg gegen die Ukraine gewährt. Auch der Kooperation der Autokratien bei der Herstellung und Verbreitung von antidemokratischer Propaganda und Fakenews widmet Applebaum ein ganzes Kapitel ihres fesselnden Buchs. Mahnung an Deutschland: Keine Geschäfte mit Autokratien! Ihre Darstellung überzeugt dabei immer durch die Verbindung von Analyse und Anschaulichkeit. Ihre engagierte Beschreibung der neuen Weltunordnung, in der Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte durch die Netzwerke der Autokratien zerstört zu werden drohen, führt zur nachvollziehbaren Forderung nach einer „internationalen Allianz“ demokratischer Staaten und einem „internationalen Antikorruptionsbündnis“, das durch entschiedene Gesetzgebung die „Transparenz des Finanzwesens“ wiederherstellen soll. Staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen sollen außerdem die Verbreitung von Propaganda und Fakenews durch die Regulierung sozialer Medien verhindern. Ob all diese nicht-militärischen Maßnahmen ausreichen, um die freiheitliche Weltordnung erfolgreich gegen den Angriff der Autokratien zu verteidigen, bleibt eine offene Frage.…
Volker Kitz hat ein wichtiges Buch geschrieben über eine Frage, der wir uns erst stellen, wenn wir durch die Umstände dazu gezwungen werden: Was sollen wir tun, wenn unsere Eltern nicht mehr für sich selbst sorgen können? Sein Vater ist Ende siebzig, als er eines Tages nicht begreift, wie man einen Schlüssel im Schloss dreht und eine Kaffeemaschine bedient. Die Diagnose „Demenz“ stellt die beiden Söhne vor eine Herausforderung. Wie löse ich mich von der Illusion des Immer-weiter-so? Welche Zeichen muss ich erkennen, welche Entscheidungen darf ich treffen? Welche muss ich treffen, gegen Vaters Willen? Wie behalte ich Zugang zu ihm, teile Schmerz, Freude, pendle in seine Welt – ohne meine verdorren zu lassen? Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert? Volker Kitz versucht zunächst, einen rationalen Zugang zu der schwer begreiflichen Veränderung des Vaters zu finden. Besessen sucht er medizinische, soziologische und psychologische Erklärungen. Er fragt sich: Was ist Erinnerung, wenn das Gedächtnis nicht mehr funktioniert? Der Vater bekommt bei einer Fußball-Reportage leuchtende Augen, die Familienbilder aber sagen ihm nichts. Die Gedächtnisforschung hat herausgefunden, dass wir nur acht bis zehn Tage eines Jahres im Gedächtnis behalten. Die unzähligen einander ähnlichen Erlebnisse, die keine Emotionen hervorrufen, werden aussortiert. Volker Kitz findet und zitiert eine Menge Literatur über Erinnern und Vergessen, was ihm selbst aber nicht hilft. Ich hatte geglaubt, gut vorbereitet zu sein. Ich hatte Zeit eingeplant, um mich um meinen Vater zu kümmern. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren die Schwernisse, die der bloße Anblick der Veränderungen mit sich brachte. Es ist nicht so, dass ich zuvor nie verzweifelt gewesen wäre. Doch eine so anhaltende, sich steigernde Verzweiflung kannte ich nicht. Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern Der Vergleich zum Vorher macht die Dinge unerträglich Als das Leben alleine im Haus für den Vater unmöglich wird, findet Volker für ihn in Berlin in der Nähe seiner eigenen Wohnung ein Pflegeheim. Zwischen den beiden besteht eine große Verbundenheit, aber das wird jetzt zum Problem: Der Sohn kann das Irreversible der Krankheit nicht akzeptieren. Im Heim kontrolliert er die Pflegerinnen, zählt die Tabletten nach, lässt sich Protokolle der sozialen Aktivitäten des Vaters ausdrucken. Unter allen Umständen will er zurück ins Altvertraute. Irgendwann jedoch begreift er: „Es ist der Vergleich zum Vorher, der die Dinge unerträglich macht.“ Volker Kitz ist Jahrgang 1975 und hat mit seinem Buch das Problem einer ganzen Generation beschrieben. Er zitiert Prognosen, nach denen sich mit steigender Lebenserwartung die Zahl der an Demenz Erkrankten alle zwanzig Jahre verdoppelt und fragt sich, ob auch er eines Tages dazugehören wird. Demenz der Eltern nimmt auch den Kindern viel Selbstbestimmung Wir, die Kinder, machen scharenweise ähnliche Erfahrungen, während unsere Eltern alt werden: Zeichen erkennen, deuten, sich eingestehen. Konsequenzen aushandeln. Sie betreffen nicht nur die Eltern, sondern auch uns, im Kern unserer Lebensgestaltung. Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich schien. Quelle: Volker Kitz – Alte Eltern Volker Kitz hat mit dem Schreiben begonnen, als der Vater noch lebte. Es sind die persönlichen und unmittelbaren Beschreibungen des Alltags mit einem dementen Vater, die das Buch so wertvoll machen. Gerade weil Volker Kitz keine Lösung kennt und keine Ratschläge anzubieten hat, dürfte dieses Buch für viele Menschen ein Begleiter werden in einer Situation, auf die man sich emotional nicht vorbereiten kann.…
Der Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Leben ist in diesem Fall ein Einstieg. Eine hübsche Idee ist es auch, die Badewanne, in die man gestiegen ist, einfach nicht mehr zu verlassen. Doch das ist auch schon fast alles in Tine Melzers zweitem Roman „Do Re Mi Fa So“. Der Ausgangsidee folgt nur noch Gerede. Der Opernsänger Sebastian Saum – was wohl von säumig kommt – hat sich zwar noch die Mühe gemacht, die Wanne nach dem Bad trocken zu reiben, um sie mit Kissen und Decken auszustatten. Aber dann bleibt er liegen und hat nun sehr viel Zeit zu räsonieren, sechzehn Kapitel lang, die in ermüdender Regelmäßigkeit mit dem morgendlichen Erwachen beginnen. Wehleidig ist dieser neuzeitliche Oblomow auch, wenn er über sich sagt: Womöglich habe ich mich selbst in der Ruhestand versetzt. Aber gerade jetzt mag ich nicht das Richtige tun. Deshalb bin ich ja hier. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Von Socken und Langeweile Dann kommt der Pianist Franz mit dem Frühstück. Franz wohnt eine Etage tiefer, hat dort ein eigenes Bad und offenbar sehr viel Geduld mit der enervierenden Person in der Wanne. Die beiden sind so etwas wie eine schwules Paar, allerdings ohne Liebe und ohne Sex, was ja eigentlich, wenn schon Badewanne, nahe läge. Stattdessen denkt Sebastian ausdauernd über Kleiderfragen nach, welche Hemden in seinem Leben eine Rolle gespielt haben, welche Stiefel er wann trug und welche Socken im Schlafzimmer über der Stuhllehne hängen. All das ist von Herzen uninteressant. Es wird auch in den Passagen nicht fesselnder, in denen Sebastian sich an den Tod seiner Mutter erinnert und über seltsame Worte wie „Beisetzung“ nachdenkt. Immerhin gelingt ihm eine brauchbare Definition der Langeweile, unter der er leidet, und die Tine Melzer geradezu schmerzhaft spürbar werden lässt: Ich stelle nichts her außer Zeit und lasse die Stunden über mich ergehen, weil ich es kann. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Überfülle an Metaphern Genauso verhält es sich auch mit diesem Roman. Tine Melzer schreibt ihn, weil sie es kann. Allerdings fragt man sich beim Lesen, warum dieser eher lethargische Mann, der doch eigentlich Abstand von allen Verpflichtungen nehmen wollte, unentwegt redet und wem er das alles erzählt. Das Buch ist in der Ich-Form und im Präsens gehalten, so dass es so klingt, als spräche er aus der Wanne in ein Diktafon. Präsens und Ich-Form, das sollte man eigentlich im Schreibkurs lernen, geht niemals gut, weil man nicht während des Lebensvollzugs mitschreiben kann. Doch das ist nicht das einzige Problem dieser Prosabemühung. Melzer neigt zu einer Überfülle an Metaphern und Wie-Vergleichen, die nie ganz stimmig sind. So heißt es beispielsweise: Ziellos wie Zugvögel ohne Magnetfeld bleibe ich, wo ich bin. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Aber Zugvögel bleiben nun mal nicht, wo sie sind, und wenn das Magnetfeld sich verändert, fliegen sie in die Irre. Auch wenn es sich um Figurenrede handelt, muss man ja nicht jeden Unsinn zu Papier bringen. Zu derlei Ungenauigkeiten kommen Sätze, über die man lange und vergeblich nachdenkt: Ich wohne der Geburt der Stimme aus dem Inneren des Radiomoderators bei. Quelle: Tine Melzer – Do Re Mi Fa So Kraftlos in der Badewanne Vom Beiwohnen mal ganz abgesehen: Ist damit vielleicht der kleine Mann im Inneren des Radios gemeint? Aber wieso gebärt er eine Stimme? Man könnte darüber hinweglesen, wenn der arme Romanheld mehr zu bieten hätte, als über Socken und Strümpfe nachzudenken. Wenn es wenigsten um Musik und sein Leben als Musiker ginge. Aber das kommt nur beiläufig und ganz am Rande vor. Am Ende wird es ihm selbst zu fad in der Wanne, doch er hat nicht mehr die Kraft auszusteigen. Erst als der gute Geist Franz dann auch die Geduld verliert und nicht mehr mit leckerem Essen und Getränken erscheint, ist Sebastian gezwungen aufzustehen und das Haus zu verlassen. Danke, möchte man ihm zurufen. Endlich! Seine abschließende Frage, wer ihn wohl vermissen würde, wenn er nicht wiederkäme, lässt sich präzise mit „Niemand“ beantworten.…
Das Werkverzeichnis von Gerhard Richter besteht aus sechs Bänden mit rund viertausend Arbeiten, entstanden in einem Zeitraum von fast sechzig Jahren. Abstraktion, Fotorealismus, Farbexperimente, Computermalerei. Wie kann ein Buch ein solches Werk fassen? Zumal sich der Künstler selbst am liebsten in Schweigen hüllt. Gerhard Richters Vagheit setzt Uwe Schneede Genauigkeit entgegen. Beim Lesen werden die inneren Zusammenhänge in dem vielgestaltigen Gesamtwerk deutlich, die Wechselbeziehung zwischen abstrakter und gegenständlicher Malerei. Das Ungewöhnliche ist, dass Richter die Formen gleichzeitig nutzt. Immer auf der Suche nach unbekannten Bildern. Er hat also nicht eine Vorstellung davon, wie das Bild am Ende aussehen soll. Sondern er arbeitet so, dass er sich am Ende selbst überrascht. Deshalb ja der auf den ersten Blick merkwürdig klingende Satz von ihm: „Meine Bilder sind klüger als ich.“ Weil er eben immer über sich selbst hinaus zu gehen versucht in ein Neuland. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter Organische Darstellung disparater Werkkomplexe Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren, studierte dort an der Hochschule für Bildende Künste. Er verließ die DDR 1961. Die Aktionen nach der Begegnung mit Fluxus an der Düsseldorfer Akademie, die ersten fotorealistischen Bilder, die Aufarbeitung der Familiengeschichte im Nationalsozialismus – diese sehr disparaten Werkkomplexe scheinen in dem Buch „Der unbedingte Maler“ fast organisch ineinander zu greifen. Schneede legt Wert darauf, Richters Abstraktionen von der informellen Malerei abzugrenzen: Und zwar ist ja das Informel geprägt durch den unmittelbaren, psychischen, schnellen Niederschlag auf der Leinwand, so dass auf der Leinwand auch die Emotionen des Schöpfers zu erfahren sind. Gerhard Richter arbeitet überhaupt nicht schnell, sondern überaus langsam und gezielt und mühsam auch und damit auch auf eine gewisse Art bewusst und nicht, um etwas Unbewusstes in sich hervorzubringen. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter Gerhard Richter, der skeptische Maler Uwe Schneedes sprachliche Präzision folgt der Sinnlichkeit von Gerhard Richters Malerei. Er spricht von „Schichtungen und Häutungen“, vom „zeitwidrigen Eigensinn“ des Künstlers und bleibt auch bei Richters schwergewichtigen Themen genau. Den grabdunklen Zyklus zu den Selbstmorden der RAF-Terroristen in Stuttgart Stammheim am 18.Oktober 1977 oder den Zyklus zu Auschwitz-Birkenau, der im Reichstagsgebäude hängt, kann man als monumental empfinden. Uwe Schneede widerspricht: Also monumental finde ich sein Werk überhaupt nicht. Monumental enthält immer pathetische Elemente. Aber das ist es nicht. Ich denke, selbst da, wo er richtig große Werke wie für das Reichstagsgebäude in Berlin geschaffen hat, selbst da herrscht immer noch die ihm eigentümliche Skepsis. Er ist immer sehr zurückhaltend und in allem, was er äußert, auch was er malt, ein Skeptiker. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter Glasklare Analyse von Richters Gesamtwerk In dem Buch begegnen sich zwei Unbestechliche. Chronologisch aufgebaut kann man den Band wie eine klassische Biografie lesen und doch ist „Der unbedingte Maler“ viel mehr. Eine glasklare Analyse des Gesamtwerks, das Gerhard Richter mit 85 Jahren für abgeschlossen erklärt hat. Und die Ehrung eines Künstlers, der sich allen Kategorien verweigert. Gerhard Richter ist – finde ich – das Inbild eines bürgerlichen Künstlers. So versteht er sich auch selbst. Nur, dass er in seiner Malerei ein Revolutionär ist. Das ist ein gewisser Widerspruch. Ich finde den aber besonders interessant. Quelle: Uwe M. Schneede – Gerhard Richter…
„Lo-li-ta“ - drei Silben, ein Name, der nicht zu trennen ist von Vladimir Nabokovs Roman von 1955. Damals war das Buch ein Skandal. Heute ist „Lolita“ ein Teil der Popkultur. Bis heute steht „Lolita“ verharmlosend für die „verführerische Kindfrau“. Eine andere Perspektive nimmt die Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul in ihrem Roman „Bye Bye Lolita“ ein. Aus der Perspektive der erwachsenen Dolores Haze erfahren wir, welche Gewalt und wie viel Schmerz Lolita erfahren musste. Eine Abrechnung mit Humbert Humbert und mit unserer Gesellschaft. Lea Ruckpaul im Gespräch In „Bye Bye Lolita“ schreibt sich Dolores Haze an Humbert Humbert auf den Seiten seines Taschenkalenders an. Im „lesenswert Magazin" erzählt Lea Ruckpaul wie sie sich im Schreibprozess an Nabokovs Roman angenähert hat. Was hat Ruckpaul an der Figur „Lolita“ so interessiert? Das erzählt sie Kristine Harthauer.…
Immer mehr Menschen fällt es anscheinend schwer, sich längere Zeit auf ein Buch zu konzentrieren – ohne zwischendrin immer wieder aufs Handy zu schauen oder aufzuspringen, um etwas zu essen oder trinken zu holen. Deswegen gibt es jetzt weltweit immer mehr Angebote von Buchhandlungen und Bibliotheken, bei denen Menschen zusammenkommen, um - jede und jeder für sich - eine Stunde lang konzentriert zu lesen, ohne Ablenkungsmöglichkeit und danach miteinander ins Gespräch kommen können. Leseclub in Heidelberg Natürlich kommt dieser Trend aus den USA und nennt sich „Silent Book Club“. Auch in Heidelberg am Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) gibt es einen solchen Leseclub. Die Bibliothek des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Heidelberg hat hohe helle Räume mit Bücherregalen bis unter die Decke. Noch sind ein paar Kinder mit ihren Eltern da und einige Studierende, die sich noch schnell vor der Schließzeit ein paar Bücher ausleihen. Aber heute gehen hier um 18 Uhr noch nicht die Lichter aus, sondern – wie jeden zweiten Donnerstag – treffen sich Lesebegeisterte zum „Silent Book Club“. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer stehen schon in kleinen Grüppchen beisammen, andere stöbern noch in den Bücherregalen. Dann begrüßt Mitarbeiter Craig McSkimming alle Gäste: „So, welcome everybody to ,The Silent Book Club'!" Nicht nur das Buch ist spannend, auch die anderen Leser*innen An diesem Abend sind vier Männer und sechs Frauen gekommen, jüngere und ältere. Sie verteilen sich in dem großen Lesesaal. Manche machen es sich in den tiefen Ledersesseln bequem, andere setzen sich um die zwei großen Tische herum. Die meisten haben sich ihre eigenen Bücher mitgebracht. Ich nutze die Gelegenheit und greife zu einem Buch des amerikanischen Politologen Yasha Mounk. Doch es dauert eine Weile, bis ich mich konzentrieren kann. Ich bin neugierig, versuche, einen Blick auf die Buchcover zu erhaschen, möchte sehen, was die anderen so lesen. Und wie sie lesen: Hat die Frau neben mir etwa schon wieder eine Seite umgeblättert? Wie schnell liest sie denn! Rechts von mir schaltet eine jüngere Frau ihr E-Book an – eine andere Frau am Tisch steckt sich ihre Kopfhörer ins Ohr und lauscht ihrem Hörbuch. Der DAI-Mitarbeiter Craig bringt ein paar Kekse und Salzstangen an die Tische – ansonsten ist es ruhig, nur der Straßenlärm dringt in die Bibliothek. Ich vertiefe mich in mein Buch. Die Stunde geht viel zu schnell rum. Craig bittet alle, sich um den einen großen Tisch zu versammeln, er bringt Wein und Käse. Wer möchte, kann jetzt sein Buch vorstellen und seine Meinung dazu äußern. Nach dem Lesen wird geplaudert Nicht alle wollen gleich mitreden, aber am Schluss haben doch alle ihr Buch vorgestellt – die Bandbreite ist groß: ein Sachbuch zur eigenen Fortbildung, der Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises, weil überall darüber gesprochen wird und ein eher leichtes, lustiges Buch, was man im Urlaub nicht fertig lesen konnte. Manche lesen auf englisch, andere auf deutsch. Und auch bei der anschließenden Gesprächsrunde spricht jeder in der Sprache seiner Wahl. Immer wieder fragen Teilnehmer*innen nochmal nach einem Titel oder Autor – der „Silent Book Club“ ist schließlich auch eine Möglichkeit, sich Lektüre-Anregungen zu holen. Aus dem „Stillen Lese“-Kreis ist eine muntere Gesprächsrunde geworden. Ein Treffpunkt auch für schüchterne Lesende Seit dem Frühjahr gibt es am DAI in HD den „Silent Book Club“. Bibliotheksmitarbeiterin Ingrid Stolz war am Anfang eher skeptisch als sie von diesem neuen Trend aus den USA gehört hat: „Ich fand es am Anfang gar nicht interessant. Ich habe gar nicht eingesehen, warum man sich treffen sollte, um sein eigenes Buch zu lesen. Aber wir hatten dann eine Praktikantin, die sehr schüchtern war, und die sagte: ,Doch, das ist für die Schüchternen Leute und nicht jeder möchte im Book Club so viel reden und das ist in den USA der ganz große Hype!' Und dann hab ich gedacht, wir probieren es mal aus und das wird gut angenommen. Und es kommen ganz neue Leute, die sonst nicht unbedingt zu den anderen Sachen kommen." Inzwischen hat sich ein harter Kern aus Literaturbegeisterten gebildet, der regelmäßig teilnimmt. Aber es kommen auch immer wieder neue Interessierte dazu, wie Monika, die schon nach einem Abend ein echter Fan des „Silent Book Clubs“ geworden ist: „Ich fand’s super und der erste Gedanke war, endlich eine Stunde ungestört lesen. Ich merk einfach selber, dass ich mich zuhause oft schwer tute, nicht dann irgendwohin zu gucken, den Tee zu machen. Es ist vor allem interessant, was andere Menschen lesen, wie man sich wieder verbindet, wer welche Bücher kennt, die na mir völlig vorbeigegangen sind. Ich werde gern wiederkommen."…
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Neue Bücher von Liv Strömquist und Jovana Reisinger, einem Abgesang auf „Lolita“ und dem „Silent Reading“-Lesetrend
Giorgio Scerbanenco wurde als Vladimir Serbanenko in der Ukraine geboren. Ende der 1920er Jahre floh er mit seiner italienischen Mutter nach Italien. Dort wurde er zu einem der Begründer des modernen italienischen Krimis. Bereits mit seinem ersten Buch „Venere privata“ gab er dem Genre einen neuen Dreh. Innovativ wie die Romane ist auch die Comicadaption, die der Zeichner Paolo Bacilieri vorgelegt hat. „Private Venus“ heißt der Band. Ein Comic mit Bildern, die auch abgebrühte Krimi-Leser*innen tief verunsichern können. Die Krimigeschichte kennt viele ungewöhnliche Ermittlerinnen und Ermittler. Duca Lamberti ist einer besonders ungewöhnlicher. Auch im Gefängnis hatten ihm die Nachtstunden besonders zu schaffen gemacht. Er war zwar gewappnet, erwartete die Welle von Gedanken und Erinnerungen, aber wenn sie dann über ihn hereinbrach, erschütterte sie ihn doch jedes Mal stärker, als er befürchtet hatte. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Ein Arzt als Detektiv Duca Lamberti ist kein Kriminalist, sondern Arzt. Das heißt, er war Arzt, denn er hat während seiner Zeit als Klinikarzt einer totkranken, leidenden Patientin auf deren Wunsch eine tödliche Spritze verabreicht. Drei Jahre musste er dafür ins Gefängnis. Seine Zulassung wurde ihm entzogen. Er hatte alles falsch gemacht. Im Prozess hatten sie ihn gefragt, wie lange Signora Maldrigati gebettelt hatte, bis er einwilligte, ihr die tödliche Spritze zu geben. Er hätte vage bleiben sollen, sich nicht erinnern. Es war falsch gewesen genau zu antworten. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Was treibt ihn an, diesen Arzt ohne Approbation. Es ist schwer zu erraten und die Zeichnungen von Paolo Bacilieri machen es einem nicht leicht. Das Gesicht von Duca Lamberti dominiert den Band, seine großen, mal suchenden, mal entsetzten Augen, die Adlernase, der verdrießliche Mund. Viele gezeichnete Stimmungswechsel in einem Gesicht. War es reines Mitleid, das ihn zur Sterbehilfe getrieben hat? Oder mehr der Abscheu vor seinen ärztlichen Kollegen, die am Bett der Todkranken gefühllos ihren baldigen Tod vorhersagen? Ich komme gerade aus dem Gefängnis, habe ein Urteil wegen Mordes auf dem Buckel. Immerhin mildernde Umstände. Hätte man mich heute Morgen hier mit einem Toten gefunden, nach einem feuchtfröhlichen Abend mit zwei leichten Mädchen… Sie ahnen nicht, wie fantasievoll Journalisten, wie argwöhnisch Polizisten sein können. Man hätte den Arzt ohne Zulassung postwendend wieder eingelocht. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Die Krankheit ist die gesellschaftliche Gewalt Die Story beginnt mit der Entlassung von Duca Lamberti aus dem Gefängnis. Ein befreundeter Kommissar der Mailänder Polizei verschafft ihm einen Job. Er soll auf den erwachsenen Sohn eines Mailänder Unternehmers aufpassen, der ständig trinkt und schon bald einen Selbstmordversuch unternehmen wird. Doch der Arzt und Detektiv Duca Lamberti verbindet nicht nur aufgeschnittene Handgelenke. Er sucht nach den Ursachen der Krankheit. Und die Krankheit, mit der er es hier zu tun hat, ist keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche. Der Detektiv und Arzt will vordringen zu den tiefen Wurzeln der Gewalt in der italienischen Nachkriegsgesellschaft. Prostitution verstehen, heißt die Gesellschaft verstehen Diese Gewalt kommt in dem Band „Private Venus“ vor allem aus den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen. Seine Ermittlungen führen Duca Lamberti bald auf die Spuren eines internationalen Prostitutionsrings. Entscheidende Hilfe bekommt er von Livia Ussaro. Von einer jungen Frau, die nicht auf den Strich geht, um sich über Wasser zu halten, sondern weil sie Soziologin ist. Sie hat die These: Wer die Prostitution versteht, versteht auch die von Männern dominierte Gesellschaft. Hören Sie, allgemeine Fragen finde ich wirklich spannend, aber für meine Arbeit brauche ich mehr Details. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Livia bringt Duca Lamberti auf die Spur des Mörders, der zwei ihrer Freundinnen auf dem Gewissen hat. Sie wird der Lockvogel für einen, der gnadenlos mordet, um seine Geschäftsinteressen zu schützen. Der Mann, den wir suchen, arbeitet ganz anders, auf einem ganz anderen Niveau. Er sucht Mädchen mit einem gewissen Stil. Wahrscheinlich beliefert er erstklassige Edelpuffs in Italien und im Ausland. Genau wie ein Import-Export-Unternehmen. Quelle: Giorgio Scerbanenco, Paolo Bacilieri – Private Venus Zeichnungen, die tief verunsichern Es ist eine Schattenwelt auf der Rückseite des „Dolce Vita“ im Italien der 1960er Jahre, die der Krimiautor Giorgio Scerbanenco beschrieben hat und die der Comickünstler Paolo Bacilieri jetzt zeichnet. Die Prostituierte und Soziologin Livia durchschaut die Verhältnisse schneller und genauer als die Männer um sie herum. Das hilft ihr nichts. Alle Männer, auch der ermittelnde Arzt Duca Lamberti benutzen sie für ihre Interessen. Am Ende des Bandes schauen wir unvermittelt in ihr durch Messerschnitte entstelltes Gesicht – weit aufgerissene Augen und ein Schrei, der in dieser kalten Welt schnell verklingen wird. Dieses Bild ist ein gezeichneter Schockeffekt, aber die Verunsicherung, die dieser Comic erzeugt, ist viel subtiler. Paolo Bacilieri zeichnet das moderne Italien der Nachkriegszeit so, dass man sich in seinen Bildern nie sicher fühlen kann. Große Zeichnungen von Gesichtern und Körpern und Räumen und Straßen werden von kleinen Panels überlagert, die nur Details zeigen – eine fragmentierte Welt. Und auch die Sprechblasen gehen ständig ineinander über. Ein klares Gespräch in Rede und Gegenrede – unmöglich. Das Sprechen über die Welt – ein großes Durcheinander. In dieser Welt helfen nur kleine Schritte weiter. Giorgio Scerbanenco hat vier Krimis um den die Gesellschaft untersuchenden Arzt Duca Lamberti geschrieben. Man kann nur hoffen, dass der Zeichner Paolo Bacilieri sie alle zu Papier bringen wird. Schritt für Schritt.…
Scrollen Sie mal einen Tag durch Instagram oder TikTok! Oder stöbern Sie in dieser einen Ecke der Buchhandlung mit den bunten Covern und den markigen Sätzen, sie kennen sie sicher. Sie werden glücklich sein. Denn offensichtlich ist alles möglich. Ob das nun Erfolg im Beruf ist, der Traumpartner oder ein langes, gesundes Leben inklusive Marathon mit 87. Mit diesen zwölf Schritten, jenen neun Lebensmitteln – Stichwort Kurkuma! – oder mit ein bisschen Selbstdisziplin, natürlich. Übrigens, klicken Sie mal auf diesen Link, da sind die entsprechenden Tipps zu kaufen. Zum Sonderangebot! Die Comicautorin Liv Strömquist ist fasziniert von dieser Kultur der Selbstoptimierung. Strömquist meint im Gespräch: Diese Kultur gibt es schon lange, aber über die letzten Jahre hat sie mehr und mehr Leute erreicht, ist immer mehr zum Mainstream geworden. Und jetzt scheint irgendwie jeder in diese Art zu Denken verwickelt zu sein. Quelle: Liv Strömquist im SWR Kultur lesenswert Magazin Kein Drehbuch mehr fürs Leben In ihrem neuen Comicband „Das Orakel spricht“ geht Liv Strömquist auf knapp 250 Seiten vielen Beispielen nach. Zum Beispiel den Fitness-Tracker, die den Schlaf, das Cholesterin und den Blutdruck messen – und uns damit vorgaukeln, mit den richtigen Werten wären wir unsterblich. Oder den frauenfeindlichen Influencern der Manosphere, die überzeugt sind, ihre Alpha-Männer-Techniken würden sie unverletzlich in der Liebe machen. All die Dinge also, die uns glauben lassen, Leid, Tod und Schmerzen ließen sich mit ein bisschen Anstrengung und Planung aus dem Leben verbannen. Willkommen in der Postmoderne! Liv Strömquist sagt: „Die Zeit, in der wir leben, ist eine, die dem Ich viel abverlangt, denn das Ich muss ständig Entscheidungen treffen und die besten Entscheidungen treffen: Wer bin ich? Bin ich glücklich? Gibt es vielleicht etwas anderes, das mich glücklicher macht? Man hat nicht mehr wirklich ein Drehbuch dafür, wie man sein Leben leben soll. Deshalb die ständige Selbstbeobachtung, und das ist etwas, das wir viel mehr tun muss als frühere Generationen." Doch „Das Orakel spricht“ wäre kein typischer Liv Strömquist-Comic, wenn er bei der Diagnose stehenbliebe. Auf der Suche nach Antworten rührt Strömquist in sieben Kapiteln alle möglichen Ansätze zusammen. Philosophinnen wie Eva Illouz kommen zu Wort oder Soziologen wie Hartmut Rosa. Aber Strömquist greift auch auf die heilige Katharina von Siena, den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan oder antike Mythen zurück. Wer auch immer etwas zum Thema zu sagen hat. So sagt Strömquist: „Ich arbeite sehr intuitiv, das habe ich schon immer so gemacht. Wenn ich das Gefühl habe: ,Oh mein Gott, das ist so interessant', dann qualifiziert das eine Theorie dafür, in das Buch aufgenommen zu werden. Es muss also etwas Unerwartetes sein. Etwas, das mich aufregt und glücklich macht." Der Ratschlag wird zur Ware Wie eben das titelgebende Orakel von Delphi, für die Autorin die Urmutter aller Ratgeber und Influencer. Das Orakel war, soweit lässt sich archäologisch belegen, wohl berauscht von den giftigen Dämpfen aus einer Erdspalte, über der sein Tempel gebaut war. Strömquist meint: „Das Orakel von Delphi antwortete in einer Art Rätsel, denn es war high. Also sagte sie etwas, das sehr offen für Interpretationen war. Und das kann besser sein als ein Rat, der sehr konkret ist, der ist autoritärer. Die Person, die ihn bekommt, hat nicht viel Spielraum, für ihre eigene Perspektive, also den Rat so umzusetzen, wie es für sie Sinn macht. Im Ratgeber kreuzen sich bei Strömquist postmoderne Steuerungs-Fantasien und kapitalistische Verwertungslogik. Der Selfhelp-Guru ist die Figur der Stunde, ob es dabei um den richtigen Schlaf, die beste Ernährung oder Erziehung oder das Liebesleben geht. Die vermeintlichen Aufstiegsgeschichten der Gurus sind ihre Ware. Und gleichzeitig, so seziert Strömquist, die moralische Legitimation für den eigenen Reichtum, die eigenen Privilegien. Denn dass die Welt möglicherweise ungerecht, planlos, willkürlich sein könnte – diesem Horror müssen wir mit Anstrengung und Leistung begegnen. Etwas, von dem Liv Strömquist wundersamerweise verschont geblieben zu sein scheint: „Den Menschen wird oft gesagt, sie sollten sich Ziele setzen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht ein Ziel gehabt. Ich hatte nie das Ziel, Comiczeichnerin oder so etwas zu werden. Kreativität als Ausbruch Strömquist unterwandert mit ihren bunten Panels jeden Anspruch auf Wahrheit oder Autorität, den ihre Figuren vermarkten. Text und Bild sind lustvoll skeptisch gegenüber dem, was sie zeigen. Dabei sei sie keine begnadete Zeichnerin, gibt Strömquist unumwunden zu. Auch diese Geschichte erzählt sie mit zweidimensionalen, flächigen Panels, ihrem Stil bleibt sie treu. Form und Inhalt aber passen in „Das Orakel spricht“ besser zusammen als in ihren anderen Büchern. Nicht perfekt geführt, nicht geradlinig, sondern mäandernd bewegt man sich als Leserin durch den Comic. Und nimmt damit gleichzeitig am kreativen Prozess der Autorin teil – immerhin Widerstand im Kleinen. Es ist eher wie ein Spaziergang im Wald, bei dem man etwas findet und dann wieder etwas anderes, bei dem man etwas Schönes sieht und versucht, eine gewisse Stimmung zu erzeugen. Quelle: Liv Strömquist…
Das ändert sich mit der neuen Übersetzung im Ecco Verlag, die SWR Kulturredakteurin Kristine Harthauer durch die kalten Herbstwochen tragen wird.
Ich, Nina Wolf, düse an diesen langen, verregneten Herbsttagen lektüremäßig in den Weltraum. Genauer: Auf den kolonisierten Mars. Kim Stanley Robinsons „Marstrilogie“ bringt es insgesamt auf über 2700 Seiten. Die drei Bände „Roter Mars“, „Grüner Mars“ und „Blauer Mars“ sind mit diesem Umfang ein perfektes Endjahresleseprojekt. Erschienen ist der erste Teil dieser Science Fiction Reihe vor knapp 32 Jahren, 1992. Die Trilogie spielt in unserer nahen Zukunft. Band eins beginnt mit der Marsbesiedlung im Jahr 2026 und lockt mit der Verheißung einer vielschichtigen Geschichte – nicht nur eine technische Utopie, sondern auch ein soziales und politisches Experiment. Die Marsbesiedlung als letzter Ausweg der Erdbevölkerung, Umweltfragen, Ressourcenverteilung – Robinson verwebt utopische und dystopische Visionen miteinander. Und das nicht prognostisch, sondern deskriptiv. Science Fiction als Gedankenexperiment: Eine Methode, die Robinson sicher von Sci-Fi-Legende Ursula K. Le Guin gelernt hat, mit der der amerikanische Schriftsteller lange zusammen arbeitete. Mein Herbst- und Marsmission mit Kim Stanley Robinsons Trilogie lautet also: In eine Welt der möglichen und unmöglichen Zukünfte eintauchen und so vielleicht die Fragen der Gegenwart aus einer neuen Perspektive zu betrachten.…
Mysteriöse Kriminalgeschichten und geheimnisvolle Charaktere gehören für Katrin Ackermann genauso zu einem gelungenen Herbst wie Pumpkin Spice und die „Gilmore Girls“. Auf ihrem Stapel ungelesener Bücher liegt passenderweise der Psychothriller „Seltsame Sally Diamond“ der irischen Autorin Liz Nugent. Psychothriller mit kurioser Hauptfigur Seltsam – wie der Titel es vorhersagt – soll die Hauptfigur Sally deshalb sein, weil sie ihre Gefühle schlecht zum Ausdruck bringen kann, Ironie nicht versteht und in zwischenmenschlichen Situationen oft überfragt ist. Ihre kuriose Art hängt sicher auch mit ihrer Vergangenheit zusammen. Denn Sallys Vater war ein Kidnapper, der ihre Mutter entführte und in einem Versteck gefangen hielt, in dem Sally auch geboren wurde und die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte. „Entsorg mich mit dem Müll!“ Jahrzehnte später wird sie verdächtigt, ihren Stiefvater ermordet zu haben. Kurz vor seinem Tod hatte er ihr gesagt: „Entsorg mich mit dem Müll“. Dem geht Sally schließlich nach. Plötzlich interessieren sich jede Menge Menschen für sie – nicht nur die Polizei und die Medien, sondern auch ein mysteriöser fremder Mann, der Sally gut zu kennen scheint. Für Katrin Ackermann klingt das nach einer fesselnden und geheimnisvollen Geschichte mit einer spannenden Protagonistin. Die „Gilmore Girls“ müssen warten, zuerst geht es mit der Lektüre von „Seltsame Sally Diamond“ von Liz Nugent weiter.…
Ich bin Anja Brockert, und auf meinem Herbst-Stapel liegt „Der Zauberer“ vom Colm Tóibín . Der irische Autor erzählt das Leben von Thomas Mann als Roman, schon vor drei Jahren erschienen, jetzt werde ich es zur Einstimmung ins Thomas-Mann-Jahr lesen: 2025 wird ja der 150. Geburtstag des „Zauberers“ gefeiert. So wurde Thomas Mann bekanntlich von seinen Kindern genannt, Zauberer, und Tóibín erzählt natürlich von der ganzen Familie Mann, vor allem aber von der Zerrissenheit des Schriftstellers, zwischen künstlerischer Arbeit und Bürgerlichkeit, zwischen Familie und homosexuellem Begehren. Ein „großartiger Künstlerroman“, heißt es im Klappentext, manche von Ihnen haben das Buch vielleicht schon gelesen, falls nicht, das sind die ersten 3 Sätze: Seine Mutter wartete oben, während die Dienstboten den Gästen Mäntel, Shawls und Hüten abnahmen. Bis alle in den Salon geleitet worden waren, blieb Julia Mann in ihrem Zimmer. Thomas und sein älterer Bruder Heinrich und ihre Schwestern Lulu und Carlo sahen vom ersten Treppenabsatz aus zu. Quelle: Colm Toíbín – Der Zauberer Da sind wir doch gleich mittendrin im Ambiente der wohlhabenden Lübecker Kaufmannsfamilie, in der Thomas Mann Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen ist, und winken nicht auch leise die „Buddenbrooks“ im Hintergrund? Am Ende des Romans steht Thomas Mann wieder vor dem Lübecker Haus, das ist jetzt vernagelt. Über das ganze „Dazwischen“ – wie Thomas Mann zum legendären Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger wurde, seine Ehe mit Katia, das Exil, was ihn geprägt, geplagt und auch politisch bewegt hat, das wird mir Colm Tóibín in seinem Roman „Der Zauberer“ noch einmal erzählen, auf seine besondere, einfühlsame Weise. Hoffe ich.…
Dies ist ein Buch über Lustbefriedigung, über den Genuss, Begierde und Glamour – denn all das ist „Pleasure“ wie es in diesem Erkundungsbuch über das gute Leben steht: die Fähigkeit Genuss zu empfinden. Pleasure, sagt Jovana Reisinger, sei sehr individuell, kann aber grundsätzlich sehr viel, fast alles sein: „Einen sehr guten Kaffee trinken oder ein anderes tolles Getränk, etwas Tolles zu essen. Aber auch das Ausschlafen. Ich sag ja die ganze Zeit, mein größter Luxus ist es tatsächlich auszuschlafen, und zwar nicht im Sinne von sehr lange schlafen und dann irgendwie den Tag zu vertrödeln, sondern aufzuwachen ohne Wecker und tatsächlich ausgeschlafen zu sein. So wie ich auch sage, dass mein größter Luxus ist, in Ruhe arbeiten zu können und das wiederum befriedigt mich ja auch total, das heißt, das ist auch für mich Pleasure." Jovana Reisinger ist Single und will es auch sein. Sie ist selbstbestimmte Künstlerin und Autorin, sie liebt Events wie den roten Gala-Teppich, Partys, teure Restaurants, viele Liebhaber und vor allem Designer-Mode. Ich will die Liebe, den Sex, die Romanze, den Erfolg, die Selbstbestimmtheit, das Geld, die Sorglosigkeit, die Karriere, das Outfit, die Gesundheit, den Fame, die Geschenke. Ich will mich nicht dafür schämen müssen – weder dafür, dass ich über meine Grenzen gehe, um manches davon zu bekommen, noch dafür, dass ich manches davon bekomme, und es mich glücklich macht. Quelle: Jovana Reisinger – Pleasure Traum vom Reichtum Der Autorin war all das ursprünglich nicht mitgegeben. Aufgewachsen in einer Kulisse der Armut, wie es heißt, mit Eltern, die eine Dorf-Wirtschaft betrieben – träumte sie sich seit ihrer Kindheit in die Welt der Reichen, die sie aus den Medien kannte. Paris Hilton als das erste große Vorbild oder später Carrie Bradshaw aus der Serie Sex and the City: die schreibende Frau in High-Heels mit der Designer-Handtasche. Wer darf wie genießen? Das Buch ist deshalb auch das Zeugnis eines hart erarbeiteten Aufstiegs und eine Analyse von Klassismus. Es untersucht anhand von drei Kategorien – Kleidung, Essen und Schlaf – welche Form des Genusses für wen gesellschaftlich bestimmt ist. Welche sozialen Zuschreibungen finden sich in der Mode, in der Auswahl der Speisen und in dem Luxus der Erholung? Jovana Reisinger hat erlebt, dass Herkunft im Kulturbetrieb oft ein Grund für Abwertung ist. Bei einer Filmgala wird sie gefragt, was sie als Zitat „Prostituierte“ denn auf dem roten Teppich zu suchen hätte. Reisinger sagt dazu: „Also in dem Moment, wenn ich als Schriftstellerin, die ja durchaus ernst zu nehmende Bücher schreiben will - was auch immer das wieder bedeuten möchte – wenn die sich dann wiederum so anzieht, was als vulgär gelesen wird, dann passiert da auch wieder so eine Entwertung. Und genau in diese Lücken und genau in diese Spielräume, in genau die will ich rein. Und das wollte ich mir nochmal genauer angucken und deswegen wollte ich auch dieses Buch schreiben." Die Intellektuelle im Tussi-Look Verschiedenste Formen von Pleasure lassen sich also auch als Spielweise von unten begreifen, so will es das Buch verstanden wissen, bei der sich die normierenden Zuschreibungen unterwandern und neu definieren lassen. Im Tussi-Look klug und eloquent sein, Männer zu Objekten machen in Spitzenunterwäsche, mit viel zu langen Fingernägeln den Essay schreiben. So Reisinger: „Ich behaupte eben auch, dass es durchaus ein politisches Moment haben kann, eine politische Bewegung haben kann, wenn es nämlich von unten nach oben geht. Also, wenn diese Leute, die vermeintlich nicht dazu gehören sollen zum elitären Literaturbetrieb, wenn die dann aber diesen Platz einnehmen und in diesem Sinne schon für Ärger sorgen." Ausschweifung als literarische Performance Diesen Ärger oder die Irritation performiert auch der Text in gewisser Weise. Er ist raumnehmend und ausschweifend, redundant und regelrecht maßlos: in seiner unerbittlichen Aufzählung von Designer-Labeln, Handtaschen, Kleidern und Heels, Restaurantbesuchen, Textnachrichten von Lovern und Hotelaufenthalten. Demonstrative Übertreibung Der Glam, der Sex, die Übertreibung, die Oberflächlichkeit und die unentwegte Selbstinszenierung machen dieses Buch aus, das zwischen Essay und ausuferndem Genussbericht hin und her schwingt. Die Frau, die alles will - hier wird sie erlebbar und gibt sich auch preis. Insofern ist literarisch bewiesen, was auch eine These des Buches darstellt: die Frau in ihrem Hunger nach Pleasure kann eine Herausforderung sein, vor allem für die Männer. Meine Nägel sind fertig. Sie sind obszön, geschmacklos und hinreißend sexy. Vor allem aber sind sie ein Zeichen meiner Selbstfürsorge. In den 60 Minuten ihrer Produktionszeit gebe ich meine Hände ab, kann nicht arbeiten, nichts erschaffen, niemandem dienlich sein. Quelle: Jovana Reisinger – Pleasure Konsum für den Wohlfühl-Feminismus Was das Buch wenig reflektiert, ist der Preis der Ausbeutung und Ungerechtigkeit, die mit diesem Hunger nach Konsum, der Befriedigung schaffen soll, verbunden ist. Die Frau, die sich die Nägel machen lässt, verschafft sich Pleasure und Erholung. Die Frau, die die Nägel machen muss, fällt aus dem Bild. Ein neoliberaler Geist weht somit durch den Essay, denn das Buch „Pleasure“ fragt nie nach Allianzen, nach Solidarität, nach Koalitionen. Ein radikal individueller Wohlfühl-Feminismus mit Mitteln des Konsums wird zur Schau gestellt, der letztlich einer Ethik entbehrt. Auf dem roten Teppich stirbt jede Frau für sich allein.…
Mein Name ist Frank Hertweck, ich bin Leiter der Literatur im SWR. Und das Buch, das ich zur Lektüre, genauer zum Wiederlesen mitgebracht habe, sind die Dichtungen und Briefe von Georg Trakl. Wiederlesen, weil sicher die meisten im Deutschunterricht der Schule Georg Trakl gelesen haben, eben und vor allem seine Herbstgedichte. „Gewaltig endet so das Jahr“ heißt es im berühmtesten: Verklärter Herbst“. Trakl ist neben Rainer Maria Rilke sozusagen DER Herbstdichter. Bei ihm ist das, was den Herbst auszeichnet, der langsame Übergang, das Ineinanderfließen der Farben, das Nebulöse, nicht ganz scharf gezeichnete, immer mehr zum Prinzip seiner Dichtung geworden, weil er die Farben und Dinge so kombiniert, dass einem die Wirklichkeit entgleitet. Inwieweit seine Drogenabhängigkeit, die regelmäßige Einnahme von Opium, Veronal, Kokain, er betäubte sich mit Chloroform, alles Drogen oder Medikamente, an die der ausgebildete Apotheker leicht herankam, damit zusammenhängen, lässt sich schwer bestimmen. Eines ist sicher: Der Herbst ist in seinem lyrischen Schaffen gar keine Jahreszeit, sondern eine Lebenshaltung. Kurz: Es kann auch in seinem Sommer herbsteln. Diese Gedichte zu lesen und wieder zu lesen, dafür bieten sich die dunklen Abende an. Um auf Zeilen zu treffen wie: Leise verfallen die Lüfte am einsamen Hügel, Die kahlen Mauern des herbstlichen Hains. Unter Dornenbogen O mein Bruder steigen wir blinde Zeiger gen Mitternacht. Quelle: Georg Trakl – Dichtungen und Briefe…
Rund um Thomas Mann gibt es derzeit viele Jubiläen: „Der Zauberberg“, sein wohl bedeutendster Roman, ist vor exakt 100 Jahren erschienen. Und am 6. Juni 2025 gilt es dann, den 150. Geburtstag des Zauberers und Literatur-Nobelpreisträgers zu feiern. Ich muss gleich zwei Geständnisse machen. Erstens: Ich habe die klassische bundesdeutsche Thomas-Mann-Bildungskarriere durchlaufen. Mein Deutschlehrer verehrte Thomas Mann und ließ uns, Lehrplan hin oder her, sämtliche Erzählungen lesen. Und an der Universität geriet ich dann an den im Februar verstorbenen Germanisten Hermann Kurzke. Zwei enthusiastische Mann-Leser und Lehrer, deren Begeisterung auf mich abgefärbt hat. Geständnis Nummer zwei: Am „Doktor Faustus“ bin ich krachend gescheitert. Manns 1947 publizierter Roman über den Tonsetzer Adrian Leverkühn hat mich von jeher abgestoßen, von den ersten Zeilen an. Der komplizierte Satzbau, dieses hochtrabende Anheben, all die „Bewandtnisse“ und „Gegenwärtigungen“, der schwere deutsche Stoff – all das erschien mir fast wie eine unfreiwillige Selbstparodie eines großen Autors, ähnlich wie Thomas Bernhards letzter, vollkommen überschätzter Roman „Auslöschung“. Jetzt versuche ich es noch einmal mit dem „Doktor Faustus“: Der Audio Verlag hat Gert Westphals Lesungen der großen Romane Thomas Manns in einer Jubiläumsausgabe auf den Markt gebracht. Entstanden sind die Aufnahmen zwischen 1963 und 1993. Westphals intime Textkenntnis und sein feines Gespür für das Timing werden mir diesen Text nun endlich aufschließen. Hoffentlich. So werde ich in den Herbst und durch den Winter gehen, beim Autofahren, Geschirrspülen und im Fitness-Studio: Mit Gert Westphals Stimme im Ohr.…
Die Autorinnen Katja Lewina und Miriam Böttger im Gespräch (Aufzeichnungen vom 18. Oktober 2024 auf der ARD/ZDF-Bühne Buchmesse Frankfurt)
1 Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur | Buchkritik 4:09
Mit was sich so alles Zeit verschwenden lässt! Man kann als Alt-Hippie angenehm bekifft und bowlend die Tage vergammeln, in einen Morgenrock gehüllt tagein tagaus auf dem Sofa bzw. Bett liegen oder sieben Jahre lang in einem Schweizer Sanatorium einen ominösen Katarrh pflegen. Sie haben die Zeittotschläger, von denen hier die Rede ist, möglicherweise schon erkannt. Es handelt sich bei allen um fiktive Figuren aus dem Film und der Literatur – um den „Big Lebowski“ gespielt von Jeff Bridges, um Ivan Gontscharows bettlägerigen Helden „Oblomow“ und um Hans Castorp, der erst mit Beginn des Ersten Weltkriegs wieder von Thomas Manns „Zauberberg“ heruntersteigt. Anhand dieser und ein paar Figuren mehr führt uns die Medienwissenschaftlerin Michaela Krützen durch das weite Themenfeld der „Zeitverschwendung“. (…) was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt, sagt aus, wie diese Welt ist. Quelle: Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur „Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur“ lautet der Untertitel ihres umfangreichen Buches, das seinem Gegenstand mit detailgetreuen Nacherzählungen, genauen Analysen und theoretischem Überbau auf den Grund geht. Jedem Film und jedem Buch, jedem exemplarischen Gammler, jedem erbärmlich Wartenden und haltlosen Drifter stellt sie nämlich einen Theoretiker zur Seite, der nicht nur die jeweilige Figur erläutern helfen soll, sondern auch die spezifischen soziologischen und philosophischen Hintergründe, vor denen sich überhaupt von Zeitverschwendung sprechen lässt. Die Königin als It-Girl Um die Komplexität noch ein bisschen zu steigern, betrachtet sie manche Phänomene über Bande: So handelt das Anfangskapitel über Marie Antoinette und die aufwändigen Zeremonien am Hof Ludwigs XVI. nicht von der historischen Tochter Maria Theresias, sondern von jener Pop-Figur, die Sofia Coppola nach dem Vorbild der It-Girls der 2000er Jahre in ihrem Film über die Königin erschaffen hat. Zu ergründen versucht sie diese mit Norbert Elias‘ Studien zur höfischen Gesellschaft – was fast automatisch überleitet zu ihrem zweiten Gewährsmann, nämlich Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Kultroman „American Psycho“. Dieser Prototyp eines Yuppies und maßlosen Konsumenten, in dessen rauschhaften Killerfantasien die hyperkapitalistische Ideologie zu sich kommt und der nur noch so tut, als gehe er einer Arbeit nach, wird mit Pierre Bourdieus soziologischem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ als Lupe gelesen. Zeit entschlüsseln Vom Vergehen der Zeit und von wechselndem Zeitempfinden zu sprechen, braucht ebenfalls Zeit. Es geht immer auch um Verschiebungen in der Bewertung gesellschaftlicher Aufgaben und Verpflichtungen, um Fortschritt und Beharrung, politischen Aufbruch und Stillstand. Dabei schweift Krützen immer wieder zu anderen Kunstwerken und sogenannten „Verbindungsfiguren“ ab, um auf eine wesentliche Erkenntnis dieses Buches zusteuern zu können: Es gibt keine Zeitverschwendung; man kann Zeit lediglich als verschwendet bewerten. Quelle: Michaela Krützen – Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur Ein Mammutwerk, mit dem sich Zeit gewinnbringend verschwenden lässt Krützens Mammutwerk, mit dem sich Zeit ziemlich gewinnbringend verschwenden lässt, muss übrigens nicht chronologisch gelesen werden. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Aspekt der Zeitverschwendung oder einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Perspektive darauf; man kann nach Interesse hin- und herspringen. Ganz in die Gegenwart allerdings wagt sich Krützen nicht vor: Für die unmittelbare Erfahrung einer neuen digitalen Weltordnung von Social Media bis KI fehlen noch wirklich repräsentative Figuren in Literatur und Film. Möglicherweise aber ist gerade irgendwo eine Autorin oder ein Drehbuchschreiber dabei, eine solche Figur zu erschaffen. Zeitverschwendung hört niemals auf.…
Plautilla Bricci wurde 1616 in Rom in die Familie eines autodidaktischen Künstlers hineingeboren, der sie in Zeichnen und Malen unterwies und später die Akademie eines berühmten Malers besuchen ließ – zu der Zeit ein seltenes Privileg für eine Frau. Dass diese Künstlertochter dann nicht nur als Malerin tätig wurde, sondern auch eine Villa und eine Kapelle entwerfen und realisieren durfte, war hingegen unerhört: Plautilla Bricci war die erste Architektin Europas, womöglich die erste der Welt. Ich war glücklich. Ich dachte, den Höhepunkt meines Lebens erreicht zu haben. Nie hätte ich etwas Derartiges zu hoffen gewagt. Wie auch? Keine Frau vor mir hatte je ein derartiges Gebäude ersonnen. Ich weiß nicht einmal, ob eine Frau jemals gewagt hatte, davon zu träumen. Quelle: Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin … sinniert die Romanheldin beim feierlichen Spatenstich der Villa, die sie im Auftrag des Abtes Elpidio Benedetti entworfen hatte. Dass dieser später behaupten wird, die Villa sei ein Werk von Plautillas Bruder gewesen, konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht ahnen. Im Roman figuriert Elpidio auch als ihr heimlicher Geliebter und macht dabei eine ziemlich schäbige Figur. Aber nicht nur von ihm wird die Künstlerin zurückgesetzt, weil sie eine Frau ist. Der Fluch der Herkunft und des Frauseins Mit welchen Entbehrungen, Rückschlägen und Demütigungen die Laufbahn der realen Plautilla Bricci verbunden war – das können wird uns nur vorstellen. Genau diese Grauzone zwischen Einbildung und Wahrscheinlichkeit lotet Melania Mazzucco aus – offenbar auch auf der Grundlage eingehender Studien über die römische Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Ihre Plautilla ist schon als Kind ein zartfühlendes und neugieriges Wesen, das die Welt um sich genau beäugt. Als sie einmal der Aufsicht der Eltern entkommt und sich in den Gassen Roms verirrt, stellt sie fest: Bei jedem Schritt laufe ich Gefahr, dass mich eine Kutsche überfährt und mich plattdrückt wie eine Pizza. Denn ich stehe mit offenem Mund da und bestaune die Kutschen. Nur wer eine Kutsche besitzt, ist in Rom wer. Ich habe noch nie in einer gesessen, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, von oben herab die Straße zu betrachten und die Armen, die zu Fuß gehen. Vielleicht gerade so, wie wenn ich die Ameisen betrachte, die am Boden in Reih und Glied marschieren. Quelle: Melania G. Mazzucco – Die Villa der Architektin Ihr Lebtag lang wird Plautilla unter einer doppelten Ungerechtigkeit leiden: jener der niederen Herkunft und jener des Frauseins in einer Welt, die für Frauen nur die Rollen der Gebärerin oder der Nonne vorsieht. Für die Männer, die ihre Zuneigung erwecken, kommt sie als Braut nicht infrage, weil sie keine Mitgift zu bieten hat. Zugleich scheint ihre künstlerische Berufung ein Eheleben auszuschließen. So umweht diese Romanheldin eine zutiefst melancholische Aura: Ihre Zeit verdammt sie dazu, weder ihre Ambitionen noch ihr Gefühlsleben vollends zu verwirklichen. Eine Hommage an das barocke Rom Dennoch: Was wäre Rom ohne jenes Jahrhundert? Ohne Bernini, Borromini und all die anderen Künstler, in deren Umfeld Plautilla Bricci lebte und wirkte? Dieser Umstand gibt der Autorin Gelegenheit, Seitenblicke auf das Leben jener Meister zu werfen, auf den Alltag in Werkstätten, wo Kunstwerke für die Ewigkeit entstanden, auf höfische Intrigen und päpstliche Launen, von denen Aufstieg und Fall eines jeden Künstlers abhingen. So erschafft sie aus Worten ein vielschichtiges, farbenfrohes Gemälde: eine Hommage an den Barock, seine Genies und an Rom, dessen Schönheit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil ihr Werk ist.…
Judith Kohlenbergers Domäne ist die Migrationsforschung. Die „neue Härte“, die sie konstatiert, manifestiert sich in ihren Augen vor allem im Umgang mit geflüchteten Menschen: An den EU-Außengrenzen herrscht mittlerweile eine quasi rechtsfreie Zone. Durch Bürgermilizen, (vermummte) Grenzpolizei und die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die allesamt in Verdacht stehen, Treibjagden mit Hunden auf Geflüchtete zu veranstalten konnte sich entlang Europas Peripherie ein ,Gürtel der Gewalt‘ etablieren, der alles fernhalten soll, wovon die kontinentale Gesellschaft nicht berührt werden will. Quelle: Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte Abschottung funktioniert nicht Diese Brutalität, mit der sich das saturierte Europa das Elend der Welt vom Leib zu halten versucht, bringt gravierende Probleme mit sich, stellt Judith Kohlenberger fest. Zum einen funktioniert die Abschottung nicht – die Ankunftszahlen gehen nicht zurück – zum anderen verändert der offensive Mut zur Gefühllosigkeit auch die europäischen Gesellschaften selbst, so Kohlenberger, und zwar zu deren Nachteil: Was hat denn diese anhaltende, zunehmende Grenzgewalt vor allem der letzten zehn Jahre mit der Gesellschaft im Inneren gemacht? In der Art und Weise, wie wir unser Zusammenleben gestalten, nehme ich eine immer stärkere Verhärtung, einen stärkeren Rückzug ins Eigene bei gleichzeitiger Abwendung vom Anderen wahr. Und diese Abwendung vom Anderen, diese Abschottung und Härte gegenüber dem Anderen, die wurde an den Grenzen erprobt, eingeübt, kann man sagen – aber die hat sich fortgesetzt in andere Dimensionen unserer Gesellschaft. Quelle: Judith Kohlenberger Absolute Grenzenlosigkeit ist keine gute Idee Judith Kohlenbergers Buch ist ein Plädoyer für menschliche Zugewandtheit, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Neoliberalen Egozentrismus lehnt sie ebenso ab wie den neurechten Trend zur allumfassenden Fortifikation. Aber: Weichheit und grenzenlose Durchlässigkeit allein seien auch keine tauglichen Alternativen, betont die Kulturwissenschafterin: Dieses Buch ist weder ein Plädoyer für endlose Weichheit noch für grenzenlose Offenheit. Grenzenlosigkeit ist im Persönlichen wie im Politischen selten eine gute und nie eine gefahrlose Idee. Statt grenzenloser Offenheit braucht es ein realistischeres Konzept, um der neuen Härte zu begegnen. Die Eigenschaft, zugänglich zu sein, aber ohne dabei das Eigene über das andere oder das andere über das Eigene zu stellen. Offen und durchdringbar zu sein. Quelle: Judith Kohlenberger – Gegen die neue Härte Judith Kohlenberger formuliert in ihrem Buch ein demokratisches Grenz-Konzept. Statt Europa zur „Festung“ auszubauen, mehr noch als bisher, sollten die EU-Außengrenzen zum einen stabil sein, zum anderen aber Austausch und Fluktuation ermöglichen, etwa durch die Schaffung legaler Flucht- und Migrationsrouten: Ich sage immer, es braucht Durchlässigkeit an den Grenzen nach klaren Kriterien, wer kommen darf, wer bleiben darf – Kriterien, die gemeinsam erschlossen werden müssen, die gemeinsam auch aufrechterhalten werden müssen. Und wo klar nachvollziehbar ist für beide Seiten, wie denn Einreise und Ausreise gestaltet sind. Quelle: Judith Kohlenberger Weder starr noch nachgiebig Judith Kohlenberger ist überzeugt davon, dass sich Flucht und Migration deutlich besser managen lassen, als es die EU derzeit tut. Voraussetzung dafür sei allerdings eine „universalistische Empathie“. Von Abschottung und der aggressiven Abwehr von äußeren Einflüssen, wie es die Rechten und Rechtsradikalen fordern, hält Kohlenberger nichts. Übrigens auch auf individueller Ebene nicht. Leben heißt durchlässig sein. Weder starr noch grenzenlos nachgiebig, sondern beides gleichermaßen: hart und weich zugleich.…
Die Autorin und Performancekünstlerin aus Leipzig habe einen »klug choreografierter Roman«, geschrieben, so das Urteil der Buchpreis-Jury. Chats mit Love Scammern Es geht in dem Buch um eine Performancekünstlerin und Tänzerin aus Leipzig, die tagsüber ihren an Multiple Sklerose erkrankten Partner pflegt und nachts mit Liebesschwindlern, sogenannten Love Scammern, chattet. Wir haben die Preisträgerin auf der Frankfurter Buchmesse getroffen und erfahren, wie sie mit der neuen Aufmerksamkeit umgeht und für was sie das Preisgeld einsetzen möchte.…
1 Anne Applebaum: „Um zu verhindern, dass Rußland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen – und zwar nicht nur für die Ukraine“ 5:38
Eine illusionsfreie Sicht auf Rußland nach der Krimannexion 2014 hätte vielleicht den Krieg 2022 verhindern können. Ein „Nie wieder“ bedeutet gerade nicht einen Frieden um jeden Preis, sondern einen Einsatz für Friede und Freiheit.
Selten wurde so viel über ein Gastland vor Beginn der Frankfurter Buchmesse diskutiert wie dieses Jahr: Italien präsentiert sich unter dem Motto „Verwurzelt in der Zukunft“. Prominente Autoren wie den Mafia-Experten Roberto Saviano gehörten allerdings nicht zur offiziellen Delegation. Saviano war aber trotzdem da, eingeladen von seinem deutschen Verlag Hanser. Mit dem SWR Kultur lesenswert Magazin hat er exklusiv gesprochen. Roberto Saviano betont: „Die Deutschen müssen sehr aufmerksam die italienische Situation beobachten.“ Denn es könne durchaus sein, dass die Zukunft Deutschlands so werde wie die Gegenwart in Italien. Und die Deutschen müssten sehr aufpassen, dass sie nicht in diese Richtung gingen. Wie politisch aufgeladen war der Messe-Auftritt Italiens? Darüber sprechen wir mit der Italien-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karen Krüger. Und Italien ist nicht nur das Land großer Romane, sondern hat auch eine ganz eigene Comic-Kultur. Gerade erschienen ist der Band „Die große Illusion“ von Alessandro Tota, der in Comicbildern die Comicgeschichte erzählt. Unser Buchtipp. Friedenspreis an Anne Applebaum Beendet wurde die Buchmesse am Sonntag mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Der geht dieses Jahr an die amerikanische Philosophin Anne Applebaum. Wofür sie steht, darüber sprechen wir mit SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck. Deutscher Buchpreis an Martina Hefter Den Auftakt zur Buchmessen-Woche bildete die Verleihung des Deutschen Buchpreises. Der geht dieses Jahr an die Leipziger Autorin Martina Hefter und ihr Buch „Hey guten Morgen, wie geht es Dir?“. Laut der Buchpreis-Jury ein „klug choreografierter Roman“ über moderne Heiratsschwindler. Wir sprechen mit der Preisträgerin. Neu auf der Messe: eine ganze Halle für New Adult New Adult-Bücher – also Bücher für junge Erwachsene, meist über pikante Themen wie Liebe und Sex – sind der Renner unter jungen Leser*innen. Besonders auf TikTok sprechen sie begeistert über Romanfiguren und Plots. Und dekorieren ihre Zimmer mit den farbenfrohen Covern. Ein großer Markt, das haben die Verlage erkannt und jetzt auch die Frankfurter Buchmesse. Die stellt zum ersten Mal der jungen Literatur eine eigene Halle zur Verfügung. Nina Wolf schaut sich dort um. Fazit nach der Messe-Woche Wie war sie nun, die 76. Frankfurter Buchmesse? Wir ziehen Bilanz mit SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte. Und wir fragen die Besucher*innen: Wann und wo lest ihr am liebsten? Denn eine neue Studie des Statistischen Bundesamts zeigt, dass wir uns weniger Zeit zum Lesen nehmen als noch vor zehn Jahren. Durchschnittlich 27 Minuten in Deutschland pro Tag. Was hingegen stieg, ist die Fernsehzeit. Die beträgt durchschnittlich zwei Stunden und vier Minuten. Das muss sich ändern, finden die Besucher*innen der Buchmesse.…
1 Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt. Debatten von draußen bleiben auf der Frankfurter Buchmesse außen vor 9:41
Auch SWR Kultur Literaturredakteur Carsten Otte beobachtet auf dieser Frankfurter Buchmesse, dass zunehmend weniger Journalisten und Medien sich für den Stand der Ukraine und deren Veranstaltungen während der Messe interessieren: „Das ist zwar verständlich aufgrund all der anderen Konflikte. Aber es ist auch grauenhaft. Denn wir haben es hier nicht nur mit einem blutigen Konflikt zu tun, sondern auch mit einem Angriff auf eine Sprache, eine Kultur.“ Ein Roman, der mit literarischen Mitteln dagegen ankämpft, sei der dritte Teil des „Amadoka-Epos“ von Sofia Andruchowytsch, den Carsten Otte begeistert empfiehlt.…
New Adult auf 8000 Quadratmetern Freitagnachmittag, viele junge New Adult Fans warten vor der Halle 1.2. Im Vorjahr brachte die Menge die Messehallen regelrecht zum Überlaufen, meint Dr. Torsten Casimir, Pressesprecher der Frankfurter Buchmesse: „Wir haben im vergangenen Jahr schon gemerkt, dass an denjenigen Verlagsständen, die für diese Zielgruppe auch Angebote haben, der Andrang so groß war, dass wir auf der verfügbaren Hallenfläche kaum noch gut organisieren und abbilden konnten.“ Nach den Besuchertagen im vergangenen Jahr sah sich die Frankfurter Buchmesse mit scharfer Kritik konfrontiert. Nun soll mit der neuen New Adult Halle ein Raum für die junge Leserschaft geschaffen werden, der auch eine Bühne für Diskussionen, Lesungen, Signierstunden und interaktive Fan-Aktionen bietet. Große Wartebereiche, Platz für Signierstunden und lange Warteschlangen Das sei zielgruppengerecht gedacht, so Casimir: „Was man da beobachtet, ist eine junge Leserschaft, die sich nicht nur verhält wie Lesende, sondern wie Fans. Die suchen die Nähe zu denjenigen Autorinnen und Autoren, die sie gerne lesen und die sie bewundern. Und diese Bewegung, die den Buchmarkt in Deutschland, aber auch in vielen anderen Buchmärkten stark wachsen lässt und stark belebt, geben wir einen großen Raum.“ Groß ist das Stichwort: Im Vergleich mit dem Angebot in den anderen Messehallen fällt auf, dass die Gänge im neuen New Adult Bereich extra breit gehalten wurden. Es gibt ausladende Relax-Zonen und Sitzareale. Vieles läuft online: Für Signierstunden und Fantreffen gibt es ein neues digitales Warteschlangen-Konzept. Publikumstickets gibt es nur vorab im Netz zu kaufen. Erfolg mit Dark Romance: Jane S. Wonda und das „Wondaversum“ Um die Stände, die einen besonders großen Andrang erwarten, ist viel Platz für das Schlangestehen eingeplant. Einer davon ist das „Wondaversum“. Die Münchnerin Jane S. Wonda ist Dark-Romance-Autorin, Verlagsgründerin und eine Größe in der Szene. Das „Wondaversum“ betreut am Messewochenende ein 20-köpfiges Team. Wonda selbst ist gespannt, wie ihre Fans das neue Konzept aufnehmen: „Man wird dann bei TikTok diese Videos dazu anschauen können, was denn die Blogger für die Fachbesuchertage sagen und was die Leser vom Wochenende sagen.“ Die gigantischen Dimensionen sind symbolisch für den Erfolg des New Adult Genres. Ob Romance, Fantasy, Dark Romance, queere Liebesromane oder Romantasy – die Nachfrage ist riesig. Die New Adult Community ist nicht nur auf der Suche nach Begegnungen mit ihren Lieblingsschriftstellerinnen, sondern auch nach den neuesten Trends. In vielen neuen Verlagsprogrammen vertreten: „Sports Romance“ – Liebesromane mit sportlichen Protagonisten. Besonders beliebt: Eishockey-Spieler als Love Interests. Viele schöne Bücher, Messeeditionen und schicke Farbschnittausgaben Die kaufkräftige Leserschaft legt Wert auf besondere Messeeditionen ihrer Lieblingsromane oder auf schicke Farbschnittausgaben. Im New-Adult-Kosmos ist vieles auch eine Frage des geschickten Marketings. Das weiß auch Jane S. Wonda, es ist Teil ihres Erfolgskonzepts: „Man muss natürlich als Selfpublisher auch schauen: Was sind die Trends? Was ist das Marketing? Gerade wenn man mit Social Media arbeitet. Jeder Influencer schaut, was passiert da eigentlich. Und das kann ich, denke ich, schon relativ gut in meinen Alltag so integrieren, so dass ich da immer up to date bin. Das war also auch ein bisschen Glück, weil auch dieses Genre von Amerika kommend verlangt wurde, sozusagen dieser Strom und das in Deutschland niemand bedient hat. Und dann konnte ich da Fuß fassen, sozusagen.“ Eine neue, junge Zielgruppe für die Frankfurter Buchmesse Mit der neuen Halle will die Frankfurter Buchmesse auch eine neue und jüngere Zielgruppe für den Buchmarkt gewinnen. So sagt Torsten Casimir: „Man kann ja nicht mit dem Publikum, das schon seit 20, 30 und noch mehr Jahren zur Buchmesse kommt und treu jedes Jahr wieder da ist, gemeinsam alt werden und dann war es eine schöne Zeit. Sondern man muss ja eben auch schauen, dass Buchmärkte auch nachwachsende Leserinnen-Generationen ansprechen. Und dabei müssen auch wir als Frankfurter Buchmesse - und wollen auch - behilflich sein. Das gehört eigentlich zur DNA der Frankfurter Buchmesse, das keine der anderen gleicht. Es passiert jedes Jahr irgendetwas Neues.“ Die drei Säulen der Messe: Publikumsveranstaltung, Fachmesse und Plattform für demokratischen Austausch Trotzdem: Ganz zur Publikumsveranstaltung möchte die Frankfurter Buchmesse nicht werden. Das sei nur eine der Säulen, die die Messe ausmachen. Auch ein wichtiges Element: Das Literaturagenten Zentrum in dem mit Buchrechten gehandelt wird. „Und unsere dritte Säule, über die wir bislang noch nicht gesprochen haben, bleibt ebenfalls ganz wichtig. Wir werden sie nicht kleiner werden lassen. Wir sind eine Plattform für den demokratischen, freien Austausch, für Freedom of Speech, Freedom of Publishing. Hier werden die Debatten geführt, auch die aktuellen Debatten, die uns weltweit beschäftigen,“ betont der Pressesprecher. Studiengänge rund ums Buch Zurück in Halle 1.2. In der Mitte der Halle ändert sich das räumliche Erscheinungsbild: Keine mit Blumen dekorierten Stände. Keine rosaroten Bücherwände. Keine New Adult Bühne. Keine Drachen, keine Romantik. Ein großer Bereich für die schnörkellose Wissenschaft: Aussteller präsentieren hier Ausbildungsberufe und Studiengänge rund ums Buch. Die Betriebe nutzen den New Adult Hype, um die neuen Buchbegeisterten in der Branche zu professionalisieren. Torsten Casimir weiß: „Wir möchten sie natürlich auch auf mittlere Frist an uns binden und als Kolleginnen und Kollegen bei uns haben, weil wir glauben, dass hier die alten Frauen und Männer, die eher zur Boomer-Generation gehören, anders als diese Millennials und die Jüngeren, die Dinge, die da draußen passieren, nicht mehr gut genug verstehen und nicht mehr schnell genug darauf reagieren.“ New Adult auch in Halle drei Die räumliche Abspaltung des New Adult Angebots ist also nur rein praktisch gedacht. Im Geiste möchte die Frankfurter Buchmesse die verschiedenen Lesegenerationen näherbringen. Trotzdem, einige Romance-Big-Player wie der LYX Verlag der Bastei Lübbe sind weiter in Halle drei untergebracht. Egal wo auf dem Messegelände: Um die New-Adult-Community führt kein Weg vorbei.…
SWR Kultur: Welche Eigenschaft, welche Charakteristik der Regierung Giorgia Meloni ist aus Ihrer Sicht die größte Gefahr für die italienische Demokratie? Roberto Saviano: Viele Dinge. Es ist so, dass diese Regierung systematisch Leute angreift und attackiert und es so unmöglich macht, noch frei zu sprechen. Die Situation entwickelt sich hin zu einer autoritären Verwaltung innerhalb eines demokratischen Staates. Das Sicherheitspaket, das die Regierung ausprobiert hat, erschwert es beispielsweise zu protestieren und verhindert, dass man frei sprechen kann. Was die Intellektuellen betrifft, hat Meloni mich zum Beispiel vor Gericht gestellt. Da zeigt sich ein systematischer Angriff auf Intellektuelle, die sich exponieren, indem sie Stellung beziehen. Das versetzt die italienische Demokratie in Alarmbereitschaft. SWR Kultur: Sie haben auf der Buchmesse gesagt, dass sich die Deutschen auch für die Schattenseiten Italiens interessieren. Interessieren sie sich denn auch für die Schattenseiten Melonis? Roberto Saviano: Die Deutschen müssen sehr aufmerksam die italienische Situation beobachten. Denn es kann durchaus sein, dass die Zukunft Deutschlands so wird wie die Gegenwart in Italien. Und die Deutschen müssen sehr aufpassen, dass sie nicht in diese Richtung gehen. Europa unterschätzt die Regierung Meloni. Sie halten sie für eine einfache konservative Regierung. Dabei ist es eine rechtsextreme Regierung, die die Institutionen manipuliert. Europa muss also aufpassen, dass das nicht zu anderen herüber schwappt. Im Moment hat Europa noch eine Zukunft, denn Italien zeigt, wozu die extreme Rechte fähig ist. SWR Kultur: Die italienische Kultur und vor allem die italienische Literatur hat nach 1945 eine klare antifaschistische Tradition. Wie gefährdet ist diese Tradition? Roberto Saviano: Sie ist sehr in Gefahr. Denn die Strategie dieser Regierung ist es, nicht den Faschismus in seiner Gesamtheit neu zu bewerten. Sie will antifaschistisch sein. Und antifaschistisch zu sein bedeutet, bestimmte Elemente aus der faschistischen Erfahrung zurückgewinnen zu können, ohne der Komplizenschaft bezichtigt zu werden. Sie nehmen einige Elemente des Faschismus und führen diese in die jetzige Gesellschaft, aber eben, ohne dass es dabei auffällt, dass sie faschistisch sind. SWR Kultur: Der Jurist und Mafiajäger Giovanni Falcone wurde 1992 ermordet. Das war eine Zeit großer politischer Umwälzungen in Italien, und 1994 war dann Silvio Berlusconi an der Macht. Hat damals etwas begonnen, dessen Ergebnis wir heute erleben? Roberto Saviano: Falcone hat die Welt verändert und das ist keine Übertreibung. Denn wenn heute irgendwo in der Welt Strukturen von organisierter Kriminalität bekämpft werden, dann nach seiner Methode. Nur leider haben seine Methode und seine demokratische Strenge auch in der Justiz heute in Italien nicht sehr viele Erben. SWR Kultur: Danke für ihre Zeit! Roberto Saviano: Ich danke Ihnen!…
1 „Die Autorinnen lassen sich keinen Maulkorb verpassen“. FAZ-Journalistin Karen Krüger über Gastland Italien auf der Buchmesse 8:24
Italien ist das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und man würde wirklich gern über italienische Literatur sprechen und über die vielen Bücher, die zur Buchmesse auf Deutsch erschienen sind. Das Problem ist nur: Die italienische Kulturpolitik, die ganz im Zeichen der neofaschistischen Regierung von Giorgia Meloni steht. Karen Krüger, Italien-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, moderierte einige Veranstaltungen mit italienischen Autor*innen auf der Buchmesse. Der Faschismus ist nicht vergessen Sie sagt, nur weil einige der Autor*innen auf der offiziellen Gastland-Bühne saßen, hätten sie sich „keinen Maulkorb“ verpassen lassen. Was viele aber schon beunruhige, sei das Motto das Gastlandes: „Verwurzelt in der Zukunft“. „Viele hatten das Gefühl, vielleicht soll uns da doch irgendwie gesagt werden, dass der Faschismus nicht doch so vergessen ist, wie man uns das Glauben machen möchte“, so Krüger.…
Marlene Dietrich sitzt vor dem Grand Hotel Excelsior am Lido in Venedig – in Gesellschaft ihres Entdeckers, Förderers und Liebhabers Josef von Sternberg. „Der Blaue Engel“ hatte Dietrich den Weg nach Hollywood geebnet, und als die Nazis um sie warben, blieb sie standhaft und kehrte nicht zurück nach Deutschland, obwohl ihr Stern in den USA schon zu sinken begann. Sie hatte nicht die geringste Lust, eine zweite Leni Riefenstahl und eine Trophäe von Reichsminister Goebbels zu werden. Es ist das Jahr 1937. Und da geschieht etwas, das ihr Leben in den darauffolgenden Jahren prägen wird: Ein gut aussehender Mann trat an den Tisch der beiden. Die Haare streng zurückgekämmt, leuchteten unter einer hohen Stirn zwei blaue Augen. Lebhaft, mit einem Schuss Melancholie, strahlten sie die Weltläufigkeit und Empfindsamkeit eines Gentlemans aus, der nicht durch ein Erbe, sondern eigene Arbeit zu Wohlstand gekommen war. Quelle: Thomas Hüetlin – Man lebt sein Leben nur einmal Der Hass auf die Nazis verbindet Der schmucke Mann heißt Erich Maria Remarque. Mit „Im Westen nichts Neues“ hat er einen Weltbestseller gelandet. Auch wenn er sich nicht als politischen Autor begreift und sich nicht engagiert, hasst er die Nazis und wird von diesen gehasst. Marlene Dietrich ist fasziniert von Männern, die etwas hermachen. Ihre Liste mit Liebhaberinnen und Liebhabern ist lang, aber mit Remarque verbindet sie mehr. Es war ein anderes Deutschland, das dieser Mann verkörperte. Ein Deutschland der Großzügigkeit. Nicht des Größenwahns. Quelle: Thomas Hüetlin – Man lebt sein Leben nur einmal Eine Amour fou, die sich gewaschen hat Was nun in diesem Jahr 1937 beginnt, ist eine Amour fou, die sich gewaschen hat. Der Autor und Journalist Thomas Hüetlin erzählt davon, als wäre er seinerzeit bei den Champagnerorgien oder den Schlafzimmergefechten dabei gewesen. Die Diva und der Intellektuelle sind beide getrieben. Billy Wilder attestierte Dietrich die „romantische Unreife einer 16-Jährigen“, die zuweilen „seelische Leberwurstbrote“ brauchte, wie sie selbst schrieb. Weder Dietrich noch Remarque scheren sich um Konventionen, alles Bürgerliche ist ihnen ein Graus. Sie lieben und fetzen sich. Mal bekocht sie ihn mütterlich mit deftigem Gulasch, mal ignoriert sie seine Liebesbotschaften wochenlang. Marlene verschleißt einen Liebhaber nach dem nächsten, aber auch Remarque hält nichts von Monogamie. Untreue gebe es gar nicht, konstatiert er. Marlenes Ehemann Rudi kümmert sich um die Organisation der komplizierten Liebesarrangements der Schauspielerin; er ist meist mit von der Partie, wenn sie zwischen Amerika und Europa hin- und herreist und neue Intimitäten sich anbahnen. Remarque, der am Hochstaplersyndrom leidet und zugleich selbstbewusst das Glamouröse sucht, zieht sich immer wieder ins Tessin zurück – um zu schreiben oder schmachtende Liebesbriefe nach Hollywood zu senden. Das kann alles nicht gut gehen. Tut es auch nicht. Leidenschaft und Beziehungsschlacht sind immer nur einen Wimpernschlag voneinander entfernt. Er nannte sie ein ‚ekelhaftes Biest‘, sie schimpfte ihn einen ‚Provinztölpel‘. Quelle: Thomas Hüetlin – »Man lebt sein Leben nur einmal« Ein lohnender Blick durchs Schlüsselloch Die Geschichte dieses berühmten Liebespaares, das nach dem Krieg auch räumlichen Abstand voneinander nimmt, ist nicht unbekannt. Thomas Hüetlin erzählt sie anhand von Tagebucheinträgen und Briefen noch einmal neu und vor dem Hintergrund der Geschehnisse in Nazideutschland. Der dräuende Krieg und der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Nachbarn – das alles bildet die Folie, auf der die beiden ihre dramatisch-amourösen Szenen aufführen. Sie sind sich der politischen Umstände sehr bewusst – zugleich leben sie privilegiert in einem parallelen Kosmos, in dem das Ringen um Glück, die Schönheit der Melancholie und das Suhlen im Kummer mindestens ebenso viel Raum einnehmen wie die Verzweiflung über die Weltlage. Ob die Komposition des Buches – Hüetlin springt zwischen den Jahren und Schauplätzen munter hin und her – nicht nur originell, sondern zwingend ist, sei dahingestellt. Manchmal meint es Hüetlin ein wenig zu gut mit seiner Innensicht. Wenn er auf der Bettkante Platz nimmt, geht auch schon mal der Schmonzetten-Autor mit ihm durch. Aber fesselnd ist die Lektüre zweifellos, man sieht schon die Verfilmung vor sich.…
Bunt und schwungvoll gezeichnet nimmt „Die Adoption“ die Lesenden in Empfang. Zusammen mit den beiden Hauptfiguren Wajdi und seiner neuen Mutter Gaëlle betreten wir ein Haus mit großem Garten. Am Eingang der Junge aus dem Jemen, klein, dünn, immer Angst und Misstrauen im Blick. Drinnen die Mittelschichts-Familie, gut gekleidet, selbstsicher, geborgen in ihrem Idyll. Bilder und Dialoge verströmen die für franco-belgische Unterhaltungs-Comics typische Munterkeit. Auch im zweiten Band ihrer Reihe über Auslandsadoptionen lassen der Autor Zidrou und der Zeichner Arno Monin Welten aufeinanderprallen. Diesmal sind die Farben blasser, die Linien etwas schärfer gezogen als im ersten Teil. Denn ihre Hauptfigur, der zehnjährige Wajdi, ist tief traumatisiert. Er hat seine Familie verloren und Tausende Kilometer Flucht hinter sich. Seine neuen Eltern Gaëlle und Romain wollen ihm Gutes tun. Und freuen sich über ein drittes Kind. Doch Wajdi bleibt auf Distanz. Was seine neue Mutter nur schwer erträgt. Yusra: Und sonst ... Läuft alles gut? Hat sich Ihr Sohn schon ein bisschen eingewöhnt? Gaëlle: Mein S... Ach ja, Wajdi! (zögerlich:) Wie Sie sehen, hat er eine recht ausgeprägt Neigung, sein Revier zu markieren! Er ist mitunter etwas wild. Aber mit der Zeit wird sich das geben. Ich vermute, dass das Leben in den Flüchtlingslagern, wo er die letzten zwei Jahre verbracht hat, nicht immer leicht war. Quelle: Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi Ein traumatisiertes Kind in einer Mittelschichts-Idylle Wie einsam Wajdi sich fühlt, zeigen Autor und Zeichner in Szenen, die in der Nacht spielen, getaucht in kühles Blau. Wajdi ist schlaflos, er streift durchs Haus, während seine tote Mutter und seine Schwester als Geister durchs Fenster zu ihm hereinblicken. Oder er wälzt sich im Bett, eine winzige Gestalt im Panorama seines großen Zimmers. Solche Bilder, die ohne Worte viel erzählen, wechseln sich ab mit Episoden aus Wajdis Alltag. Er wird neu eingekleidet, lernt das Umfeld der Familie kennen. Doch immer wieder zeigt die Normalität Brüche. Wajdi reagiert auf Verhalten, das für seine französische Umgebung zum Alltag gehört, mit Gewalt. Bis hin zur Eskalation, als er rassistisch beleidigt wird. Es waren zwei Erwachsene nötig, um ihn daran zu hindern, dass er weiter auf diesen armen Jungen einschlägt. Das war keine Prügelei, (...), das war Krieg. (...) Wir haben diesen Jungen aufgenommen, wir schenken ihm ein Zuhause, wir schenken ihm all unsere Liebe ... und wie bedankt er sich dafür... ‚Er hat sein halbes Leben in der Hölle verbracht?‘ Tja, also seine Hölle hat er jetzt mit zu uns gebracht. Quelle: Zidrou und Arno Monin – Die Adoption: Wajdi Hier klingt der zentrale Konflikt an. Gaëlle sieht sich in ihren Erwartungen ans harmonische Familienleben enttäuscht. Da erstaunt es nicht, dass sie ein paar Seiten später die Adoption rückgängig machen will. Zidrou und Monin entlarven ihre Zuwendung als Bedürfnis, sich selbst aufzuwerten. Die Geschichte nimmt noch einmal Fahrt auf, als Wajdi aus seinem neuen Zuhause flieht. Die Adoption als Versuch, sich selbst aufzuwerten Spätestens hier entgleitet Autor und Zeichner ihre Geschichte. Sie erzählen von Fremdheit und den Erwartungen wohlhabender Europäer, von Alltags-Rassismus und gleich von mehreren Generationenkonflikten - immer im Bemühen, auch Momente von Komik und Rührung einzuflechten. Dabei bleiben die Bilder glatt und realistisch, nirgends findet sich eine optische Überraschung. Allein, dass Wajdi immer wieder seine tote Familie wie Figuren auf Porträt-Fotografien sieht, erinnert daran, was ein Comic mit nur einem Bild auszudrücken vermag. Aber die Frage, ob oder wie es dem Jungen vielleicht gelingt, trotz seiner Wut und Trauer in die neue Familie hineinzufinden, gerät Autor und Zeichner aus dem Blick. Am Ende geht es vor allem um Gaëlle und ihre Suche nach Wajdi, um ihr Verständnis von Mutterschaft. So flüssig sich „Die Adoption“ liest und so sehr man sich für Wajdi ein Happy End wünscht - es ist etwas zu glücklich und kommt nach all den Konflikten zu schnell. Die vielen kleinen Herzen, die sich über das letzte Bild ziehen, decken zu, was noch lange nicht gelöst ist.…
Neapel ist die erste große europäische Stadt, die vom Faschismus befreit wird. Am 1. Oktober 1943 treffen die Amerikaner dort ein. Und bringen die „Pest“. Es ist eine Krankheit, die nicht den Körper, sondern die Seele zersetzt. Das faschistische Italien hat den Krieg mit den Deutschen „ruhmreich verloren“, wie es höhnisch heißt, um ihn an der Seite der Alliierten doch noch zu gewinnen. Neapel verwandelt sich in ein modernes Sodom und Gomorrha. Jede Frau scheint sich für eine Schachtel Zigaretten zu prostituieren, Väter bieten ihre Töchter für eine Dose corned beef den stämmigen Schwarzen Soldaten feil, die in der vorzüglichen Neuübersetzung von Frank Heibert nun nicht mehr mit dem N-Wort benannt werden. Aber ungeachtet der sprachlichen Korrektur: Es sind grelle, abgeschmackte, aber auch literarisch packende Szenen. Diese ekelhafte Haut Der Titel „Die Haut“ steht für die schlichte Tatsache, dass Menschen in Kriegszeiten vor allem eins zu retten versuchen: ‚Heute leidet und foltert man, mordet und stirbt, aber nicht mehr, um die eigene Seele zu retten, sondern nur, um die eigene Haut zu retten. (…) Diese ekelhafte Haut, seht Ihr?‘ Während ich dies sagte, kniff ich mit zwei Fingern die Haut auf dem Handrücken zusammen und zog sie hin und her. Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut Irritierend und faszinierend ist der Aggregatzustand des Romans zwischen festen Tatsachen, flüssiger Kriegs-Kolportage und gasförmiger Phantastik. Soll man es denn glauben, dass noch während der Kämpfe die „sehnsüchtigen Scharen“ der Homosexuellen ganz Europas ihren Weg durch die deutschen Linien finden, um in Neapel mit den amerikanischen Soldaten Party zu machen? Unter dem Vulkan Soll man es glauben, dass zu allem Übel der Vesuv ausbricht, auch wenn das Inferno so anschaulich beschrieben wird, als wäre Malaparte einst schon in Pompeji dabei gewesen? Man muss wohl, denn im Frühjahr 1944 fand tatsächlich der letzte Ausbruch des Vulkans statt, bei dem achtzig Bomber der US-Air Force zerstört wurden. Und so stellt man es erst gar nicht in Frage, wenn Malaparte den banausischen O-Ton eines amerikanischen Generals wiedergibt, der beim Einmarsch in Rom erstmals das Kolosseum zu Gesicht bekommt: ‚What’s that?‘ schrie General Cork. ‚Das Kolosseum!‘, erwiderte ich. General Cork stand in seinem Jeep auf uns musterte das gigantische Skelett des Kolosseums lange, schweigend. Dann schrie er zu mir, einen Hauch Stolz in der Stimme: ‚Unsere Bomber haben gut gearbeitet, Malaparte!‘ Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut Der „Clash“ der Zivilisationen wird als große Komödie inszeniert. Neapel, die „geheimnisvollste Stadt Europas“, ist für Malaparte, den mit allen Sümpfen vertrauten Moralisten, jedoch nicht zu begreifen mit hygienischer amerikanischer Vernunft. Poetik der Verunsicherung Der Erzähler setzt das europäische Grauen in Szene, etwa in den Beschreibungen erhängter Juden in der Ukraine, gespenstisch wispernd im „schwarzen Wind“, oder bei der Schilderung der Höllenqualen der phosphorverklebten Menschen im bombardierten Hamburg. Für Malapartes dunkle Komik steht dagegen das Kapitel über ein Abendessen bei General Cork, wo die Gäste durch die aufgetischte Speise stark verunsichert werden: Zum ersten Mal sah ich ein gekochtes, ein gesottenes Mädchen: und ich schwieg, von heiliger Ehrfurcht ergriffen. Alle um den Tisch waren bleich vor Entsetzen. Quelle: Curzio Malaparte – Die Haut „In Wahrheit“ handele es sich um einen seltenen, im Aquarium von Neapel gefangenen Sirenenfisch. Die Poetik der Verunsicherung hat Malaparte in dieser genialen Szene allegorisch verdichtet: Ist es ein Fisch? Ist es ein Mädchen? „Die Haut“ wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt, die Stadt Neapel verhängte einen Bann über den Autor. Heute liest man das fesselnde Buch als düstere Zeitdiagnose und Meisterwerk wahrhaftiger Übertreibungskunst.…
Seit fast drei Jahren schienen die Europäer von allen guten Geistern verlassen: Zu Millionen brachten sie sich gegenseitig um, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Da trat der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ans Rednerpult des Reichstages und warb für den Frieden. Ich halte es für die Pflicht aller klar und ruhig Denkenden in allen Ländern, dieses Spiel, das da mit Völkerleben gespielt wird, aufzudecken! Den Regierungen aller Länder zuzurufen: Es ist genug! Quelle: Philipp Scheidemann Der Frieden spricht selbst Philipp Scheidemann brachte auf den Punkt, was Erasmus von Rotterdam genau 400 Jahre zuvor geschrieben hatte: in seiner Klage des Friedens. Auf gut 70 Seiten lässt Erasmus den Frieden selbst sprechen, in der ersten Person Singular. Der Friede argumentiert auf drei Ebenen: Aus Sicht eines kühl berechnenden Menschen sei es unsinnig, Krieg zu führen - denn ein Krieg koste auch den Sieger nur Geld. Aus ethischer Sicht erklärt Erasmus den Krieg für verwerflich – denn nicht einmal Tiere ein und derselben Art brächten sich gegenseitig um. Vor allem aber argumentiert Erasmus auf Basis des Neuen Testaments mit seinem Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Wenn jemand Krieg führe - was habe er dann noch beim Abendmahl zu suchen? Darf jemand wagen, zu jenem heiligen Tisch heranzutreten, zum Mahle des Friedens, der einen Krieg gegen Christen plant und sich anschickt, die zu vernichten, für deren Rettung Christus gestorben ist? Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens Aggressoren rechtzeitig vorbeugen Ausgewichen ist Erasmus freilich der Frage, warum denn christliche Länder Krieg etwa gegen muslimische führten. Kein Wort dazu – nicht einmal der Hinweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu selbst gegenüber den Menschen, die ihn seinerzeit schroff ablehnten. Wie sich ein Land verhalten solle, das von einem anderen angegriffen wird – dazu bleibt Erasmus schmallippig: er wünscht sich, der Aggressor möge in die Schranken gewiesen werden. Noch besser aber, wenn man frühzeitig vorbeugt: Die höchste Ehre erweise man denen, die einen Krieg verhindert und die Eintracht wiederhergestellt haben – schließlich auch dem, der alle Hebel in Bewegung setzt nicht dafür, daß er eine riesige Streitmacht auf die Beine stellt, sondern dafür, daß er ihrer gar nicht bedarf. Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens Krieg sei also zu verhindern, konstatiert Erasmus, indem man zwei, drei Schritte vorausdenke: Wo könnte sich künftig Konfliktpotential zusammenbrauen – und wie macht man diesen Zündstoff möglichst schnell unschädlich? Auf Gegenwart übertragbar Auf heutige Denkansätze der internationalen Politik übertragen, redet der ziemlich pragmatische Erasmus gerade nicht einem blinden Idealismus das Wort – der würde im Interesse seiner hehren Grundsätze mit dem Kopf durch die Wand wollen. An solche Staatslenker, die sich partout im Recht glauben, wendet sich Erasmus unmittelbar: Meinst du vielleicht, es falle dir ein Zacken aus deiner Krone, wenn du eine Rechtsverletzung nachsiehst? Nein, im Gegenteil, es gibt keinen zwingenderen Beweis für eine niedere und ganz und gar unkönigliche Gesinnung, als Rache zu üben. Wenn nun der Frieden irgendeinen in deinen Augen ungerechten Punkt zu enthalten scheint, so denke ja nicht gleich: Das und das verliere ich, sondern: Um diesen Preis erkaufe ich den Frieden. Quelle: Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens Erasmus' Ansatz lässt sich also bis in die Gegenwart weiterspinnen: hin zum Neorealismus - einer Denkrichtung, die unter dem Eindruck der beiden Weltkriege entstand. Neorealismus kalkuliert ein, dass Staaten nun einmal gegensätzliche Interessen haben. Er versucht, sie auszubalancieren, bevor es zu spät ist. Wohl der beste Weg, um die unübersichtliche Welt von heute zu befrieden. Und da erscheint die Klage des Friedens des Erasmus von Rotterdam in dieser modern übersetzten Neuedition vielleicht genau zur richtigen Zeit.…
Das lesenswert Magazin mit neuen Büchern von Richard Powers, Sibylle Berg und George Saunders. Und wir gratulieren Han Kang für die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis.
Ja – try praying – versuch doch, zu beten, spottet Sibylle Berg. Es ist sozusagen das Letzte, was wir noch tun können im Endzeitmodus, den sie seit Jahren schon in ihren Werken nachzeichnet: Klimakatastrophe, Terror, Wirtschaftskrise, digitale Überwachung. Ihre Gebete dieses Mal: Gedichte. Ein freier Tag, ein leerer Tag, die Straßen, die Häuser tot, das Leben klein, das Licht zu hell, die Angst so groß, allein, allein in der Stadt an einem Tag wie feuchte Watte Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Wir kennen das: Bei Frau Berg wird gegähnt, geschuftet, gehasst, gestorben, getötet – in den dunkelsten Farben, die die Sprache in petto hat. Für ihren fiesen Ton kann man sie lieben Mit ihren Figuren hat sie kein Erbarmen. Das ist auch in ihrer Lyrik nicht anders. Da überfährt die Tram die trauernde Witwe, der Freund wird im Schrank gefesselt nicht dass er von dem Glück wegrennt Quelle: Sibylle Berg – Try Praying oder eine frustrierte Person gibt sich Gewaltfantasien hin: Ich säble euch die Knie ab. Ich steppe froh auf eurem Darm. Ich press euch das Gesicht ins Grab. Weil ich dann gute Laune hab. Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Für ihren fiesen Ton kann man Sibylle Berg lieben. Der hat etwas Schroffes, Echtes, auch erschreckend Welterkennendes. Die erzählerische Wucht, die ihr auf Romanlänge gelingt, funktioniert in ihrer Lyrik allerdings mäßig. Hier fehlt ihr offenbar der Raum, entscheidenden Kontext oder Atmosphäre mitzuliefern, was uns beim Lesen helfen könnte, ihr zu folgen. Vielleicht ist auch das formale Korsett schlichtweg zu eng für sie. Das liest sich wie eine ereignislose Fahrt im Pointen-Karussell. Nur manchmal springt ein Funke über. Etwa beim „Trennungsgedicht“: Der Durst ist nicht mit Tee zu stillen, wir sitzen fern – dazwischen leer. Da könnte man nicht drüber schwimmen, wir sind uns keine Insel mehr Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Im Kreis der liebenswerten Looser Es sind gescheiterte, durchweg einsame Gestalten, die diese Gedichte bewohnen. Vom abgestumpften Pflegepersonal, über ausgebrannte Mitarbeiter digitaler Großkonzerne, bis hin zum vergessenen Angelshop-Verkäufer. Einmal bringt Berg es einfach, aber treffend auf den Punkt: „Menschen mit dem Menschenmist“. Und das könnte eine wunderbare Erkenntnis aus dieser Lektüre sein – im Prinzip ohnehin der Schlüssel zum Werk Sibylle Bergs: Wir alle fühlen uns mitgemeint in diesem Kreis der liebenswerten Loser. Doch die Gedichte lassen einen bedauerlicherweise eher kalt. Und so wirkt der letzte Eintrag, der Hidden Track, dann auch eher wie eine Selbstoffenbarung mit Mittelfinger: Muss Sieger sein, mit aller Macht – nicht angerührt, nicht ausgelacht, auch nicht bedrängt und kleingemacht. Ich werde meinen Körper stählen, fickt euch ins Knie und gute Nacht! Quelle: Sibylle Berg – Try Praying Sprachlich überzeugt nur ein Teil der Gedichte Die Ausbeute ist mau: Unter den 40 Gedichten sind höchstens eine Hand voll wirklich gelungen. Mitunter sind die Beiträge sprachlich so gar nicht auf Bergs eigentlichem Niveau: ungelenke Sätze, schiefe Reime, eintöniges Vokabular. Fast könnte man meinen, sie will die Gattung Lyrik als solche ironisieren. Schade eigentlich.…
Wird die kleine Insel noch einmal zum Spielfeld internationaler Investoren? Vor dieser Frage stehen die 80 Bewohner von Makatea, mitten im Pazifischen Ozean. Bis in die 1960er-Jahre wurde dort rücksichtslos Phosphat abgebaut. Nun könnte eine Basis für ein gigantisches Wohnprojekt auf dem Meer entstehen: Es kann der Insel einerseits Wohlstand bringen, sie gleichzeitig aber tiefgreifend verändern. Die Bewohner sollen über das sogenannte „Seasteading“, den Bau von schwimmenden Wohn- und Lebensstätten auf dem Meer, abstimmen. Fragen für den gesamten Globus Das ist die Rahmenhandlung von Richard Powers‘ Roman „Das große Spiel“. What do you choose? … Of course, Makatea’s political crisis is our political crisis. It is the question of the entire globe. Quelle: Richard Powers im Gespräch Wofür entscheidest du dich? Für ein Krankenhaus und eine Schule? Für ein komfortableres Leben? Oder möchtest du, dass die Insel sich weiterhin erholt von den Folgen des früheren Rohstoffabbaus? Das ist die politische Herausforderung. Makateas politische Krise ist unsere Krise. Es die Frage für den gesamten Globus. Quelle: Richard Powers im Gespräch Das Monster Kapitalismus zeigt sich in Richard Powers Roman in verschiedener Gestalt: In den „Seasteading“-Plänen, in den verlassenen Minen auf der Insel, im Plastik-Müll, der an den Stränden von Makatea liegt. Und ebenso in der Welt, aus der Todd Keane, eine der Hauptfiguren, stammt. Er ist ein Pionier der Computer-Technologie und mit der Entwicklung von Software stinkreich geworden. An einer unheilbaren Krankheit leidend diktiert er einer KI die Lebensgeschichte – eine Erzählebene im Roman. Faszination fürs Programmieren Richard Powers sagt, Todd Keane sei in vieler Hinsicht ein Alter Ego. Wie er stammt auch diese Figur aus der North Side von Chicago. His family is much wealthier than my family… We see it as something holy new meaning of the world. Quelle: Richard Powers im Gespräch Seine Familie ist viel wohlhabender als meine. Wir waren eher Eindringlinge in der North Side. Ich habe mich immer wie ein Spion gefühlt. Wir beide teilen aber auch den frühen Traum, dass wir die Welt unter Wasser erforschen können. Und es gibt eine Verbindung, die mit dem Beginn der digitalen Revolution zusammenhängt. Wie ich war Keane total fasziniert vom Programmieren. Für uns war das eine komplett neue Bedeutung der Welt. Quelle: Richard Powers im Gespräch Später studiert Todd Keane – wie Richard Powers – an der University of Illinois, in Downstate. Ebenso Rafi Young, die zweite Hauptfigur. Er ist Schwarz und stammt aus dem Süden Chicagos, aus einer prekären Welt. Als kleiner Junge wird er von seinem Vater zum Lesen gedrillt, daraus erwächst aber eine große Liebe zur Literatur. Rafi besucht, keineswegs selbstverständlich für ein Kind seiner Herkunft, eine private katholische Schule und lernt dort Todd kennen. Sie werden Freunde und fanatische Schach- und Go-Spieler. „Das große Spiel“ erzählt auch von der Faszination des Spielens. In some ways their intellects are very different… the embrace of an irrational and unconscious that Rafi becomes dedicated to. Quelle: Richard Powers im Gespräch Vom Intellekt her unterscheiden sie sich in einigen Punkten. Todd tendiert zum Technologischen, er profiliert sich in der Informatik. Rafi ist zuallererst ein Humanist. Es ist auch ein Wettstreit zwischen zwei unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt. Hier die technologische und rationale Ordnung. Und dort die Welt der Gefühle, der Selbstbeobachtung, der Kunst. Rafi widmet sich dem Irrationalen und Unbewussten. Quelle: Richard Powers im Gespräch Die Freundschaft zwischen Rafi und Todd zerbricht eines Tages, das Spiel der beiden gegeneinander geht derweil weiter und führt zu den „Seasteading“-Plänen. Pionierin der Ozeanologie Zwei weitere Figuren – und ihre Lebensgeschichten – sind mit diesem Duo verbunden: Ina Aroita, Bildhauerin, Rafis Frau, sie und ihre Kinder leben auf Makatea. Und Evelyne Beaulieu, seit der Kindheit begeisterte Taucherin. Sie zählt zu den Pionierinnen der Ozeanologie und war an den berühmten Tektite-Forschungsmissionen 1969 und 1970 beteiligt. We, humans, live in just the tiniest fraction of the biosphere… If we really want to understand what life on earth is like, we have to say: it is an ocean planet. Quelle: Richard Powers im Gespräch Wir Menschen leben im kleinsten Teil der Biosphäre. Die Geschichte, deren Teil wir sind, seit unvorstellbar langer Zeit, ist zum größten Teil eine Geschichte der Ozeane. Wenn wir wirklich verstehen wollen, was das Leben auf der Erde bedeutet, müssen wir sagen: Es ist ein Ozean-Planet. Quelle: Richard Powers im Gespräch Evelyne Beaulieu, 92 Jahre alt, lebt auf Makatea. Auch sie soll abstimmen über die Zukunft der Insel. Mit ihrer Geschichte, inspiriert durch die Biographie der amerikanischen Ozeanographin Sylvia Earle, führt Richard Powers seine Leserinnen und Leser hinab in die Tiefe des Meeres, ins Herz der großen Ozeanmaschine, auf die Hauptbühne des Lebens, wie es heißt in „Das große Spiel“. Ein vielschichtiger Roman, der daran erinnert, wie beeindruckend dieses Reich unter Wasser ist. Und ebenso daran, dass wir uns sorgen müssen um die Zukunft dieses übergroßen Teils der Erde.…
Schon das Eröffnungsbild von Markus Thielemanns Roman hat etwas Verwunschenes, beinahe Biblisches: Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte. Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner Der Mann, hinter dem sich eine große Schafherde versammelt hat, ist in Wahrheit gerade einmal 19 Jahre alt. Jannes heißt er. Kurz darauf rollt tatsächlich von Norden her der Donner über die Landschaft. Doch weder der Hirte noch seine Herde reagieren nervös auf das bedrohliche Geräusch, weil sie es kennen: Es ist das Explodieren der Panzermunition, die auf dem nahe gelegenen Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird, seit vielen Jahrzehnten bereits. Idylle mit Rissen Dieser Auftakt steht sinnbildlich für den gesamten Roman, in dem alles mindestens doppelt codiert ist und in dem der donnernde Wagner‘sche Götterzorn, die Ästhetik von schauerromantischen Caspar David Friedrich-Szenen und nächtens durch die Landschaft geisternde Frauengestalten bis zur Unkenntlichkeit mit der Gegenwart verschmelzen. Das macht den Reiz von Markus Thielemanns Roman aus – dass er Mythos und Realität nicht als Gegensatzpaar darstellt, sondern das eine als folgerichtige Konsequenz des anderen atmosphärisch stimmig inszeniert. Jannes lebt auf einem Drei-Generationen-Hof in der Lüneburger Heide. Dem Großvater Wilhelm gehört das Land; die Großmutter ist dement und im Heim; auch Jannes‘ Vater Friedrich zeigt erste Ausfallerscheinungen. Der traditionelle Familienverbund zeigt Risse, wie auch die vermeintliche Landschaftsidylle. Thielemann hat seinen Roman geografisch exakt lokalisiert: Der Hof der Familie liegt zwischen Unterlüß und Faßberg. Faßberg ist eine NS-Siedlung. Das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen ist 25 Kilometer entfernt. Das gesamte Terrain ist durchzogen von Sperrgebieten und Truppenübungsplätzen. Vermintes Gelände in jeder Hinsicht. Zugleich aber ist die Heide ein großes touristisches Geschäft; ein deutsch aufgeladener Sehnsuchtsort, den Großvater Wilhelm in einem Interview mit einer NDR-Journalistin entzaubert: Wir sind am Ende auch nichts anderes wie einfache Bauern. Unsere Ernte im Sommer sind die reichen Knacker aus den Städten. Abgerechnet wird hier doch in Kaffeefahrten. Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner Wölfe und Heimatschützer Markus Thielemann hat sich ungeheuer viel vorgenommen für einen noch nicht einmal 300 Seiten dicken Roman – und das meiste davon funktioniert. Er beschreibt Strukturwandel und den inneren Konflikt eines jungen Menschen zwischen Bindungen und Aufbruch. Er zeigt in seinem an Zeichen und Spuren reichen Buch, wie fortgeschriebene deutsche Mythen in die Gegenwart hineinwirken: Der Wolf ist in der Gegend unterwegs. So genannte Heimatschützer rüsten auf, um die Scholle zu verteidigen. Das von den Neonazis genutzte Wolfsangel-Symbol taucht da und dort auf. Es erstarkt, wir schreiben das Jahr 2015, eine so genannte Professorenpartei, die die Stimmung in der Bevölkerung erspürt – heute weiß man, wohin das geführt hat. Und nicht zuletzt hat Jannes selbst Visionen von einer Frau; einem Gespenst, das ihm immer wieder in Nächten auf der Heide begegnet und das mit einem lange verschwiegenen Familiengeheiminis zu tun hat. Als eines seiner Tiere eine Fehlgeburt hat, wittert Jannes den Einfluss höherer Mächte: Spuk, denkt Jannes, und erschaudert, betrachtet die verformten Wesen im Stroh. Hier stimmt etwas nicht. Eine tiefe Gewissheit überkommt ihn. Es hat mit ihr zu tun. Sie hat ihn verflucht. Quelle: Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner Hin und wieder verfängt Thielemann sich in seinen Ambitionen. Dann verschwimmen in diesem Roman die Grenzen zwischen moderner Spukgeschichte und Geisterbahn. Trotzdem: „Von Norden rollte ein Donner“ ist ein ungewöhnliches, kluges und literarisch hoch interessantes Buch.…
„Verdrängung“ ist einer der zentralen Begriffe in Sigmund Freuds Psychoanalyse: ein Abwehrmechanismus, mit dessen Hilfe Gedanken und Gefühle, die wir als schmerzhaft oder unangenehm empfinden, aus dem Bewusstsein gedrängt werden. Darauf bezieht sich Sebastian Moll mit seinem Begriff einer „Architektur der Verdrängung” - auch auf Freuds Diktum „der Mensch sei nicht Herr im eigenen Haus“. Zum anderen meint „Architektur der Verdrängung“ den Wiederaufbau der Stadt Frankfurt am Main nach dem Prinzip tabula rasa. Es wurde so ziemlich alles gesprengt und abgerissen, was nach dem Krieg noch stand. Für die Verarbeitung all dessen, was geschehen war, war das katastrophal. (...) Nur wenn die schmerzhafte Erinnerung Teil eines neuen Lebens, eines neuen Alltags wird, können die seelischen Narben allmählich heilen. Quelle: Sebastian Moll – Das Würfelhaus Gefühle im Keller Sebastian Moll beschreibt auch das Reihenhaus, in dem er Kindheit und Jugend verbrachte, das titelgebende Würfelhaus in Langen bei Frankfurt. Es ist neu, nüchtern, äußerlich ohne jede Spur der Vergangenheit. Aber aus dem Keller dringt die Nazi-Nostalgie des Vaters bis ins vorzeigbare Wohnzimmer, dessen Bücherregal mit Werken von Böll und Grass zeitgemäß bestückt ist. Heinz Moll, in seiner Jugend Flakhelfer und glühender Hitlerverehrer, später leitender Angestellter bei einer Frankfurter Wohnungsbaugenossenschaft, hat sich unter der Erde eine Art Kriegsdevotionalienaltar eingerichtet, darauf Kameradenbriefe, Landser-Heftchen, Pornomagazine. Die Fotos früherer Freundinnen hängen ordentlich gerahmt an der Wand. Sebastian Moll: Und das hat mich dann eben anhand unseres Reihenhauses interessiert, weil ich da ja an der eigenen Person erlebt habe, wie sich trotz dieser rationalen Oberfläche das Unterbewusste sein Recht sucht. Quelle: Zitat von Autor Sebastian Moll Die Wiederauferstehung eines Gespensts Das Psychoanalytiker-Paar Margarete und Alexander Mitscherlich, das Sebastian Moll häufiger zitiert, hatte 1967 das epochemachende Buch über die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“ veröffentlicht. Nur Verdrängung war möglich. Es gibt viele Bücher über die Bürde der Generation der Kriegsenkel, der Boomer, zu denen auch der Autor gehört. Aber dieses hat einen neuen Ton: Es ist ehrlich, offenherzig, ratlos, traurig. Im Grunde kann Sebastian Moll nicht begreifen, wer sein Vater war. Als Kind genießt er es, mit ihm zusammen sportliche Männerabenteuer zu bestehen. Aber Sebastian war erst zwölf, da führt der Vater seine junge Geliebte zum ersten Mal ins Haus der Familie und befiehlt seinem Sohn, sie vor den Augen der Mutter zu entkleiden. Die Mutter beginnt zu trinken. Es ist die totale Erniedrigung meiner Mutter, in die ich als Komplize eingespannt werde. (...) Die Szene war zweifellos nur ein Ausschnitt aus einer andauernden sadomasochistischen Vierecksbeziehung, die meine Mutter immer tiefer in Alkohol und Verzweiflung trieb (...) Weitere Szenen geistern noch diffus und verschwommen in meinem Unterbewusstsein herum. Sie zu bergen und zu schärfen, habe ich jedoch weder den Mut noch die Kraft. Es bleibt zu viel, eine lebenslange Überforderung, eine Monstrosität, die verdaubar, Teil meines bewussten Ich zu machen, mich kapitulieren lässt. Quelle: Sebastian Moll – Das Würfelhaus Als Sebastian sich allmählich aus der Familie „extrahiert“ – wie er es nennt – verstößt ihn der Vater. 30 Jahre nach dessen Tod will Sebastian Moll „Das Würfelhaus“ verkaufen. Die Auflösung führt ihn erneut in den Vaterkeller. Er schaut noch einmal ganz genau, ob er vielleicht doch etwas übersehen hat, ob er etwas findet, was die Leerstelle füllen könnte. Das Ergebnis ist dieses kluge, traurige, anrührende Buch. Sebastian Moll hat es geschrieben im Wissen, nicht allein zu sein mit seiner Vatersuche. Ich glaub, die Suche, die hört nie auf und die Auseinandersetzung damit. Das ist vielleicht auch ein bisschen der Fluch unserer Generation. Quelle: Zitat von Autor Sebastian Moll…
Sie sind ein mythisch vorbelastetes Paar, wie es gegensätzlicher nicht scheinen könnte. Jupiter ist schwer an Multipler Sklerose erkrankt und auf Rollstuhl und Pflegebett angewiesen; der Radius seiner Bewegungen wird immer kleiner. Juno dagegen ist der verkörperte Bewegungsdrang. Tanzperformance und Ballett sind ihr Lebenselixier. Während Jupiter im Nebenzimmer der ramponierten Leipziger Altbauwohnung starr liegt, macht Juno auf der Matte unermüdlich ihre Dehn- und Kraftübungen, und noch immer könnte sie die Nächte in Clubs durchtanzen, wenn sie als Frau über Fünfzig dabei nicht merkwürdig angesehen würde. Frauen über Fünfzig und ihre Sehnsüchte – das ist wiederum das Geschäftsmodell von Benu. Er ist einer jener Love-Scammer in afrikanischen Internet-Cafés, die sich über die sozialen Medien mit blumigen Komplimenten und falschen Identitäten in die Herzen und Konten liebebedürftiger Europäerinnen schleichen. Den Lügner belügen Auf Instagram bekommt Juno ständig solche Kontaktanbahnungsversuche. Sie fühlt sich provoziert von der billigen Masche der emotionalen Kaperfahrer und macht sich in ihren schlaflosen Nächten einen Spaß daraus, sie mit ebenso verlogenen Antworten zu irritieren, bis die Scammer abtauchen. Benu aber ist anders. Er führt den Kontakt weiter, auch nachdem die Illusion geplatzt ist. Wie hast du das gemerkt mit dem Scammen? Wer kann so etwas ernst nehmen. Owen Wilson aus der Ukraine, und dein albernes Profilbild. Das ganze Geschnulze auch noch. Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? Es ergibt sich ein intensives Zwiegespräch, bei dem Junos Misstrauen langsam aufweicht. Bald wechseln die beiden zu Whatsapp und Videotelefonaten. Benu sitzt dabei oft im Kerzenschein, weil in seiner nigerianischen Stadt ständig der Strom ausfällt. Und irgendwann bekennt er seine Liebe; echt jetzt. Juno ist fassungslos. Eine Dreiecksgeschichte anderer Art „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ ist ein zeitgemäßer Text für das Instagram-Zeitalter. Und zugleich liegt diesem Roman eines der ältesten Erzählmuster überhaupt zugrunde, allerdings auf ganz neue Weise interpretiert: die Dreiecksgeschichte. Eine Frau zwischen zwei Männern, was hier heißt: zwischen dem fernen Scammer und dem nahen Sklerotiker. Bei letzterem ist aber weniger von Beziehung als von Betreuung die Rede. Jupiter hätte Grund, sich zu beschweren: Dass Juno mit einem fremden Menschen ausgiebig chattete, mit ihm aber oft nur ein paar hastige Sätze tauschte. Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? Aber Jupiter weiß nichts von Benu. Und dann ist da noch eine dritte Liebe, nämlich die zu sich selbst und zum eigenen Körper, dessen lange, schöne Beine mehr als einmal hervorgehoben werden. Nur im narzisstischen Genuss des Tanzes ist Juno ganz bei sich selbst: Eigentlich schauspielerte sie nur dann, wenn sie nicht auf einer Bühne stand. Da spielte sie, ein normaler Mensch zu sein. Quelle: Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir? Der Text als Performance Die Erzählerin greift nach den Sternen und hadert mit der Schwerkraft der Verhältnisse. Es ist ein kleines Wunder, dass sich das alles zu einer plausiblen Konstellation zusammenfügt: Beschreibungen des oft nicht barrierefreien Alltags mit einem schwerkranken Partner, Reflexionen über Tanzprojekte, Tätowierungen oder Lars von Triers Film „Melancholia“, Erinnerungen an die eigene Kindheit in den Bergen, frühe Erfahrungen von Ausgrenzung sowie ein bisweilen allerdings plakatives Nachdenken über Postkolonialismus, Rassismus, Ausbeutung. ChatGPT wäre überfordert, all diese Zutaten zu einer halbwegs stimmigen Romanhandlung zu verknüpfen, aber Martina Hefter gelingt es, und zwar deshalb, weil sie eben nicht an einem Plot entlangschreibt, sondern den Text selbst als eine Art Performance entwickelt. Als Tanz der Themen und Motive, mit Anmut und Würde und Humor auch in den heiklen Momenten. Man ist gefesselt von dieser eigenwillig welthaltigen Autofiktion bis zur letzten Seite.…
Samar Yazbek, geboren in eine wohlhabende alawitische Familie, widmet ihr Leben und ihr Schreiben schon lange dem Leiden des syrischen Volks. Beharrlich dokumentiert sie dessen Unterdrückung und die Gräueltaten durch das Assad-Regime. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Wo der Wind wohnt“, der uns in die letzten Stunden eines 19-jährigen Soldaten namens Ali versetzt. Es ist nur ein kleines Blatt. Durch seine verklebten Wimpern kann er es unter der Mittagssonne nicht sehen. Nur das Blatt eines Baumes, nichts weiter. Grün und an den Rändern ausgebuchtet, liegt es wie ein Vorhang über seinen Augen, wenn er langsam und unter großer Anstrengung die Lider bewegt. Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt Zwischen Leben und Tod, Traum und Realität Es sind die ersten Jahre des syrischen Bürgerkriegs, und Alis Patrouille ist soeben in den Bergen von Latakia bombardiert worden. Nun schwebt er zwischen Leben und Tod – und erinnert sich an Menschen und Momente, die sein bisheriges Leben geprägt haben. Yazbek verwischt dafür in ihrem Roman gekonnt die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen Traum und Realität. Denn wir sind quasi in Alis Kopf gefangen und gleiten mit ihm durch all die Fantasien und Erinnerungen, die wie fieberhafte Halluzinationen in ihm auftauchen. So wird er etwa Zeuge einer Beerdigung. Er hört Weinen, und er nimmt die Schemen einer Frau wahr. Aus der Art, sich seltsam hüpfend fortzubewegen, als wäre sie verärgert, schließt er, dass es seine Mutter ist. Die aufgeregten Stimmen, die er dann vernimmt, scheinen ihm von anderer Art zu sein. Das da ist sein Vater. Und seine verwitwete Schwester mit ihrem dicken Bauch. Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt Erst allmählich wird klar, dass Ali sich an das Begräbnis seines älteren Bruders erinnert. Freiwillig hatte dieser sich zum Militär gemeldet – ganz im Gegensatz zu Ali, der von Natur aus und zum Missfallen seines Vaters ein Träumer war. Schon als Kind verbrachte er die Zeit am liebsten zwischen den Bäumen seines Dorfes. Humairuna, eine rätselhafte Weise, die in Alis Dorf lebte, lehrte ihn früh ihren mystischen Glauben, vor allem den an die Kraft der Bäume. Und doch kann Ali den bedrohlich anwachsenden Schatten im politischen Klima Syriens nicht entkommen: Eines Tages wird auch er zwangsrekrutiert. Ein Manifest gegen den Krieg – und für das Leben Geschickt beleuchtet Samar Yazbek anhand der Vignetten aus Alis Leben knapp, poetisch und doch präzise zum einen die reiche Tradition der alawitischen Kultur, vor allem ihre starke Verbundenheit mit der Natur. Zugleich fängt sie wie nebenbei die alles umfassende Militarisierung und Brutalisierung ein, die jeden Winkel des syrischen Alltags durchdrungen hat. Und sie macht Ali – der nach dem tödlichen Beschuss nahe einer riesigen Eiche zu Bewusstsein kam – zum Sprachrohr, um die Sinnhaftigkeit all des Sterbens zu hinterfragen. Er glaubt, dass sein vergangenes und sein gegenwärtiges Leben lediglich aus den wenigen Metern zwischen der Einschlagstelle der Granate und dem Baumstamm bestehen. Ein kurzes Leben, ein vollkommenes, ausreichend, um hier zu enden. Und als er spürt, dass diese verbleibenden Meter das komplette, ihm verbliebene Leben darstellen, fragt er sich, was er hier macht. Und gegen wen er kämpft. Und für wen. Quelle: Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt Am Ende lässt Samar Yazbek ihren heroischen Antihelden Trost finden in dem, was er am meisten liebt: in der Schönheit der Erde und der Natur. „Wo der Wind wohnt“ ist somit nicht nur ein eindringliches Dokument, das all jenen Stimme verleiht, die für und durch ein mörderisches Regime elend und ungehört sterben. Der Roman – dessen bestechende lyrische Intensität Larissa Bender so behutsam wie kunstvoll ins Deutsche übertragen hat – ist zugleich ein Manifest für das Leben selbst. Und womöglich bis dato Samar Yazbeks bester, ja schönster Roman.…
Am Anfang war… das Wort. Delphine Horvilleur zeigt in ihrem jüngsten, sehr persönlichen Buch, wie die Sprache wiederzugewinnen ist, wenn etwas einem die Sprache verschlagen hat. Etwas – das ist der größte und brutalste Angriff auf Jüdinnen und Juden seit der Shoah am 7. Oktober des vergangenen Jahres. Es sind indes nicht nur die Ereignisse an diesem schrecklichen Tag, die der Autorin die Sprache zu nehmen drohten. Unmissverständlich geht die Pariser Rabbinerin, die als Repräsentantin des liberalen Judentums in Frankreich gilt, auf das ein, was nach dem 7. Oktober passierte – und immer noch passiert: Den einen verschlägt es vor Entsetzen die Sprache – den anderen wird ihre Sprache zu einem wohlfeilen Mittel der Relativierung: Am 7. Oktober sind verabscheuungswürdige Taten begangen worden, ABER… – Jüdische Frauen sind vergewaltigt worden, ABER… – Das Schicksal der Kinder im Gazastreifen ist furchtbar, ABER… Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober Durch dieses ABER und unter dem Vorwand einer Kontextualisierung wird das Grauenhafte relativiert und eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Dabei lässt die Autorin keinerlei Zweifel daran, dass sie seit Jahren für die Rechte der Palästinenser und für eine Zweistaatenlösung eintritt. Und genauso unmissverständlich macht sie im Kapitel ‚Gespräch mit Israel‘ ihre Kritik an der Politik der Machthybris der amtierenden israelischen Regierung deutlich. Ein Land, das Sicherheit verspricht Aber an solchen Differenzierungen seien notorische Antisemiten gar nicht interessiert; das Muster, nach dem ‚der Jude‘ an allem Übel dieser Welt schuld sei, wiederhole sich immer wieder aufs Neue – wie ihre Großmutter im erinnerten ‚Gespräch mit den Großeltern‘ resigniert feststellt: „Was geschehen ist, wird immer wieder geschehen. Die Vergangenheit vergeht nie.“ Die Vergangenheit, das ist die Jahrhunderte und Jahrtausende alte Verfolgung der Jüdinnen und Juden, vor der sie nichts schützt – auch nicht die Integration in ein Land, das ihnen Sicherheit verspricht, und das man deshalb liebt: Hier spricht Delphine Horvilleur mit und von ihrem Großvater, diesem perfekt assimilierten Juden, der Frankreich unendlich dankbar war. Die extreme Dankbarkeit war das leuchtende Gewand, das elegant typisch jüdische Ängste und Schmerzen umhüllte: die Angst, nicht genauso geliebt zu werden wie man selbst liebt. Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober Antisemitismus und Antirassismus Eine Angst, die sich in der Geschichte allzu oft als berechtigt erwies. So tastend Delphine Horvilleur aus der Sprachlosigkeit in die Sprache zurückzufinden sucht, so analytisch klar ist sie im Kapitel ‚Gespräch mit einem Antirassisten‘; dessen Haltung lasse sich – und das sei das Neue nach dem 7. Oktober – perfekt mit dem Antisemitismus kombinieren: Judenhass, der alles durcheinanderwirft – jüdische Geschichte, jüdische Religion, Israel und seine derzeitige Regierung – Judenhass könne sich antirassistisch gerieren und als Engagement für die Seite der Schwachen, der Opfer und Verwundbaren. Nur die Verwundbarkeit der Jüdinnen und Juden bleibt im Denken der antirassistischen Antisemiten stets einen Nachweis schuldig. Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober Oder ist der Antisemitismus ein Aufstand gegen die Ursprünge, gegen die Anfänge der eigenen Religion, ja Kultur, die sich der älteren verdankt – und dies nicht will? Es ist deutlich einfacher, sich seiner Herkunft zu stellen, wenn die, die diese Herkunft verkörpern, elegant genug gewesen sind, sich aus dem Staub zu machen Quelle: Delphine Horvilleur – Wie geht's? Miteinander Sprechen nach dem 7. Oktober So kommentiert Delphine Horvilleur mit einer Prise Sarkasmus. Im Kapitel ‚Gespräch mit denen, die mir guttun‘ schildert sie ihre Begegnungen mit dem libanesischen Autor und Filmemacher Wajdi Mouawad, die zeigen, dass Brücken und Verständigung zwischen Juden und Moslems möglich und bereichernd sind. „Weißt Du, dass man da, wo ich aufgewachsen bin, alle Araber, die eigenständig denken wollen, als Juden bezeichnet?“, sagt ihr in einem anderen Gespräch der algerische Journalist und Autor Kamel Daoud. Sprechen in Zeiten des Krieges Die zehn Kapitel dieses Buchs tragen jeweils die Überschrift ‚Gespräch mit…‘ und weisen auf den Weg zurück in die Sprache, die am 7. Oktober des vergangenen Jahres verloren zu gehen drohte. In ihrem Buch zeigt Delphine Horvilleur, wie wichtig die Sprache in Zeiten des Krieges der Waffen und Worte ist: Am Anfang, berichtet die Bibel, wurde die Menschheit gleichzeitig mit dem Tierreich erschaffen. Und dahin kehrt sie wieder zurück, sobald sie nicht mehr benennen kann, was ihr widerfährt.…
1 SWR Bestenliste Oktober 2024 mit Büchern von Nora Bossong, David Wagner, Reinhard Kaiser-Mühlecker und Roman Ehrlich 1:16:09
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1:16:09Die erstmals in Ladenburg aufgezeichnete Diskussion der SWR Bestenliste verlief vor allem bei zwei Büchern kontrovers: Uneins war die Runde beim neuen Roman von Nora Bossong und der Frage, worum es in „Reichskanzlerplatz“ überhaupt geht und welche Figur im Mittelpunkt der Geschichte steht: Die Frau, aus der Magda Goebbels wurde? Oder doch der schwer zu fassende Ich-Erzähler, ein ministerialer Mitläufer im NS-Reich? Zukunft der Literatur? Außerdem entzündete sich bei David Wagners biografischem Portrait „Verkin“ die Diskussion, ob es sich dabei überhaupt um einen Roman handelt oder nicht. Dirk Knipphals, der die taz-Kultur leitet, sieht in Wagners Darstellung komplizierter Figuren die „Zukunft der Literatur“, während Sandra Kegel, Chefin des FAZ-Feuilletons, dramaturgische Schwächen in dem Text sieht, weil die „übergriffige“ Titelfigur das gesamte Textgeschehen dominiere, indem sie ohne Widerspruch zu viele und zu überdrehte Anekdoten erzähle. Einhelliges Lob für „Videotime“ Unter der Leitung von SWR-Literaturredakteur Carsten Otte lobte die Runde in der ausverkauften Ladenburger Zehntscheune außerdem die verstörenden Wendungen in dem Agrarepos „Brennende Felder“ von Reinhard Kaiser-Mühlecker sowie den unheimlichen Familienroman „Videotime“ von Roman Ehrlich. Christoph Schröder, freier Literaturkritiker unter anderem für den Deutschlandfunk, lobte das Ehrlichs Werk als eine formal wie inhaltliche gelungene Vatersuche und Erinnerungsarbeit, die sich mit der Gewaltgeschichte der alten Bundesrepublik beschäftigt. Aus den vorgestellten Büchern lasen Isabelle Demey und Johannes Wördemann.…
Kann man, so man auf alten Pfaden in Schottland, England oder anderswo unterwegs ist, beim Gehen auf Gedanken kommen, welche nur in einer ganz bestimmten Gegend möglich sind? Jeder Mensch verfügt über erinnerte Landschaften, in die er gedanklich immer wieder zurückkehrt. Gibt es Orte an denen wir „spürbar anders denken und fühlen?“ Robert Macfarlane, ausdauernder Wanderer und intimer Kenner der Reiseliteratur voriger Jahrhunderte, stellt sich diese Frage. Sie hat auch schon einen seiner Vorgänger umgetrieben, den Schriftsteller Edward Thomas, auf dessen Wegen Macfarlane oft unterwegs ist. Schreiben und Gehen Die beiden verbindet nicht nur die Lust, alte Pfade und ihre Geschichte zu erkunden, sondern auch die Freude Botanik, Mineralien und Erdgeschichte so kenntnisreich wie poetisch vor dem Auge des Lesers zu entfalten: Der Schnee war dicht überzogen mit den Spuren von Vögeln und Tieren – ein Archiv Hunderter Wegstrecken, aufgezeichnet seit dem Ende des jüngsten Schneefalls. (…) Auf der schrägen Feldfläche vertiefte das Mondlicht die näher gelegenen Abdrücke noch, sodass sie wie gefüllte Tintenfässer wirkten. Zu all diesen Spuren fügte ich noch meine hinzu Quelle: Robert Macfarlane – Alte Wege schreibt Macfarlane. Schreiben und Gehen – diese Verbindung treibt Macfarlane an. Beide Wörter haben zumindest im Englischen eine gemeinsame Wurzel. Der Wanderer findet temporäre Begleitung oder besucht gezielt Ortskundige, manch einer seiner Gesprächspartner sammelt systematisch, was er am Wegesrand findet. Natur kann heilen, aber auch, wie Macfarlane schreibt „brutal schweigen und durch ihre Gleichgültigkeit erschüttern“, oft sind depressive Menschen wie Edward Thomas manische Wanderer. Je älter Macfarlane wird, desto weniger interessiert es ihn, unerforschtes Land zu betreten und desto spannender wird es für ihn, Pfaden zu folgen, die vor langer Zeit von unseren Vorfahren hinterlassen wurden. Orientierung ohne Instrumente Bereits dreitausend Jahre vor dem römischen Wegenetz orientierte man sich auf See mit Hilfe des Polarsterns, am Zug der Vögel oder an Wolken, die Land anzeigen. Das Wissen über den Küstenverlauf wird in Erzählungen und über Lieder weitergegeben. Gefährliche Wege durch das Watt wurden oft phantasievoll markiert, so der „Broomway“ in Essex. Besenstiele sind in den Boden gerammt, an denen ein Stein festgebunden ist. Der Wanderer nimmt den Stein und führt ihn an der sechzig Meter langen Schnur bis zum nächsten Stecken bei sich. Hat er sich verlaufen, findet er anhand der Schnur wieder zurück. Auf alten Pfaden zu wandern, bedeutet also immer auch eine Zeitreise: Der Pfad lockt das Auge, das äußere wie das innere. Der Kopf kann nicht umhin, dieser Linie über das Land zu folgen – nicht nur voran durch den Raum, sondern auch zurück durch die Zeit, hinein in die Geschichte des Weges und all derer, die ihn genutzt haben. Quelle: Robert Macfarlane – Alte Wege Historische Fußwege sind in England vom Wegerecht geschützt und werden durch Benutzung erhalten: Im neunzehnten Jahrhundert hingen Sicheln am Rand von Trampelpfaden, die Benutzer schnitten die überhängenden Äste auf dem Weg ab und hingen die Sichel am Ende des Pfades wieder auf. Alte Pfade sind oft ehemalige Viehtriften, so zogen die Siedler in den USA auf den Spuren der Bisons gen Westen und auch Spanien kann ein riesiges Wegenetz ehemaliger Viehpfade aufweisen. MacFarlanes Buch, in all seiner Schönheit der Beschreibungen rauher und für den Ungeübten unwegsamer Landschaften, ist ein Lesegenuss, gerade auch für diejenigen die kaum selbst wandern, aber Landschaftsbeschreibungen lieben. Es weckt ebenso die Lust aufs Schauen wie auf Literatur.…
Wir vom Lesenswert Magazin auf SWR Kultur sind ja immer bemüht, Ihnen wertvolle und kompetente Lese-Anregungen an die Hand zu geben: Gute Lektüren können das Leben unendlich bereichern - und schlechte: ziemlich verärgern. Dass gute oder eben schlechte Bücher im heimischen Regal auch - quasi schicksalhaft - über sich anbahnende Beziehungen entscheiden können: darüber hat der Kabarettist, Autor und Musiker Tilman Birr ein wunderbares Lied gemacht.…
Leo Tolstoi oder Margret Atwood: ihre Werke würden wir kaum kennen, gäbe es nicht die immens wichtige Arbeit von literarischen Übersetzerinnen und Übersetzern. Um sie zu fördern, gibt es den Deutschen Übersetzerfonds, maßgeblich finanziert vom Bundesministerium für Kultur und Medien. Nun drohen dem Fonds schmerzliche Kürzungen: 650.000 Euro soll es im kommenden Jahr weniger geben. Der DÜF spricht von einem „eklatanten Schaden im Bereich der Übersetzungskunst“. Wir sprechen darüber mit Marie Luise Knott, Vorstandsmitglied beim DÜF.…
Familie Kindred lebt an der Küste Neuenglands. Eine von nur zwei schwarzen Familien im Dorf Salt Point: zwei traumatisierte Eltern, zwei heranwachsende Töchter, Ezra und Cynthia, fern vom rebellischen Süden. Aber unter der Oberfläche brodelt latente Gewalt. „Mund zu, Augen auf“, ist die Devise des Vaters. Denn: Die Wahrheit ist, sie wollen uns nicht. Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt „Sie“, das sind die Weißen: mißtrauische Fischer, die rassistische Lehrerin, der aggressive Polizist, der in seiner Machtlosigkeit mit der Pistole droht, Ruby, das vernachlässigte Mädchen, das, manipuliert und vom Leben betrogen, von der Freundin zur Rivalin wird, und ihr Vater, der im Suff versinkt. Sein Leben war ein frühes Grab. Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt Die Weißen als Opfer ihres eigenen Rassismus Die Weißen sind Opfer ihres eigenen Rassismus. Ihnen gegenüber: Die aufrechten Kindreds und ihre Schwarzen Freunde, die Junketts, mit dem Mut und den tröstlichen Mahlzeiten von Miss Irene. Und von fern: die Ahnen. Ein reiches Figurenensemble, skizziert im Herbst 1957 und in Rückblenden. Sie selbst stecke in den Figuren und viele Frauen, die sie traf und fiktionalisierte, sagt Rachel Eliza Griffiths. I think my personality is in all of them and they are also a gathering, fictionalized of course, many women's stories, that I encountered as a little girl and as I grew up. (Rachel Eliza Griffiths) Cynthia hält das Personal zusammen, die jüngere Kindred-Tochter, die sich in der Gefahr an ihren Stift klammert wie an ein rettendes Ruder. Eine kindliche, aber auktoriale Ich-Erzählerin, die in Visionen sieht, wie ihr Urgroßvater vom Ku-Klux-Klan in der Kirche ermordet wurde. Gerade zertrümmerte er eines der Fenster mit einem Besenstiel, als eine Kugel durch seinen Kopf schlägt. Dann fliegen Fackeln durch die zerbrochenen Scheiben. Quelle: Rachel Eliza Griffiths – Was ihr uns versprochen habt Die blutige Geschichte der Schwarzen in Amerika Erzählungen des Vaters sind in Cynthia lebendig, Traumata werden vererbt. Die blutige Geschichte gehört zur DNA der Schwarzen Amerikas. Immer wieder bringt Rachel Eliza Griffiths das Wort „Blut“ ins Spiel. Weißes Blut, kann ein Privileg sein, sagt sie. Das Wort Blut hat aber auch mit der Beziehung von Amerika und der Sklaverei zu tun. Die Gewalt der Sklaverei, die Sprache, die verwendet wurde, das Blut, das in die Erde, ins Land, in die Bäume fließt, ist wie ihre Blutlinie, ihre Familie, ihre Abstammung, wer sie sind, und das fühlt sich für mich, in Bezug auf Amerika, sehr spezifisch an. (Rachel Eliza Griffiths) Es ist das Ende des Sommers, der Kindheit, das Ende des Schweigens und der Beginn der Bürgerrechtsbewegung, als Schwarze Kinder auf dem Schulweg Polzeischutz brauchen. Aus dem Radio tönt die Stimme von Martin Luther King, und Präsident Eisenhower stärkt mit dem Civil Rights Act das Wahlrecht der Schwarzen Amerikaner. Die Nation ist gespalten, wie heute. „Nigger werden abgeknallt“, schreibt Rachel Eliza Griffiths, verwendet das N-Wort als historischen Begriff, sieht ihr Debüt aber nicht als historischen Roman. Hängen heute noch Menschen an Bäumen? Es ist vielleicht nicht mehr wie früher, aber es gibt immer noch Bäume, an denen Leute aufgehängt werden. Soziale Medien können solche Bäume sein. (Rachel Eliza Griffiths) Fesselnde Geschichte von Mut und Selbstermächtigung Was das opulent erzählte Familiendrama so eindringlich, mitunter auch sentimental, macht, sind originelle poetische Bilder der Dichterin, für die Poesie und Prosa ineinanderfließen. Die Psychogramme in den Zwischenkapiteln von „Promise“/ „Was ihr uns versprochen habt“ zeigen die Kluft zwischen Versprechen und Realität; „Versprechen“, ein intimes wie öffentliches, politisches Wort, überlagert von Traumata und Geschichten des Überlebens. Die ältere Schwester sagt: Cynthia, versprich mir, dass du dein Leben lieben und leben wirst, dass du am Leben bleibst, versprich mir das, auch wenn wir uns nie wiedersehen. Das ist eine kraftvolle und andere Art, das Wort zu verwenden. Dass sie ihrer Schwester nichts versprechen kann, weiß sie, aber sie kann ihre Schwester bitten, ihr eigenes Leben und ihre Liebe zueinander zu ehren, das ist ihre Waffe, ihre Rüstung, deshalb geben sie nicht auf. (Rachel Eliza Griffiths) Wir haben heute verlernt, einander zuzuhören, sagt Rachel Eliza Griffiths und ist weniger optimistisch als früher. Sie setzt auf Kamala Harris. Und sieht ihren Debütroman selbstbewußt in der Tradition einer Toni Morrison, eines James Baldwin oder Aimé Césaire. „Was ihr uns versprochen habt“ ist ein Pageturner, eine fesselnde, manchmal auch pathostrunkene Geschichte von Mut und Selbstermächtigung. Einen Fan hat Eliza Griffiths längst: ihren Mann, Salman Rushdie. Er liebt meinen Roman. Ich glaube, er war erleichtert, als er den Entwurf las, weil ich sagte: „Wenn dir mein Roman nicht gefällt, funktioniert das nicht (lacht), dann können wir nicht so zusammenleben.“ Er ist einer meiner größten Cheerleader und Unterstützer. (Rachel Eliza Griffiths)…
Am Ende dieses Sommers bleiben viele Fragen offen, eigentlich fast alle! Auch nach über 200 Seiten persönlicher wie kollektiver Sinnsuche im Juli, August, September 2023. Wer bin ich eigentlich wirklich: Ludmila, Ljuda, Lou? Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität. Quelle: Olga Grjasnowa – Juli, August, September Jüdische Heldin mit autobiographischen Zügen der Autorin Eine neue Identität? Aber welche? Ob Ludmila, Ljuda, Lou, fest steht, sie ist liiert mit dem Konzertpianisten Sergej, ist Galeristin in Berlin, in ihren Dreißigern, Mutter der 5-jährigen Rosa. Ludmila, Ljuda, Lou ist Jüdin und vor vielen Jahren als sogenannter „Kontingentflüchtling“ aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen – ihrer Schöpferin Olga Grjasnowa damit sehr ähnlich. Der Roman hat natürlich autobiographische Züge. Und es ist auch etwas, womit der Roman spielt. Es ist nicht wirklich meine Autobiographie, aber es sind sehr viele Dinge, die ich mit Lou gemeinsam habe. Es ist zum Beispiel unser beidseitiges Unverständnis der klassischen Musik, es sind bestimmte biographische Anhaltspunkte. Und ich glaube, im Prinzip ist es einfach so, dass ich den Roman so geschrieben habe, dass ich mir überlegt habe, wie mein Leben unter Umständen auch hätte verlaufen können. Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa Im Juli, zu Beginn des Romans, stellt sich Lou und Sergej, dem wohlsituierten Künstlerpaar aus Berlin, immer drängender die Frage, wie jüdisch sie eigentlich seien und ihre kleine Tochter erziehen wollen – als nachgeborene, nicht wirklich religiöse Juden im Land der Täter. Jüdisch sein? Hier? Heute? Tatsächlich hat für mich angefangen, mein Jüdischsein eine größere Rolle zu spielen, als ich selbst Mutter war, weil sich dann die Frage gestellt hat: Was gebe ich weiter? Wie erziehe ich meine Kinder? Und vor allem bin ich nicht wirklich religiös. Das heißt, mein Judentum hat per se etwas von einer kulturellen Performance und nicht etwas von einer Religion. Die Kultur spielt eine sehr große Rolle, aber nicht die Religion. Und wenn das dann so ist, was mache ich dann mit meinen Kindern? Gebe ich ihnen bestimmte Teile der Kultur mit? Kann man überhaupt sagen, was eine jüdische Kultur ist? Was ist denn dann das Spezifische, was ich weitergeben möchte? Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa Eine Familie zwischen Erinnern, Lügen und Schweigen Lou stürzen diese Fragen in keine große Identitätskrise. Dazu ist sie viel zu selbstbewusst, viel zu sehr mit sich, ihrem Kind, ihrer Beziehung beschäftigt. Sie stellen sich ihr halt nur, diese Fragen, erst recht, als sie – wir schreiben mittlerweile den Monat August – mitsamt der in alle Welt verstreuten Mischpoke zum 90. Geburtstag ihrer Tante Maya nach Gran Canaria eingeladen wird. Und da sind sie dann, die ganzen noch lebenden Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, deren Söhne und Töchter – und es wird so skurril wie Familienfeiern nun einmal skurril sind Ich glaube nicht, dass es bei jüdischen Familien etwas anderes ist, sondern ich glaube, dass tatsächlich Lügen zum Familienalltag mitunter gehören. Vielleicht auch noch nicht einmal Lügen, sondern in jeder Familie gibt es bestimmte Geschichten, die man im Laufe des Lebens unterschiedlich erzählt. Man fängt an, dass man manche Geschichten zum Beispiel für die Kinder runterbricht, sie einfacher gestaltet, das Traumatische daran wegnimmt oder auslässt. Und irgendwann hat sich dieses Narrativ verfestigt, und nach und nach fangen die Leute an, mehr zu erzählen, oder sie lassen es einfach. Und die Erinnerung ist auch nicht immer gleich. Man erinnert sich mal besser, mal weniger besser, mal erscheinen andere Sachen in der Erinnerung wichtiger zu sein, Manchmal sind es Lügen, manchmal sind es auch einfach nur Auslassungen, manchmal ist es das Schweigen und all das macht eine Familie eben auch aus. Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa In Lous Familie ist es – wie bei so vielen jüdischen Familien – die Frage danach, welche Katastrophe der Holocaust unter ihnen angerichtet hat und welche traumatischen Folgen er bis heute hinterlässt. Für Lou ist auf Gran Canaria die Chance gekommen, die Geschichten, die ihre Tante Maya darüber verbreitet, mit denen der Mutter abzugleichen. In meiner Kindheit war der Holocaust allgegenwärtig gewesen, an ihn wurde überall von Nachbarn oder Freunden erinnert. Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. Sie stellte sich selbst in den Mittelpunkt, was ihr gutes Recht war, nur hätte das nicht auf Kosten von Rosa geschehen müssen. Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte. Darum galt nun Mayas Wort, und ich hatte das Bedürfnis, dem etwas entgegenzusetzen. Quelle: Olga Grjasnowa – Juli, August, September Eine Geschichte, die sich im Kreis dreht Für Lou rücken sich am Rande der Familienfeier einige Verdrehungen, Verzerrungen, Verstümmelungen ihrer Familiengeschichte zurecht. Doch statt danach schnurstracks in ihren Alltag, in ihr altes Leben nach Berlin zurückzukehren, fliegt sie außerplanmäßig nach Israel. Etwa auf der Suche nach weiteren Antworten auf die Frage nach ihrer Zugehörigkeit, ihrer Verwurzelung? Das wäre plausibel und folgerichtig. Doch so zwingend scheint es dann doch nicht zu sein. Lou verbringt in Israel ja eigentlich nur ein paar Tage. Sie versucht einfach nur, kurz auszureißen und sich noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen. In Berlin erwarten sie nicht die schönsten Sachen, sondern ziemlich viele Probleme. Ich glaube, sie sehnt sich einfach nur danach, noch einmal auf die Pausentaste zu drücken und sich eine ganz winzige Auszeit zu verschaffen. Aber natürlich kann sie sich das nicht selber eingestehen, sie tut es vielleicht sogar an der ein oder anderen Stelle, sondern sie flieht einfach nur und möchte etwas Zeit rausschinden. Quelle: Interview mit Olga Grjasnowa Und so kehren Lou aus Spanien bzw. Israel und Sergej von einer Konzertreise mit einem potenziellen Seitensprung fast gleichzeitig nach Berlin zurück. Ende Juli aufgebrochen haben sie sich drei Monaten lang um sich selbst und im Kreis gedreht, ohne irgendwie weitergekommen zu sein. Entwicklung ist nicht erkennbar. Olga Grjasnowas neuer Roman ist zwar so souverän und temporeich wie dessen Vorgänger, aber leider deutlich weniger erkenntnisreich. Wenig, was man über heutiges jüdisches Selbstbewusstsein oder eben auch jüdische Selbstzweifel nicht längst gewusst hätte. Wenig, was man als originelle Wendung oder Einsicht verbuchen könnte. Lous Identitätssuche bringt leider nicht weiter. Sie nicht. Und uns nicht. Schade.…
Sascha Kowalczuk ist stocksauer. Die Dauernörgelei im Osten, das Wahlverhalten der Wutbürger - in alledem schwingt für Kowalczuk ein Stück Realitätsblindheit mit. Denn: Die deutsche Einheit ist nicht nur längst vollzogen. Sie ist auch eine Erfolgsgeschichte geworden. Das ist nur noch nicht durchgedrungen. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Aus Kowalczuks Sicht nämlich haben viele Ostdeutsche nie begriffen, dass Demokratie im Kern nicht D-Mark, Mallorca-Reisen und Rundumversorgung bedeutet. Sondern dass Diktatur-Sozialisierte zu citoyens heranreifen müssen: Freiheit ist eine Angelegenheit, die nur funktionieren kann, wenn sich der Einzelne bewegt und sich in seine eigenen Angelegenheiten einmischt. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Freiheit bedeutet Einmischung Mit Einmischen meint Kowalczuk nun keineswegs den tumben Stammtisch um die Ecke oder bei X und Tiktok. Sondern dass man kapiert, dass Demokratie Interessenausgleich und Kompromiss bedeutet. Also sich einmischen, den Mund aufmachen mit Verständnis für die Gegenseite. Aber, so der Autor weiter: Genau das wird einem in der Diktatur mit allen Mitteln abgenommen, abtrainiert, brutal weggenommen. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Zwei Gesellschaften trafen aufeinander, die sich längst auseinander gelebt hatten Denn dort gab es nur eine Wahrheit. Was das in den Köpfen hinterlassen hat, haben auch die verbohrtesten Antikommunisten im Westen nie erfasst. 1990 sind zwei Gesellschaften zusammengeführt worden, die sich so weit auseinandergelebt hatten, wie es nur denkbar war. Naiv glaubten viele gelernte Bundesbürger, die Ostdeutschen hätten ja nur auf sie gewartet - denn nach 28 Jahren Gefängnis und 40 Jahren SED-Gängelung lechze man naturgemäß nach genau der Freiheit, die der Westen nun bringe. Umgekehrt dachten die meisten DDR-Bürger genauso naiv. In ihrer einzigen freien Volkskammerwahl im März 1990 votierten sie für den schnellen Beitritt. Vor lauter Euphorie waren sie blind. Kowalczuk konstatiert: Sie erfanden einen Westen, den es nie gab. Sie konstruierten eine Idylle, die sie am 18. März 1990 herbeiwählen wollten. Eine Fehlwahrnehmung, die fast niemand dem eigenen Unvermögen anlastete, sondern dem Westen selbst, der sie angeblich getäuscht, betrogen, belogen hätte. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Hier muss man Kowalczuk allerdings entgegenhalten, dass alle bundesdeutschen Parteien außer den Grünen den Volkskammerwahlkampf aktiv gekapert hatten - und mit ihm die eigene Demokratie-Bewegung der DDR. Ost-Oppositionelle wie Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Konrad Weiß, Jens Reich - sie bekamen nie wirklich die Chance, ihre Landsleute adäquat mit den Anforderungen der parlamentarischen Demokratie vertraut zu machen. In der großen Unsicherheit danach wurde die DDR bald rosarot verklärt. Und Kowalczuk trifft ins Schwarze, wenn er über diese Verklärer schreibt: Sie repräsentieren eine große ostdeutsche Mehrheit, die mit ihrer unverarbeiteten Diktatursozialisation weder die Vergangenheit verarbeitet, noch die Herausforderungen der repräsentativen Demokratie und die Kraft der Freiheit verarbeitet hat. Es gab keine Demokratie- und Freiheitsschulung im Osten. So etwas wie Re-Education in Westdeutschland fehlte. Quelle: Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock Dringlicher Appell, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen Umgekehrt hätten die meisten Westdeutschen nie begriffen, dass drei Vierteln der Ostdeutschen in den 90er Jahren der Boden unter den Füßen weggezogen worden sei: Mit ihrem vertrauten Arbeitsplatz verloren sie ihre gesamte gesellschaftliche Einbindung, den Großteil ihrer menschlichen Beziehungen. Kowalczuk hat völlig recht, wenn er feststellt, dass beide Seiten bis heute viel zu wenig voneinander wissen. Sein Buch Freiheitsschock ist da aber nur ein aktueller Problemaufriss. Um die Dimensionen genauer zu erfassen, sollte man auch zu Kowalczuks Buch Die Übernahme von 2019 greifen. Erst beide Bände zusammengenommen können wertvolle Denkanstöße liefern: indem sie Ost und West aufrütteln und an uns alle in Deutschland appellieren, viele eingeübte Denk-Schemata endlich abzustreifen.…
Katzen, immer wieder Katzen. Sie spielen im Leben des rund dreißig Jahre alten Bekim ebenso eine Rolle wie in dem seiner Eltern, die Anfang der 1990er Jahre aus dem albanischen Kosovo nach Finnland emigrierten, als der Kosovokrieg sich schon abzeichnete. Bekim wuchs in Helsinki auf und sah die Heimat nur in den Sommerferien. Fremd ist er dort genauso wie in dem Land, dessen Sprache er jetzt spricht. Soweit decken sich seine Erfahrungen mit denen des Autors Pajtim Statovci. Er kam 1992 im Alter von zwei Jahren mit seinen kosovo-albanischen Eltern nach Finnland und schreibt in finnischer Sprache. Mit Schlange und sprechender Katze In seinem Debütroman „Meine Katze Jugoslawien“ berichtet er abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Bekim und seiner Mutter Emine. Bekim lebt alleine, er ist schwul und hat lieblosen Sex mit Männer, die er in Chatrooms kontaktet. Vertrauter ist ihm die Würgeschlange, die er in seiner kleinen Wohnung hält, und eine Katze, die er in einer Schwulenbar kennenlernt. Sie trägt einen Anzug und kann sprechen – ein magisches Menschen-Tier, das bei Bekim einzieht, sich aber bald als verfressener Spießer mit homophoben und fremdenfeindlichen Ansichten entpuppt. Ausländer sind dumm und laut, und wenn sie an einem vorbeigehen, betäubt einen der Gestank, den sie absondern. Wenn man ihnen Arbeit gibt, stehlen sie Geld. Und gibt man ihnen eine Wohnung, machen sie darin alles kaputt, auch wenn sie nicht einmal selbst dafür bezahlen. Quelle: Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien Auf der zweiten Erzählebene beginnt Bekims Mutter Emine ihre Lebensgeschichte mit ihrer Verheiratung im Jahr 1980, einem archaischen, kosovarischen Fest, das nach festen Regeln abläuft. Es findet ein abruptes Ende, weil Tito stirbt und das Land in Trauer versinkt. Früher, so erfährt Emine vor der Hochzeitsnacht, sei es Brauch gewesen, dass der Ehemann eine Katze ins Schlafgemach brachte, um sie vor den Augen der Braut zu erwürgen und so seine Macht zu demonstrieren. Erst in dem Moment begriff ich, dass ich mein ganzes restliches Leben mit ihm verbringen würde, und dieser Gedanke schlug in meine Rippen ein wie eine Abrissbirne in ein Haus. (…) Und wenn wir nie lernen würden, uns zu lieben? Was würde dann geschehen? Quelle: Pajtim Statovci – Meine Katze Jugoslawien Verlust der Gewissheiten Bekims Mutter entflieht schließlich nicht nur dem Krieg, sondern auch dieser patriarchalen Welt. Sein Vater ist als Lehrer und Literaturinteressierter fast ein Intellektueller, ist aber auch in Finnland von seiner Herkunft geprägt. Es ist ein weiter Weg aus der traditionsbestimmten Dorfwelt in die anonyme finnische Großstadt. Denn die Befreiung vom Althergebrachten bedeutet zugleich den Verlust der Gewissheiten und des sicheren Bodens. Auch Bekim steckt in den patriarchalen Strukturen fest. Mag sein, dass er sich mit seiner Homosexualität möglichst weit vom Vater und seiner Familie entfernt zu haben glaubt, doch im Verhältnis zu der fiesen Katze aus dem Schwulenclub verhält er sich selbst wie eine unterwürfige Frau, kocht und wäscht und putzt für sie. Vielleicht versucht er damit aber auch die Traumata seiner Kindheit loszuwerden, als Katzen und Schlangen Albträume verursachten. Parallel zu dieser surrealen Tierfabel entfaltet sich in Emines Erinnerungen eine realistisch genau erzählte Ehe- und Migrationsgeschichte. Fremdheit und Heimatverlust Eindrucksvoll schildert Statovci vor allem die Angst und die Scham der Migranten zur Zeit des Kosovokrieges, den sie vor dem Fernseher erleben, ohne zu wissen, was in den Dörfern passiert und wer überhaupt noch am Leben ist. „Die Katze Jugoslawien“ ist ein ungemein politischer und doch spielerischer Roman, der erlebbar macht, was es bedeutet, das Land, die Sprache, das Klima und die Kultur zu wechseln. „Migrationshintergrund“ ist dafür ein viel zu niedliches Wort. Migration ereignet sich immer im Vordergrund. Die Fremdheit ist in jedem Moment spürbar und erfasst den ganzen Menschen. Selten ist davon so eindrucksvoll erzählt worden wie in diesem finnisch-kosovarischen Roman.…
KI ist heute allgegenwärtig und wird auch im Berufsalltag immer relevanter: Sie übernimmt lästige Aufgaben und beschleunigt so manchen Arbeitsprozess. In „Das kann doch jemand anderes machen! Wie KI uns alle sinnvoller arbeiten lässt“ beleuchtet Autorin Sara Weber Risiken und Chancen der KI. KI, Dampfmaschine, Elektrizität – Technologische Entwicklungen verändern die Arbeitswelt Zunächst verweist sie darauf, dass der technologische Fortschritt die Arbeitswelt schon immer verändert hat: Der mechanische Wecker ersetze den menschlichen Aufwecker und der Beruf der Telefonistin wurde mit der Automatisierung der Ortsnetze obsolet. Allerdings verschlechterten sich mit der Industrialisierung auch die Arbeitsbedingungen und die Löhne sanken. Bessere Technologie sorgt nicht einfach für bessere Arbeitsbedingungen oder bessere Bezahlung. Diese Veränderungen mussten in der Vergangenheit und müssen auch heute noch erkämpft und erstritten werden. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Dass das auch in Hinblick auf KI der Fall ist, zeigt Weber anhand des Streiks der Drehbuchautorinnen und -autoren in Hollywood. Die Gewerkschaft forderte unter anderem, dass die KI bei tarifgeschützten Projekten kein literarisches Material schreiben darf. Damit soll sichergestellt werden, dass KI die Autorinnen und Autoren auch in Zukunft nicht ersetzt. Bekannte Schauspieler wie George Clooney unterstützen die Forderungen. Zudem erläutert Weber, welche Strategien verschiedene politische und gesellschaftliche Akteure für den Umgang mit KI entwickeln: Etwa den AI-Act der Europäischen Union, der den Einsatz von KI in Forschung und Wirtschaft regulieren soll. Vieles davon ist weitläufig bekannt und die zugehörigen Argumente nicht unbedingt neu. Doch Webers kompakte Zusammenstellung des Status Quo macht deutlich, wie vielschichtig die KI-Debatte ist. Spannende Recherchen und innovative Konzepte Erfrischend sind die Abschnitte, in denen die Autorin von ihren eigenen Recherchen erzählt: Mit Physiklehrer Patrick Bonner spricht Weber über den Einsatz von KI im Schulunterricht. In der Bäckerei Wildbadmühle schaut sie sich an, wie mithilfe von KI die Nachtarbeit reduziert und Arbeitsprozesse verbessert werden. Am Essener Uniklinikum lässt sie sich vom Ärztlichen Direktor das Konzept ‚Smart Hospital‘ erklären und testet selbst einen KI-Assistenten. Wir fragen die KI: Hat der Patient Vorerkrankungen? Es dauert kurz, dann erscheint ein ausführlicher Satz, der alle Vorerkrankungen beschreibt. Weil die KI nicht nur eine These ausspuckt, sondern auch die Quellen angibt, können die Ärztinnen und Ärzte nachsehen, ob alles stimmt, ohne sich durch Berge an Dokumenten zu wühlen. Eine Zeitersparnis, die gleichzeitig die medizinische Versorgung verbessert. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten verliert Weber nicht aus den Augen, dass der Einsatz von KI auch höchst problematisch sein kann: Wenn etwa Konzerne wie Amazon mithilfe von algorithmischem Management ihre Mitarbeitenden überwachen oder KI in Bewerbungsprozessen vorhandene Ungleichheiten reproduziert. Denn: Am Ende formalisiert die KI ja nur die Muster, mit denen sie trainiert wird – und wenn diese Muster sexistisch oder rassistisch sind, wird es eben auch die KI. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen! Plädoyer für einen konstruktiven und bewussten Umgang mit KI Die anschaulichen Beispiele machen die Lektüre kurzweilig, und die Autorin verzichtet auf komplizierte Technik-Exkurse. Stattdessen diskutiert sie innovative Ansätze und Ideen und eröffnet interessante Einblicke in verschiedene Berufsfelder, die sich mit dem Einsatz von KI verändern. Ihr Resümee: Wir sollten uns dem technologischen Fortschritt nicht verschließen, sondern KI bewusst und konstruktiv nutzen. Technologien sind kein Selbstzweck. Wir als Menschen, als Gesellschaft müssen aktiv überlegen, entscheiden und umsetzen, wie eine positive Zukunft unserer Arbeitswelt aussehen soll, die gut für möglichst viele von uns ist. Dafür bleibt nicht mehr viel Zeit. Denn die KI-Revolution ist weitreichender als viele glauben – und sie hat längst begonnen. Quelle: Sara Weber – Das kann doch jemand anderes machen!…
Ein viel beachteter TikTok-Trend in den vergangenen Monaten war eine Umfrage unter jungen Frauen: Ob sie alleine im Wald lieber einem Bären oder einem Mann begegnen wollten, wurden die Frauen gefragt. Die überwältigende Mehrheit entschied sich für den Bären. Die Frage, die in Julia Phillips neuem Buch unter anderem aufgeworfen wird, lautet: Wie lebt es sich, wenn man vor beiden Angst hat, vor Bären und vor Männern? Das zumindest trifft auf Sam zu, eine der beiden Protagonistinnen von „Cascadia“. Wie schon ihren bemerkenswerten Debütroman hat Phillips auch das neue Buch in eine beeindruckend schöne, stimmig gezeichnete Landschaft hineingesetzt: Sam und ihre dreizehn Monate ältere Halbschwester Elena leben auf San Juan, der Hauptinsel einer zum Bundesstaat Washington gehörenden Inselgruppe. Ein Paradies für Touristen, doch das Leben der Schwestern ist in höchstem Maße prekär: Ihre Väter haben sich jeweils schon vor der Geburt der Töchter aus dem Staub gemacht. Die Mutter hat ihre Lunge bei der Arbeit in einem Nagelstudio ruiniert und liegt todkrank in dem herunter gekommenen Haus, das der Familie, so glaubt jedenfalls Sam, noch gehört. Zwei ungleiche Schwestern Sam arbeitet im Schichtdienst auf den Fähren zwischen den Inseln; Elena in einer Bar. Sams ganze Hoffnung richtet sich auf die Zeit nach dem Tod der Mutter: Danach, so glaubt sie, würden die Halbgeschwister das Haus teuer verkaufen und von vorne anfangen können. „Cascadia“ hat einen klassischen novellistischen Kern. Es ist tatsächlich die schon sprichwörtliche unerhörte Begebenheit, die in die starren Verhältnisse Dynamik hineinbringt: Eines Nachts steht ein Bär vor dem Haus. Und es bleibt nicht bei diesem einmaligen Vorfall. Während die in ihren Ängsten gefangene Sam panisch auf das wilde Tier reagiert, baut Elena zum Entsetzen ihres gesamten Umfeldes gegen jede Wahrscheinlichkeit eine Beziehung zu dem Bären auf: Ein Geschöpf, das auf ihrer Insel nicht heimisch war und nicht zu ihrem Leben gehörte, war trotzdem gekommen. Es war meilenweit durch die nasse schwarze Nacht geschwommen, um an ihrer Haustür zu landen. Es galt als aggressiv, war aber eher sanft. Es galt als wild, verhielt sich aber zahm. ‚Ist das nicht toll?‘, fragte sie Sam. ‚Kommt dir das nicht auch magisch vor?‘ Quelle: Julia Phillips – Cascadia Julia Phillips spielt in „Cascadia“ ganz bewusst mit Märchenelementen. Ihrem Roman hat sie ein Zitat aus „Schneeweißchen und Rosenrot“ voran gestellt. Der Bär wird in „Cascadia“ zu einem symbolischen Gefäß, in dem die unterschiedlichen Gefühle der beiden vermeintlich symbiotischen Schwestern gesammelt werden: Sehnsucht, Furcht, Glückserwartung, Zuneigungsbedürfnis. Ein Bär als Gefäß von Sehnsüchten Zugleich ist der Roman aber auch ein harscher Desillusionierungsprozess, vor allem für Sam. In ihr zerplatzt innerhalb kurzer Zeit eine Illusion nach der anderen, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zu ihrer Schwester Elena. Die klärt Sam kurz nach dem Tod der Mutter in einem Streit über die wahren Verhältnisse auf: Wir mussten eine Hypothek auf das Haus aufnehmen, Sam. Du hast keine Ahnung, wie viele Schulden sich durch Moms Arztrechnungen angehäuft haben. Seit Jahren steht uns das Wasser bis zum Hals. Wenn wir verkaufen, hat nur die Bank etwas davon, und wir hätten kein Dach mehr über dem Kopf.‘ Sam hörte Elenas Worte, doch ihre Bedeutung war fragmentarisch, wie Bruchstücke eines Spiegels. Quelle: Julia Phillips – Cascadia Julia Phillips kommt mit „Cascadia“ nicht an die Qualität ihres Debütromans heran. Ja, auch dieses Buch ist passagenweise spannend; die Verbindung von Landschaft und Figuren ist schlüssig. Aber hin und wieder knarrt die Mechanik der Konstruktion allzu laut, und auch das Verhältnis der beiden Halbschwestern ist recht schematisch gezeichnet. Dass eine solche Geschichte nicht gut ausgehen kann, versteht sich: Wie in den Grimm‘schen Märchen liegen Grausamkeit und Erlösung auch hier dicht beieinander.…
Was sagt Ihnen Vinayak Savarkar, was Madan Lal Dhingra? Mohandas Gandhi? Moment, das war doch der mit dem gewaltfreien Widerstand? Schon richtig. Aber was diese Drei verbindet ist: Sie haben um das Jahr 1906 im Londoner „India House“, einem Studierenden-Wohnheim, gelebt oder sich dort getroffen. Haben konspiriert oder sogar Bomben gebaut. Mitten in Highgate, im Herzen des Britischen Empires, wurde die Unabhängigkeit Indiens von genau diesem Empire geplant. Ein Roman wie ein Mikadospiel Der Roman reist buchstäblich in die Zeit zurück, ins Jahr 1906. Er ist sinnlich und fantastisch, voller Bezüge und Verweise: Wie kommt etwa Sherlock Holmes ins Spiel, und was hat das Ganze mit der Kultserie „Doctor Who“ oder dem Tod der Queen im September 2022 zu tun? Mithu Sanyal baut einen Roman wie das Gewirr von Mikado-Stäbchen, das eine innere Logik zusammenhält. Ein Ziehen bringt alles in Bewegung. Wenn Zeitreisen möglich sind, wird es sie geben. Wenn es sie geben wird, gibt es sie bereits. Aber glaubt ihr im Ernst, dass die Menschen, die die Macht haben, durch die Zeit zu reisen, das verraten würden? Natürlich nicht! Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Es beginnt mit einer Panne, die etwas Tragikomisches hat: Die fünfzigjährige Durga will die Asche ihrer Mutter verstreuen, aber ein Windstoß weht sie ihr und den Trauergästen ins Gesicht, zwischen die Zähne. Durga aus Köln ist Drehbuchautorin. Das Verhältnis zu ihrer deutschen Mutter war schwierig, ihr Vater ist aus Indien. Und die Mutter lässt sie nicht los, die lineare Zeit wird löchrig. Ein schwarzer Detektiv Poirot? Durga reist kurz danach nach London, mit anderen Autorinnen und Autoren soll sie den Plot für einen neuen Film nach einem Roman von Agatha Christie entwickeln, allerdings anti-rassistisch, feministisch. Detektiv Hercule Poirot, ein Schwarzer? Dagegen regt sich Widerstand: Vor dem Gebäude der Filmfirma wird gegen das vermeintliche Auslöschen der britischen Kultur demonstriert. Doch dann - stirbt die Queen. Aus dem Jenseits erreicht Durga eine Nachricht ihrer Mutter. Und völlig unerwartet rutscht sie durch die Zeit, findet sich im Jahr 1906 wieder. Und nicht als Frau, sondern als junger indischer Mann. Ein ekstatischer Moment. Mein Bauch war nicht nur so flach wie seit Jahren nicht mehr, er kurvte auch nach innen zu seidigen Schamhaaren, und darunter … schaute … ein … Penis hervor. Gebannt streckte ich meine Hand aus und tippte vorsichtig mit dem Mittelfinger dagegen. Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Die Lektüre ist kein Spaziergang Der Titel „Antichristie“ bezieht sich auf das Umschreiben von Agatha Christies weißen Figuren, aber auch auf den „Anti-Christ“: Gemeint ist hier der fast dämonische Freiheitskämpfer Savarkar. Ausgerechnet in ihn verliebt sich Sanjeev, so heißt Durga in ihrem neuen Ich. Savarkar, der Jahre später zum Vordenker des radikalen Hindu-Nationalismus wird. Der Roman flimmert vor historischen Bezügen, vor Pop-Zitaten und postkolonialer Debatte, das macht das Lesen nicht zum Spaziergang. Mithu Sanyal legt den Finger in die Wunde der kollektiven Ignoranz des Westens, macht es aber mit Humor. Zusammen mit Sherlock Holmes will Sanjeev ein Attentat im „India House“ aufklären, und immer wieder bricht die Gegenwart in die Vergangenheit. Es wird klar, dass „Antichristie“ selbst ein Kriminalroman à la Agatha Christie ist. Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über die Generationen hinweg. Und die Funktion von Krimis ist dabei, Verborgenes sichtbar zu machen. In unserem Fall die unsichtbare Kolonialgeschichte in der Popkultur. Durga war von sich selbst beeindruckt. Quelle: Mithu Sanyal – Antichristie Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt: Die Asche fliegt uns als Lesenden zurück in den Mund. Als die Geschichte, die wir ignorieren, unterdrücken, nicht sehen wollen. Brillant.…
1 Wer schreibt, lebt gefährlich (und arm) - Kluge Bücher für den Frühherbst. Mit neuen Büchern von Ulrike Draesner, Mithu Sanyal und Marta Barone 54:47
Diesmal im „lesenswert Magazin“: Ein Gespräch über die gefährlichen Seiten des Schreibens und die ernüchternden Antworten auf die oft gestellte Frage, ob es sich von der Schriftstellerei leben lässt.
Im Lesenswert-Gespräch erklärt er, warum Lesungen immer wichtiger werden und warum Neulinge kaum noch eine Chance haben ohne Agentur auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen.
Wenn er im Auto sang, bewegte er die Arme dazu wie Windmühlenflügel, unterstrich einzelne Verse mit feierlichen Gesten und rief: »Verstehst du? ›Le grandi gelaterie di lampone che fumano lente‹ – die großen, qualmenden Himbeereisfabriken. Was für Poesie!« »Lass die Hände am Steuer! Wenn wir draufgehen, ist Schluss mit Poesie«, erwiderte ich trocken. Aber meistens sang ich mit, genauso falsch und mit beinahe genauso wilden Gesten. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Es ist einer der wenigen unbeschwerten Momente an die sich Marta Barone in „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ erinnert. Die beiden teilen die Leidenschaft für die Literatur, die Poesie und das Meer. Und doch erlebte die Autorin ihren 1945 geborenen Vater Leonardo meist als distanzierten, oft rätselhaften Mann. Marta Barone geht auf Spurensuche Nach seinem Tod begibt sich die junge italienische Schriftstellerin deshalb auf Spurensuche. Sie trifft ehemalige Bekannte des Vaters, liest seine Briefe, Presseberichte und sammelt Fotos. Schließlich erfährt sie von Leonardos Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei PCIM-L und von schwerwiegenden Anschuldigungen gegen ihn. Rasch blätterte ich [die Verteidigungsschrift] durch. Sechzehn Seiten, Fotokopien des maschinengeschriebenen, paginierten Originals. ‚In erster Instanz wurde der Berufungskläger der Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung Prima Linea für schuldig befunden, da als erwiesen angesehen wurde, dass „der Barone“ […] der Organisation substanzielle Dienste geleistet hat, indem er die medizinische Versorgung eines ihrer Aktivisten übernahm […]‘ Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Jedes Gespräch und jedes Dokument fördern neue Erkenntnisse zutage – und werfen zugleich neue Fragen auf, die Archivfotos und Akten nicht beantworten können: Warum kehrt der reflektierte junge Mann dem akademischen Leben den Rücken? Was führt dazu, dass der examinierte Arzt einer Parteiideologie folgend als Straßenbahnputzer arbeitet? Marta Barone weiß, dass diese Fragen nach dem Tod Leonardos für immer unbeantwortet bleiben. Und doch versucht sie, sich dem Unbekannten vorsichtig anzunähern. Ihre Gedankenspiele ermutigen auch Leserinnen und Leser dazu, Situationen wie etwa Leonardos Ausharren in der Untersuchungshaft nachzuempfinden. Was mag er da drin wohl empfunden haben, abends, wenn es nichts zu tun gab? Während er in der stickigen Zelle saß und das Tageslicht schräg durch das kleine Fenster fiel? Wenn er auf einen Stuhl stieg, so schreibt er in einem Brief, konnte er die umliegenden Dächer sehen. Fragte er sich, wann er wieder echtes Tageslicht zu sehen bekäme, außerhalb der Mauern? Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Vieles erinnert an heutige Entwicklungen Nach und nach löst sich die Erzählung von der Familienbiografie und widmet sich den gesellschaftlichen Entwicklungen im Italien der 70er und 80er Jahre. Die Autorin erzählt von den prekären Lebensumständen der Arbeiter, von den Sorgen und Nöten der Bevölkerung und der schleichenden Radikalisierung einer Protestbewegung – die am Ende ein ganzes Land in Angst versetzt. Im sogenannten ‚Heißen Herbst‘ 1969 demonstrieren die Fabrikarbeiter des Automobilherstellers Fiat in Turin gegen den übermächtigen Konzern. Sie lösen eine Protestwelle aus, die sich bald über ganz Italien erstreckt. Die Stimmung heizt sich immer mehr auf und bald stehen Messerstechereien und Straßenkämpfe in fast allen Großstädten auf der Tagesordnung. Mit Sorge erkennt man beim Lesen die Parallelen zur heutigen Gesellschaft: Wohnungsnot, finanzielle Sorgen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden befeuerten die populistischen Kräfte schon damals. Das macht den Roman hochaktuell – und die Szenen, in denen sich zeigt, wie plötzlich Frust und Wut in Gewalt umschlagen können, umso beklemmender. […] Tonino Miccichè, ein fünfundzwanzigjähriger Sizilianer [...] war ein geschickter Organisator […] und hatte alles so hervorragend geregelt, dass man ihn scherzhaft den »Bürgermeister von Falchera« nannte. Dort, in Falchera, war einem der »offiziellen« Wachmänner versehentlich eine zweite Garage zugeteilt worden, und die Besetzer hatten ihn mehrfach gebeten, sie ihnen für ihre Treffen zu überlassen, damit sie abends nicht immer so viel Lärm auf der Straße veranstalten mussten. Doch der Wachmann blieb eisern. Eines Abends brachen sie deshalb kurzerhand die Garagentür auf und schoben das Auto davor. […] Ein paar Minuten später schnappte der Wachmann sich seine Pistole und kam […] herunter. Miccichè trat versöhnlich lächelnd auf [ihn][…] zu. Der Wachmann schoss ihm genau zwischen die Augen. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Die Autorin hält sich an Fakten, vergisst aber die Emotionen nicht Marta Barone deckt die dunklen Ecken der jüngeren italienischen Geschichte auf und orientiert sich dabei eng an den Fakten. Sie verzichtet auf aufbauschende, dramatisierende Formulierungen und vermeidet Spekulationen über die persönlichen Motive und Gefühle der Menschen. Trotz der sachlichen Beschreibungen weckt die Erzählung auch Emotionen. Fesselnd und in wunderbaren Sprachbildern erzählt Marta Barone von dem, was sie selbst wahrnimmt und mit Sicherheit sagen kann. Diese detailverliebten, poetischen Skizzen übersetzt Jan Schönherr hervorragend ins Deutsche. Meine Vergangenheit erschien mir wie ein einziger, langer Tag […] Vage, aber deutlich wahrnehmbar, empfand ich völlige Kontinuität zwischen meinem Bewusstsein von mir selbst mit acht, zwölf oder zwanzig Jahren und dem von heute. Das meiste, was ich gesehen und erlebt hatte […], war mir so präsent wie meine gelbe Obstschale, wie die Grille, die den Sommer überlebt hatte und noch immer einsam vor meinem Fenster zirpte, wie das Glucksen des Neugeborenen von nebenan. Quelle: Marta Barone - Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand Gastland Italien hält noch viele Entdeckungen bereit Der autofiktionale Roman ist eine vielschichtige Erzählung, die weit über die Biografie des Vaters hinausgeht. Kunstvoll verwebt Marta Barone die persönliche Geschichte des Vaters mit der Geschichte Italiens und Vergangenes mit Gegenwärtigem. Erstmals wurde ein Roman der erfolgreichen italienischen Schriftstellerin ins Deutsche übersetzt. „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ zeigt, dass Italien, das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse, nicht nur mit politischen Kontroversen auf sich aufmerksam macht, sondern es dort vor allem literarisch noch viel zu entdecken gibt.…
Der Vorwurf: Terrorpropaganda. Sandra Hetzl von der Autorenvereinigung PEN Berlin begleitet den Prozess in Istanbul. Im Lesenswert-Gespräch spricht sie darüber, wie die türkischen Behörden zusammen mit regierungstreuen Medien, unbequeme Autoren, wie Yavuz Ekinci verfolgen. Ein weiterer Roman von Yavuz Ekinci wurde auf Deutsch übersetzt:…
„Ich brauche immer mehrere kleine Nebenjobs wie Übersetzungen oder Artikel“, erzählt er im Lesenswert-Gespräch. Über das Thema Geld wird unter Autorinnen und Autoren kaum gesprochen, sagt er, das sollte sich ändern.
Leserinnen und Leser von Pippi Langstrumpf wissen, wie klug das stärkste Mädchen der Welt ist – auch wenn seine Schulbildung zu wünschen übriglässt. Pippi sagt: „Wenn das Herz nur warm ist und schlägt, wie es schlagen soll, dann friert man nicht.“ Dieses Zitat ist eines von dreien, die Ulrike Draesner ihrem Buch voranstellt: Es bleibt im Gedächtnis und begleitet uns beim Lesen dieser ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Draesners Tochter Mary ist drei Jahre alt, als die beiden sich kennenlernen. Eine Adoption in Sri Lanka Bis dahin hat das Mädchen in einem von Schwestern geführten Kinderheim auf Sri Lanka gelebt. Die Autorin und ihr damaliger Mann reisen für die Adoption dorthin: endlich - nach Fehlgeburten und einem langen bürokratischen Verfahren: Sie trug ein hellgelbes ärmelloses Kleid mit schwachem Blümchenaufdruck, es war peinlich sauber, wie wir später sahen, wenn auch nicht neu, und sie drehte sich ein paar Mal zu uns um, als ahnte sie, dass wir ihretwegen gekommen waren. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Wie lernen Eltern und Kind sich kennen und lieben? Was bedeutet es, wenn dieses Kind von einer anderen Frau geboren wurde, dazu in einem anderen Land, es zunächst keine gemeinsame Sprache gibt und das alles für Außenstehende ganz offensichtlich ist? Die Bedeutung von Familie Was bedeutet Familie? Ulrike Draesner erzählt eine sehr persönliche Geschichte, doch weitet sie sie klug, und deshalb geht es in „zu lieben“ immer auch um unser sich wandelndes Familienbild und eine Gesellschaft, die auf fremd Erscheinendes oft skeptisch blickt. Ah, adoptiert“, sagt man zu mir. Ein „nur“ schwingt mit. Das Zweiteklassegefühl stellt sich ein. „Aus Sri Lanka“, sage ich. Mein Gegenüber sagt: „Ach deswegen.“ Ich nehme an, er oder sie meint unser „diverses“ Äußeres. Jetzt ist es erklärt.: „Nur adoptiert.“ Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Draesner widerlegt dieses „nur“ auf knapp 350 Seiten eindringlich. Es geht um Überwindung von anfänglicher Fremdheit mit Liebe, Mut und Zutrauen. Auch das Kind hat Angst. So duldet Mary lange keine Berührung von der Frau, die ihre Mutter werden will und wird. Mary ließ sich gern Dinge zeigen. Wir schwitzten und führten vor, wir waren erschöpft und grinsten, wir sprangen durch den Sand, und die Flöhe bissen uns in Füße und Waden. Wir wurden angelächelt, sie winkte uns zum Abschied vom Arm einer Helferin. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Auch formal ist dieses Buch von Ulrike Draesner (wieder) hochspannend. Auf dem Cover steht Roman – allerdings ist das Wort durchgestrichen, beinhaltet also das „Ja“ und das „Nein“, und tatsächlich ist „zu lieben“ beides, autobiographische Erzählung UND Roman. Im Text finden sich ebenfalls ab und zu durchgestrichene Sätze oder Worte, die von der Suche nach dem passenden Ausdruck zeugen sowie am Beginn einzelner Kapitel aus Buchstaben und Worten geformte Vignetten, zum Beispiel eine Fahne aus den Worten schwarz rot gold. Einfluss von Elternschaft auf die Ehepartner Draesner erforscht, was Elternschaft, was Mutterschaft bedeutet. Und während die Liebe zwischen Eltern und Kind wächst, schleicht sich die zwischen den Ehepartnern auf leisen Sohlen davon. Beide, die Ich-Erzählerin und ihr Mann, vereinsamen und können einander in diesem schwierigen Prozess nicht wirklich helfen: Hunter sagte, ich sollte erwachsen sein. Sagte es leise, wie nebenbei, als wäre es nichts. Während er es sagte, verlor ich seine Augen, ich meine, sie wurden leer, es war, als spiegelte ich mich nicht mehr in ihnen, als rutschte ich an ihm ab. Ich rutschte aus ihm heraus. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben Dieses Buch trifft ins Herz, so dicht, so unmittelbar ist es erzählt, doch immer wieder wechselt die Autorin den Ton, analysiert, reflektiert, fragt: In welcher Gesellschaft wollen wir leben – mit welchem Familienbild? Das Thema Mutterschaft ist ein großes in den Neuerscheinungen dieses Herbstes, hier wird es auf noch einmal andere Weise erzählt. Eine ebenso schmerzhafte wie beglückende Lektüre: Ich sage: „Mary ist meine Tochter.“ Es ist ein sehr genauer Satz. Mein genauester Satz. „Ever“, würde Mary sagen. „Dein genauester Satz, Mama, ever.“ Wir haben ihn uns erlebt. Wir erleben ihn uns jeden Tag. Quelle: Ulrike Draesner - zu lieben…
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