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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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×Als 1861 der Amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, handelte es sich nicht nur um eine Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern der Sklaverei und ihren Gegnern. Auf dem Spiel stand auch, in welche Richtung sich die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln würde. Viele Bürger im Norden betrachteten die wohlhabenden Plantagenbesitzer im Süden mit Argwohn. Ihre Erscheinung erinnerte sie an die Aristokraten in Europa. Bei dem politischen Kampf gegen die Sklaverei ging es daher nicht allein um das Schicksal der Betroffenen, sondern vor allem darum, dass deren Existenz auch eine Bedrohung für die Demokratie darstellte. Das Versprechen der Gleichheit In ihrem 1991 erschienenen Essay über die historischen Grundlagen der amerikanischen Staatsbürgerschaft hat Judith Shklar diese mit der Sklaverei verbundene Beunruhigung in den Mittelpunkt ihrer politischen Überlegungen gestellt. Nun liegt ihr Essay erstmals in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel „Wählen und Verdienen“ vor. An politischen Wahlen teilnehmen zu dürfen und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen zu können, sind nach Shklar die beiden Aspekte amerikanischer Staatsbürgerschaft, die im American Dream zu einem einzigartigen Versprechen verschmolzen sind. Beides wurde den Sklaven vorenthalten, warum ihr Schicksal eine Warnung bedeuten konnte, aber zugleich auch Abneigung erzeugte, wie die Politologin ausführt: Wie wir wissen, rief der Bürgerkrieg vor allem unter den städtischen Arbeitern des Nordens keine Begeisterungsstürme hervor, und Rassismus war unter ihnen weit verbreitet. Wenn Sklaverei als eine Bedrohung und Anomalie in einer demokratischen Gesellschaft gefürchtet war, dann war der Sklave in Wirklichkeit noch sehr viel mehr verachtet und gehasst. Die Ideologie der freien Arbeit fürchtete die Sklaverei, aber hasste den Sklaven. Quelle: Judith N. Shklar – Wählen und Verdienen Der Kampf um das Wahlrecht In der amerikanischen Gesellschaft stellte die Sklaverei einen schwerwiegenden Widerspruch dar. Inmitten der Neuen Welt, die allen Bewohnern die gleichen Bürgerrechte zusicherte, lebten Menschen, die aller Rechte beraubt waren. Dass das überhaupt möglich war, trieb vor allem diejenigen um, die ebenfalls nicht in den vollen Genuss der Bürgerrechte kamen. Weder Arbeiter noch Frauen durften wählen. Auch wenn ihnen niemals drohte, versklavt zu werden, verglichen sie ihre politische Stellung dennoch mit der Existenz der Sklaven. So war es ausgerechnet die Sklaverei, die den Kampf um das allgemeine Wahlrecht in Gang setzte, wie Shklar erläutert: Was der Staatsbürgerschaft als Stellung ihre historische Bedeutung verlieh, ist nicht die Tatsache, dass sie für so lange Zeit so vielen verweigert wurde, sondern, dass diese Exklusion in einer Republik geschah, die nach außen hin der politischen Gleichheit verpflichtet war und deren Bürger glaubten, dass sie einer freien und gerechten Gesellschaft angehörten. Quelle: Judith N. Shklar – Wählen und Verdienen Das Recht auf Arbeit Der hohe Wert, der in Amerika bereits im 19. Jahrhundert über alle Schichten hinweg dem Wahlrecht und der Arbeit beigemessen wurde, hat für Shklar in der Sklaverei seinen historischen Ausgangspunkt. Obwohl sich das Mitgefühl mit den Sklaven aufgrund eines weit verbreiteten Rassismus in Grenzen hielt, bildeten sie dennoch den Gegenpol zur Vorstellung eines freien Amerikaners, der sich selbst erhält und selbst bestimmt. Die Folgen dieser Entwicklung sind bis heute spürbar. So hat sich in den USA nie ein Sozialstaat herausgebildet. Alle politischen Institutionen sind dem Ziel der Vollbeschäftigung verpflichtet. Der self-made man, und heute auch die Frau, ist das Ideal der amerikanischen Gesellschaft. Judith Shklar, die bis zu ihrem Tod eine führende Vertreterin des Liberalismus war, hat mit diesem Essay ihrer politischen Haltung ein Denkmal gesetzt.…
Jeden Donnerstag macht sich der alte Nicasio auf Weg zum Friedhof. Ob es regnet, oder schneit, ob ihn der Ischias zwickt, oder die Lunge Probleme macht – der alte Herr lässt sich nicht abhalten, denn er will den kleinen Nuco besuchen, seinen Enkel, der hier in einer der Grabnischen liegt. Wie üblich haucht er auf das Glas, wischt mit seinem Taschentuch darüber, beugt sich näher heran und sagt: Ich hole dich hier raus, Nuco. Ich weiß zwar noch nicht, wann, aber ich hole dich hier raus. Nur Geduld. Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Eine traumatisierte Gemeinde Am 23. Oktober 1980 ist Nicasios Enkel Nuco gestorben. Seine Schule im kleinen Dorf Ortuella im Baskenland explodierte aufgrund einer defekten Gasleitung. Fünfzig Kinder und drei Erwachsene verloren ihr Leben, die Explosion war noch in sechs Kilometern Entfernung zu hören. Das Unglück traumatisierte die kleine Gemeinde, die furchtbaren Bilder prägten sich ins kollektive Gedächtnis ein. Zwischen den Trümmern sah man geborstene Schreibpulte und verbogene Stühle. Überall lagen die Körper fünf und sechsjähriger Kinder auf der Straße, blutüberströmt, zerfetzt, die Kleidung zerrissen. Einige waren durch die Luft geflogen und verrenkt und entstellt auf einer Seite des Schulhofs gelandet. Und wo bis kurz vor Mittag noch die Klassenräume der Kleinsten gewesen waren, gähnten jetzt drei gewaltige Löcher (…) Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Diese reale Katastrophe bildet die Grundlage für Fernando Aramburus neuen Roman Der Junge . Die Geschichte konzentriert sich auf die Familie des bei dem Unglück gestorbenen kleinen Nuco. Aramburu erzählt das gemeinsame Trauma des kleinen Ortes anhand der Familie des toten Nucos – Großvater Nicasio, Mutter Mariaje und Vater José Miguel. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Mariaje und eines Erzählers geschildert. Zudem gibt es eine dritte, distanziertere Ebene: Der Roman, und durch ihn der Autor selbst, meldet sich zu Wort und reflektiert den eigenen Schreibprozess. Er sei, lässt der Text seine Leserinnen und Leser wissen, nur eine „Summe von Wörtern, die so angeordnet sind, dass sie eine Bedeutung erlangen“. Da sich das Unglück von Ortuella wirklich ereignet hat, es sich also nicht um fiktives Leid handelt, ist sich der Text seiner Verantwortung bewusst. Er kann, wenn der Autor nicht sorgfältig genug vorgeht, ins Melodramatische abrutschen. Oder schlimmer noch: er müsse sich vorwerfen lassen, eine „gute Geschichte“ auf Kosten des Leids der Hinterbliebenen zu erzählen. Trotzdem bedrängt mich die Sorge, gegen meinen Willen zu kunstvoll, zu literarisch zu werden und am Ende ein Büchlein hervorzubringen, das wie ein Roman daherkommt und Gefahr laufen könnte, mögliche Leser zu Beifall oder sogar Lob zu bewegen, und dies auf Kosten einer Tragödie, die für viele Familien ein furchtbarer Schicksalsschlag gewesen ist. Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Taktvolle Sprache für das Leid Doch die Sorge des Textes, die Sorge Aramburus, ist unbegründet – denn das Buch trifft immer den richtigen Ton. Das gelingt auch, weil sich Aramburu als Erzähler zurücknimmt. Er verzichtet auf Metaphern und andere sprachliche Stilmittel, baut nicht künstlich Spannung auf durch Cliffhanger oder überraschende Wendungen. Stattdessen erkundet Aramburu die inneren Dramen und das Leid seiner Charaktere auf taktvolle Weise und gibt ihnen so angemessenen Raum. José Miguel will sich nicht von der Traurigkeit besiegen lassen und überredet Mariaje dazu, mit ihm ein weiteres Kind zu zeugen. Doch Mariaje verliert nach und nach alle Zuneigung zu ihrem Mann. Die stärkste Figur ist der alte Nicasio, der sich trotzig weigert, den Tod seines Enkels zu akzeptieren. Der Schmerz des alten Mannes ist in vielen Szenen greifbar. Als Mariaje das Kinderzimmer ausräumen will, baut der Großvater kurzerhand alles in seiner eigenen Wohnung wieder auf. Nicasio wollte in seiner Wohnung nicht nur Nucos Möbel wieder originalgetreu aufstellen, sondern desgleichen mit dem Inhalt der Schubladen verfahren, mit den Bildern an den Wänden, den Figürchen, Büchern, der herumliegenden Spielsachen. Zu diesem Zweck verbrachte er, da er keinen Fotoapparat besaß, einen ganzen Nachmittag in der Wohnung seiner Tochter, machte allerhand Notizen und zeichnete unzählige Pläne. Quelle: Fernando Aramburu – Der Junge Ein abruptes Ende Es gibt wohl keine perfekten Worte für den Verlust eines Kindes, aber dieses Buch kommt ganz nah heran. Aramburu gelingt es, das unermessliche Leid mit Respekt und Feingefühl zu schildern, ohne ins Sentimentale abzudriften. Einzig das abrupte Ende der Geschichte überzeugt nicht. Die Handlung franst aus, verliert sich in privaten Details von Mariaje, insgesamt wirkt das Büchlein schlicht zu schmal, die Geschichte nur halb fertig erzählt – warum Aramburu „Der Junge“ so kurz gehalten hat, bleibt sein Geheimnis. Frühere Werke, wie der Bestseller „Patria“ oder auch „Die Mauersegler“ waren epochale, dicke Bücher. Dennoch bleibt „Der Junge“ ein intensives und tief berührendes Leseerlebnis. Und trotz seiner Kürze entfaltet der Roman eine große emotionale Wucht – nicht zuletzt durch Aramburus präzise, schnörkellose Sprache, die den Schmerz umso eindringlicher macht.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Rainer Maria Rilke gilt als der meistgelesene deutschsprachige Dichter. Selbst denen, die mit Lyrik sonst nicht allzu viel am Hut haben, sind schon Zeilen oder Verse von ihm begegnet - mindestens das Gedicht „Der Panther", das zu seinen bekanntesten Texten zählt. Zwei neue Rilke-Biografien Am 4. Dezember 2025 wäre Rainer Maria Rilke 150 Jahre alt geworden. Zwei neue Biografien widmen sich dem charismatischen Lyriker: Silke Arning hat beide Bücher gelesen und erzählt im Gespräch, was die beiden Autoren Neues herausgefunden haben. Sandra Richters „Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben“ Sandra Richter, Leiterin des Literaturarchivs in Marbach, schreibt über „Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben“. In Sandra Richters Biografie über den „Menschenfänger" Rainer Maria Rilke erfahren die Lesenden auch viel über Clara Rilke-Westhoff, Bildhauerin, Malerin und Ehefrau des Dichters, und darüber, wie sie ihn und sein Schaffen beeinflusste, weiß Silke Arning. Der Literaturkritiker Manfred Koch über „Rilke. Dichter der Angst“ Manfred Koch hat seiner umfangreichen Studie den Titel „Rilke. Dichter der Angst“ gegeben. Sein Buch beginnt mit Rilkes erstem Aufenthalt in Paris 1902. Im Folgenden dreht es sich um Rilkes Produktivität, die der Lyriker aus der Angst schöpfte. Ein Produkt seiner „Angstdichtung": das Gedicht „Der Panther".…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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1 „Wir wollen dem Publikum ein Gegenüber sein": Insa Wilke über das Literaturfestival „Lesen.Hören“ 9:15
Mit Insa Wilke haben wir über die Herausforderungen der Programmgestaltung, die Wünsche des Publikums und über die Vermittlerfunktion der Veranstaltung in einer Krisenzeit der Buchbranche gesprochen. „Lesen.Hören“: ein vielfältiges Programm Den Festivalauftakt machen Mely Kiyak und Max Uthoff . Die Mischung aus guter Unterhaltung und Anspruch mache ein gutes Festivalprogramm, weiß Insa Wilke. Die Schriftstellerin Mely Kiyak ist Preisträgerin des Heinrich-Mann-Preis 2025 für Essayistik der Akademie der Künste. Max Uthoff, bekannt aus „Die Anstalt", macht politisches Kabarett. In der Alten Feuerwache in Mannheim wird es im Rahmen von „Lesen.Hören" Veranstaltungen mit Nele Pollatschek, Julia Schoch, Asal Dardan, Joshua Gross, Abdalrahman Alqalaq, Antje Rávik Strubel und anderen Autorinnen und Autoren geben.…
Im Hintergrund die Berge, im Vordergrund die Bücher. Bücherberge, sozusagen. Die Berge: schneebedeckt. Die Bücher: ein Stapel, als weißer Schatten. So sieht das Umschlagbild für Monika Helfers schmuckes Büchlein „Der Bücherfreund“ aus. Wenn man es aufschlägt, riecht es nach Druckerschwärze und nach Farbe. Das liegt an den Illustrationen von Kat Menschik, die auch das Titelbild gestaltet hat. Viele Tiere sind da zu sehen. Ein Rehbock, ein Schimpanse, übergroße Insekten. Und Bücher, gestapelt oder aufgeblättert, so dass sie zu fliegen scheinen wie Schmetterlinge, Bücher auf einer Bergwiese und Bücher im Bücherregal. All das sind Motive aus Monika Helfers Geschichte. Es ist die Geschichte ihres Vaters und die Geschichte ihrer eigenen Kindheit auf der Tschengla, einem Alpen-Hochplateau in Vorarlberg. Mein Vati war der Bücherfreund. Ein blasser Mann, der das Wetter mied und Tag und Nacht über seinen Büchern saß. Das heißt, wenn er Zeit hatte, und Zeit hatte er viel. Er liebte seine Bücher mehr als die Menschen, denn die konnten ihm Böses antun. Die Bücher niemals und nie. Quelle: Monika Helfer – Der Bücherfreund Kurzversion als Legende Die Geschichte ihres Vaters hat Monika Helfer vor ein paar Jahren schon einmal in dem Roman „Vati“ erzählt. Jetzt liefert sie die Kurzversion als Legende, kondensiert aufs Wesentliche. Das Wesentliche aber sind die Bücher. Der Vater, kriegsversehrt, weil ihm als Soldat Hitlers in Russland ein Bein erfror und amputiert werden musste, verliebte sich im Lazarett in die Krankenschwester. Die beiden heirateten und leiteten nach dem Krieg ein „Kriegsopfererholungsheim“ hoch oben auf der Tschengla. Dort wurden Monika Helfer, ihre Schwester und ihr Bruder geboren. Ein Heidelberger Professor, dessen kriegsbeschädigter Sohn dort dauerhaft unterkam, spendete seine Büchersammlung, die der Vater sorgsam hütete. Zur 2998 Bände umfassenden Bibliothek hatte außer ihm selbst nur die Tochter Monika Zutritt. Er zeigte mir, wie man ein Buch richtig aufschlägt, damit der Buchrücken nicht schief und die Fadenheftung nicht versehrt wird. Man nimmt ein Buch aus dem Regal, streicht mit den Fingern beider Hände darüber, dann öffnet man es leicht, steckt die Nase hinein und riecht, und dann erst blättert man und sucht eine Stelle, die man lesen möchte. Quelle: Monika Helfer – Der Bücherfreund Unerfüllter Wunsch Die Bücher sind die Unversehrten im Kriegsversehrtenheim. Weil Menschen Böses tun, müssen die Bücher vor ihnen geschützt werden. Gleichwohl ist der Vater ein leidenschaftlicher Leser und verhinderter Wissenschaftler. Bücher und Wissenschaft gehören für ihn zusammen; das Menschheitswissen ist sein Trost. Als unehelicher Sohn eines reichen Bauern und seiner Magd brachte er sich als Kind selbst Lesen und Schreiben bei, wuchs in einem Klosterinternat auf und hätte studiert, wenn nicht der Krieg dazwischengekommen wäre. Sein größter Wunsch, dass eines Tages sein Name mit einem Doktor davor an der Tür eines Laboratoriums stehen möge, ging deshalb nicht in Erfüllung. Ganz ähnlich klingt dann aber auch der Wunsch der Tochter: Beim Nachhausegehen fragte er mich aus. Was ich einmal werden möchte. Ich sagte, ich möchte Schriftstellerin werden. Da lachte er und fragte, warum. Ich sagte: „Ich möchte, dass irgendwann mein Name auf einem Buchrücken steht.“ Quelle: Monika Helfer – Der Bücherfreund Wie wir wissen, hat dieser Wunsch sich erfüllt. Nach Monika Helfers Roman „Vati“ ist auch die Legende vom Bücherfreund ein Vermächtnis, mit dem die Welt der Bücher, der sich der Vater verschrieben hatte, auf ganz andere Weise bewahrt wird. Das Kindheitsparadies – nichts anderes war diese abgelegene Bergwelt mit dem Bücherschatz im Herzen – war wie jedes Paradies nicht von Dauer. Die Mutter starb, das Heim wurde aufgelöst und in ein Hotel umgewandelt, die Familie musste raus, die Bibliothek sollte im Antiquariat verramscht werden. Diesen Gedanken konnte der Vater nicht ertragen und suchte nach einem Weg, um die Bücher, wenigstens die guten, also fast alle, zu retten. Doch wie unterscheidet man gute von schlechten Büchern? Seine Antwort ist einfach: Am Geruch. Bei guten Büchern verwendet der Buchbinder besseres Papier und besseren Leim. Aber natürlich weiß er auch, dass erst die Lektüre wirklichen Aufschluss gibt. Der Vater kann sich von keinem einzigen seiner Bücher trennen. Keine autofiktionale Literatur Der Stoff mag mehr oder minder autobiographisch sein, doch Monika Helfer ist meilenweit entfernt von der gängigen autofiktionalen Literatur etwa von Annie Ernaux, Édouard Louis oder Karl Ove Knausgard. Ihr nahezu märchenhafter Es-war-einmal-Tonfall katapultiert das Erzählte aus der bloßen Erlebnishaftigkeit heraus. Die Verdichtung des Stoffs und die reduzierte Sparsamkeit des Ausdrucks, die zu knappen, präzisen Sätzen führt, sind geradezu das Gegenteil der barocken Überfülle eines Knausgard-Romans. Diese Verknappung konnte man schon in Helfers vorigem, Werk, der 365 Geschichten für jeden Tag umfassenden Sammlung „Wie die Welt weiterging“ bewundern. In „Der Bücherfreund“ gelingt es ihr erneut, historisches Material oder ganz Alltägliches in Literatur zu verwandeln und etwas entstehen zu lassen, das aus sich heraus lebt. So wie der Vater, der hier zu einer unvergesslichen Figur geworden ist.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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1 Von Jubiläen und Büchernarren: Neue Bücher von Monika Helfer, Feridun Zaimoglu, Fernando Aramburu und zwei Rilke Biografien von Sandra Richter und Manfred Koch 54:59
Das lesenswert Magazin mit Büchern von Monika Helfer, Feridun Zaimoglu, Fernando Aramburu und zwei Rilke Biografien von Sandra Richter und Manfred Koch
Eine Reise ans Ende der Nacht – davor warnt die Anmerkung am Anfang von Jennifer Downs Roman „Körper aus Licht“. Vernachlässigung, Verlust, sexualisierte Gewalt, Drogen- und Medikamentenmissbrauch werden als triggernde Inhalte benannt. Nein, dieses Buch ist keine leichte Unterhaltung. Über mehr als vier Jahrzehnte – von 1975 bis 2018 – folgt die junge australische Schriftstellerin Jennifer Down ihrer Protagonistin Maggie bei deren Versuch, Stabilität in einem Leben zu gewinnen, das seit Kindertagen durch Brüche und Unsicherheit geprägt ist. Als vierjährige Halbwaise ist Maggie, die Tochter drogenabhängiger Eltern, nach der Inhaftierung ihres Vaters einer quälenden Odyssee durch Heime, Wohngruppen und Pflegefamilien ausgesetzt. Frühe Traumatisierung Knappe Dialoge in einer authentisch nachempfundenen Jugendsprache geben den Blick auf Abgründe frei. Im Kinderheim trainiert der Heimleiter die elfjährige Maggie und ihre Freundin Jodie im Tennis. Jodie trennt ihr Zimmer mit einem Perlenvorhang vom Flur ab. Maggie versteht nicht, warum Jodie das Geräusch der Perlen hasst. Warum nimmst du sie nicht ab? Darum. Sag. Damit ich weiß, wann er kommt. Warum musst du wissen, wann er kommt?, fragte ich. Du solltest dir auch so was besorgen, sagte sie. Und so wusste ich, was mich erwartete, noch bevor das Training in mein Zimmer wechselte. Und wenn ich Jodies Perlenvorhang klackern und zittern hörte, kam mir reflexartig ein Gedanke: wenigstens nicht ich. Ich hängte mir ein Windspiel an die Tür. Quelle: Jennifer Down – Körper aus Licht Erzählt wird Maggies Geschichte aus der Ich-Perspektive in einem Wechsel aus Rückblende und Gegenwart. Maggie ist Mitte vierzig und lebt unter neuem Namen in den USA, als die Facebook-Nachricht eines Mannes sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Die Stationen ihrer Kindheit und Jugend sind nach Orten und Jahreszahlen geordnet. Wobei Ordnung hier eher als staatlich legitimiertes Chaos zu begreifen ist. Maggie lernt früh, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. „Ich war still und gewieft, und man bemerkte mich kaum“, erinnert sich die Erzählerin an ihre Rolle bei kindlichen Versteckspielen. Mit dieser Taktik überlebt sie das Trauma der Fürsorgejahre. Spätfolgen der staatlichen Fürsorge Der Start in ein bürgerliches Leben mit Ehemann und Kind scheitert, als Maggie sich nach dem plötzlichen Tod ihrer Babys mit der Anklage der Kindstötung konfrontiert sieht. Ihre unklare Vergangenheit macht sie verdächtig. Maggie taucht ab. Sie jobbt unter neuem Namen in Neuseeland, zieht nach Amerika und bewahrt das Geheimnis ihrer Herkunft. Die vertrauensvollen Beziehungen, nach denen sie sich sehnt, verhindert sie selbst immer wieder. Jennifer Downs präzise Sprache richtet den Blick auf retraumatisierende Details wie Gerüche oder Landschaften, die Maggie bei unterschiedlichen Anlässen immer wieder überwältigen. Zwei Kritikpunkte mag man bei diesem insgesamt beeindruckenden Roman anführen. Die endlose Serie gescheiterter Beziehungen, Maggies Drogensucht und Obdachlosigkeit erwecken den Eindruck, als wolle die Autorin wie in einer Anklageschrift alle denkbaren Folgen einer verfehlten staatlichen Fürsorge abarbeiten. Hier hat der 540-Seiten-Roman durchaus Längen. Wenig glaubwürdig ist auch, dass die in Existenzkämpfen gefangene Maggie sich bildungshungrig in öffentlichen Bibliotheken durch die Klassiker liest. Da verlässt die ansonsten so einfühlsam erzählende Jennifer Down die Augenhöhe mit ihrer Protagonistin, um ein höheres Sprachniveau der Hauptfigur zu rechtfertigen. Hoffnung vermittelt der Roman durch Maggies unglaubliche Resilienz. Und durch den Umstand, dass sich Menschen finden, die ihr die Fürsorge geben, die der Staat ihr in Kindheit und Jugend nicht zuteil werden ließ. Gute Literatur darf ihren Leserinnen und Lesern etwas zumuten. Von Triggerwarnungen sollte man sich hier also nicht abschrecken lassen.…
„Die ganze Welt ist Bühne und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“ So heißt es bei Shakespeare und so steht es gleich auf den ersten Seiten von Richard Sennetts neuem Buch mit dem Titel „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“. Das klingt nach einer systematischen Studie zum Thema Rollenspiel und Präsentation, doch über solche Erwartungen setzt sich der betagte Autor souverän und ziemlich unbesorgt hinweg. Schauspiel und Ritual In lockerer Folge lässt Sennett zunächst vor allem eigene Bühnen- und Kunsterfahrungen seit den 1960er Jahre Revue passieren. Er erinnert sich an New Yorker Tanzexperimente in Parks und auf Gebäudedächern oder an eine Shakespeare-Inszenierung von todgeweihten AIDS-Patienten, an der er die Differenz zwischen Bühnenperformance und religiösem Ritual festmacht. In der Aufführung lag eine kreative Trotzhaltung gegenüber dem Tod, in dem vom Priester angebotenen Ritual dagegen eine tröstliche Hinnahme des Todes. In mir selbst bestand ein unbehagliches Nebeneinander dieser beiden Wege, dem Tod zu begegnen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Sennetts essayistisch-erzählerischer Stil kennt keinen Soziologenjargon, und das ist gut so. Weniger schön ist es, dass seine Schlussfolgerungen in diesem Buch oft so nebulös wie hier ausfallen. Theatergeschichte und andere Themen Sennett umkreist sein Thema des menschlichen Darstellungswillens anhand von zahlreichen Anekdoten, Beispielen und Überlegungen, die meist mit theatralen Bühnenereignissen zu tun haben. Daneben referiert er Ideen von Hannah Arendt , bei der er studiert hat, von Roland Barthes, mit dem er befreundet war oder Norbert Elias, mit dem er durch New Yorker Straßen spazierte. Zweifellos beweist der Autor bei all dem große Belesenheit, wenn er etwa die allmähliche Verlagerung der öffentlichen Schauspiele von den Plätzen und Straßen der Antike in feste Spielorte wie das Teatro Olimpico im Vicenza der Renaissance nachzeichnet. Aber vieles von dem, was er hier ausbreitet, ist geläufiger Wissensstoff der Theatergeschichte, der keine neuen Erkenntnisse mit sich bringt. Die „bösartigen Darbietungen“ der Politik Im Vorwort verweist Sennett auf zwei prominente Demagogen, die gerade die „Bühne der Öffentlichkeit“ beherrschten, als er mit der Arbeit an diesem Essay begann. Er schreibt: Donald Trump in den USA und Boris Johnson in Großbritannien sind geschickte Darsteller. Bei bösartigen Darbietungen dieser Art werden allerdings dieselben Ausdrucksmittel eingesetzt wie bei anderen Ausdrucksformen. Quelle: Richard Sennett – Der darstellende Mensch Das ist kurz und ungenau und da es nirgendwo weiter ausdifferenziert wird, schlichtweg nichtssagend. Andere historische Großdarsteller wie Lenin, Hitler oder Mao kommen überhaupt nicht vor, genauso wenig wie der Kurzschluss zwischen Führern und ihrer Gefolgschaft im Populismus. Das heißt, die Politik wird nur im Buchtitel genannt, ist aber im übrigen praktisch ein Totalausfall. Kurzum, der Fehler dieses Buches liegt in seiner Konstruktion. Die Ausgangsfrage des Essays, „wie hohe Kunst Bedeutung für das alltägliche Leben erlangen könnte“, gerät bald aus dem Blick. Greifbare Antworten darauf finden sich jedenfalls in diesen sprunghaft aneinandergereihten Reminiszenzen und Reflexionen eines Soziologen nicht. Richard Sennett hat schon großartige Bücher geschrieben, dieses gehört leider nicht dazu.…
Noburo denkt groß. Er hat gewaltige Pläne. Will ein Held werden. Mit seinen 13 Jahren geht er ganz in existentialistischem Pathos auf. Mit gleichgesinnten Freunden träumt der kleine Romantiker von einer anderen Welt, in der alles Verweichlichte ausgemerzt ist. Nietzsche hat hier im japanischen Yokohama einen glühenden Verehrer gefunden. Diese Jungs wollen eine Gesellschaft mit eigener Moral, in der das Recht des Stärkeren und des Unbedingten gilt. Nur Verachtung haben sie übrig für die schwächliche Vätergeneration. Fremde Werte und Ästhetik lehnen sie ab. Zwischen Tradition und Moderne Noburus Mutter Fusako, die sich nach dem Tod ihres Mannes alleine um ihren Sohn kümmert, scheint all das von den Jugendlichen Abgelehnte zu repräsentieren: Sie führt ein Geschäft, in dem westliche Mode angeboten wird. Das Japan der Nachkriegszeit, in dem Yukio Mishimas Roman „Der Held der See“ spielt, scheint hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne. Da taucht Ryuchi auf, ein Seemann, der zum Geliebten der Mutter wird. Noburu ist zunächst fasziniert von diesem Mann. Ryuchi scheint all das zu verkörpern, wonach er selbst strebt: Freiheit, Abenteuerlust und Todesverachtung. Und all diese Sehnsüchte bündeln sich im Meer. Als der Junge seine Mutter und ihren Verehrer durch ein kleines Guckloch beim Liebesakt beobachtet und im Hintergrund das Horn eines Schiffes ertönt, hat er ein fast epiphanisches Erlebnis: Der Mond, die Meeresbrise, der Schweiß, das Parfüm, das nackte Fleisch des reifen Mannes und der reifen Frau, die Spuren der Fahrten auf See, die Reste der Erinnerung an die Häfen der Welt. Erst durch das Horn waren sie eine kosmische Verbindung eingegangen und hatten Einblick in den unentrinnbaren Kreislauf des Daseins gewährt. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Rache am Verräter Mit Ryuchi, der selbst von einem ruhmreichen Leben träumt, sich aber gegen das Meer und für die Ehe mit Fusako entscheidet, erlebt der Junge eine abgrundtiefe Enttäuschung: Fast wie eine Schmähung und Beleidigung nimmt er dessen Verrat an Männlichkeit und Wagemut wahr. Er erzählt seinen Freunden davon, und sie beschließen, diesen Verrat zu rächen. Wir brauchen Blut! Menschliches Blut! Sonst wird unsere leere Welt verwelken und verdorren. Wir müssen das lebendige Blut aus diesem Mann herauspressen und es wie eine lebensspendende Transfusion dem sterbenden Universum, dem sterbenden Himmel, den sterbenden Wäldern und der sterbenden Erde zuführen. Quelle: Yukio Mishima – Der Held der See Yukio Mishima war eine der schillerndsten und zwiespältigsten Figuren der Literaturgeschichte: Mit seinen avancierten Romanen – gerade auch mit „Der Held der See“ – hat er Klassikerstatus erlangt. Zugleich war er ein glühender Nationalist und wird bis heute von Rechtsradikalen verehrt. Sein „Held der See“, übrigens in angemessener poetischer Kühle übersetzt von Ursula Gräfe, ist ein mit scharfen Kontrasten spielendes Werk: Meer und Land, Idealismus und Realismus, Glaube und Entfremdung, Dekadenz und Einfachheit, Oben und Unten. Bedrohlich und gegenwärtig Die adoleszente Suche nach etwas Wahrhaftigem und Absolutem, so sehr sie auch in der japanischen Nachkriegszeit verortet ist, bekommt hier universellen Charakter. Die Verzweiflung, die durch eine verstörende Tat aufgehoben werden soll, war, als das Buch erschien, anschlussfähig: Eine amerikanische Verfilmung des Stoffes spricht ebenso dafür wie die auf dem Buch basierende Oper „Das verratene Meer“ von Hans Werner Henze. Liest man den Roman heute, fasziniert durchaus die konsequent mit Bedeutung aufgeladene, aber doch sehr nüchterne Sprache; die Schilderung von Gleichgültigkeit und Pathos und der zunehmenden Verrohung der Jugendlichen, die sich auf eine höhere Moral berufen. Zugleich aber ist der essentialistische Unterstrom dieses Buches, auch wenn man um die Ansichten Mishimas weiß, bedrohlich und trostlos – und nicht zuletzt kompatibel mit den Backlashs unserer Gegenwart.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Wem ein lukullisches Mal serviert wird, der bekommt in der Regel raffiniert zubereitete Speisen und edle Getränke. Man erhebt sein Glas auf „Lucullus“ – den König aller Schlemmer. Doch der Römer Lucius Licinius Lucullus war weitaus mehr als ein antiker Gourmet. Das beweist der deutsche Althistoriker Peter Scholz in seinem neuen Buch. Dessen Lebensgang – vom erfolgreichen Militär zum resignierten, zurückgezogen lebenden Gourmet und Genussmenschen – wurde zum anschaulichen Beleg für den Verfall und für die These vom längst überfälligen Ende der Republik und ihrer uneinsichtigen Verteidiger. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Lucullus und die Römische Republik Lucullus stammte aus einer wohlhabenden politisch agierenden Familie. Bereits sein Großvater hatte die Senatorenwürde erlangt. Lucullus gehörte der Partei der „Optimaten“ an, das heißt, er vertrat die eher konservative Aristokratie und war daher ein strikter Verfechter der Vorherrschaft des Senats. Peter Scholz schildert kenntnisreich und detailliert die Problematik der römischen Republik im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt. Neben dem klassischen, aristokratisch geprägten Senat gab es zu Zeiten des Lucullus auch plebeische Magistrate und Volksversammlungen mit ihren Volkstribunen. Als „conscripti“, als „Hinzugeschriebene“ gelang es alsbald reichen Plebejern, in den Senat aufgenommen zu werden. Gleichzeitig dehnte sich das römische Reich permanent aus. Nur mit großer Mühe regelten die verschiedenen Entscheidungsgremien – die schon lange nicht mehr mit einer Stimme sprachen – die Staatsgeschäfte der res publica. Lucullus als Politiker und Feldherr Im Jahr 74 v. Chr. wurde Lucullus zum Konsul gewählt. Seine militärischen Erfolge beruhten hauptsächlich auf der Befriedung der Provinz Asia. Dabei ging er diplomatisch vor, indem er selbst widerspenstigen Städten den Status „civitates liberae“ verlieh, ihnen also weitgehende Autonomie zusagte. Die Popularität des Lucullus in Kleinasien fand ihren sichtbaren Ausdruck in den Statuen, mit denen ihn verschiedene Bürgerschaften der Provinz Asia in den Folgejahren ehrten. Quelle: Peter Scholz – Lucullus Doch Lucullus konnte seinen Ruhm nicht festigen. Der Mann der Stunde hieß Gnaeus Pompeius Magnus. Mit teils diktatorischen Mitteln zügelte er den Senat und stärkte seine Position durch enorme militärische Erfolge. Sein späteres Geheimbündnis mit Gaius Julius Caesar weist schon den Weg in die Zukunft: das Ende der römischen Republik. Peter Scholz weist aber nach, dass sich Lucullus nicht rein ins Privatleben zurückzog. Seine aktive Teilnahme an Senatssitzungen ist bezeugt. Lucullus als Ästhet und Genießer Doch tatsächlich berühmt wurde er durch seinen erlesenen Geschmack – sei es in der Kunst, in der Ausstattung seiner Villen oder eben durch die erlesenen Speisen, die er seinen Gästen servierte. Doch genau aus diesem Verhalten kreierten seine Gegner das Bild eines Mannes, der hemmungslos seiner Genusssucht frönt. In dieser Schwundstufe ging er in die allgemeine Erinnerung ein: Als Mann, der die Süßkirsche aus Kerasos nach Italien und Westeuropa gebracht hatte, und nicht als erfolgreicher Feldherr und Politiker, der um die Freiheit der Republik gekämpft hatte. Quelle: Peter Scholz – Lucullus In seinem Buch „Lucullus. Herrschen und Genießen in der späten römischen Republik“ gelingt es Peter Scholz auf vorzügliche Weise, das bis heute geltende Bild von Lucullus als Genießer und Schlemmer zu revidieren. Mit dessen Lebensbild öffnet sich auch die historische Bühne der römischen Republik in ihrer Endzeit. Lucullus war jemand, der die Senatsdemokratie mit allen Mitteln verteidigte und mitansehen musste, wie diktatorisches Regieren an Macht gewann. Der Bürgerkrieg war die Folge, aus dem Julius Caesar als Sieger hervorgehen sollte. Damit bietet Peter Scholz nicht nur ein äußerst interessantes Sittenbild Roms, sondern auch eine Parabel auf heutige politische Gegebenheiten.…
„Es gibt drei große Männer in Deutschland. Thomas Mann, Heinrich Mann, Henselmann.“ Der Mann, der das sagte, hatte Humor. Aber auch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein: Es war der Architekt Hermann Henselmann. Der wohl bedeutendste Baukünstler der DDR war im Herzen immer ein Anhänger der Moderne. Als er 1949 aber an der Planung der Berliner Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, beteiligt war, musste er Kompromisse eingehen. Entsprechend des „Nationalen Aufbauprogramms“ war das klassizistische Erbe Doktrin. Henselmann entwarf die vier markanten Türme am Frankfurter Tor und am Strausberger Platz: dem östlichen und westlichen Ende der Allee. Bis heute aber ist sein Name Synonym für den gesamten Prachtboulevard mit historisierendem Antlitz. Florentine Anders meint: „Das ist auch ein bisschen Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet damit immer sein Name verbunden bleibt und Viele gar nicht wissen, dass er eigentlich viel mehr aus der Moderne kam und das dann auch durchgesetzt hat mit in der DDR, was man dann sieht am Haus des Lehrers und der Kongresshalle zum Beispiel." Oder dem weithin sichtbaren, unverwechselbaren Berliner Fernsehturm, der die Silhouette der Stadt bis heute prägt. – All diese Bauwerke sind Ikonen der Ostmoderne. Ihr Buch über den berühmten Großvater nennt Florentine Anders trotzdem „Die Allee“ – vielleicht hat sie da auch an den französischen Wortursprung „aller“ für „spazieren“ oder „gehen“ gedacht. Und so ist ihr Roman eine aufschlussreiche Wanderung: nicht nur durch das Leben des bekannten Architekten und seiner großen Familie, sondern auch entlang 100-jähriger Baugeschichte. Ein Roman nah an der Realität, der aus vielen Perspektiven berichtet Das Besondere daran: der persönliche Blick auf die Häuser und Menschen. Ein Blick zumal, der den realen Geschehnissen ganz nah auf den Fersen bleibt, selten in die Fiktion abschweift, viele Perspektiven einnimmt. Neben der Hermann Henselmanns auch die seiner Frau Irene, genannt Isi, die immer wieder versucht, in der Baukunst Fuß zu fassen. Isi will sich nicht länger der Herausforderung entziehen Und sich über entgangene Möglichkeiten ärgern. In der DDR kann auch eine Frau mit acht Kindern eine erfolgreiche Architektin sein. Den Beweis gilt es anzutreten. Für das Hochhaus in der Weber Wiese hat sie ihre ersten eigenen Entwürfe für funktionale Einbauküchen gemacht. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Sie orientiert sich dabei an der berühmten Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Bezeichnend: keine Häuser oder Wohngebiete, eine Küche entwirft Isi Henselmann. Mehr ist nicht drin, auch nicht in der jungen DDR. Das Haus an der Weberwiese, in das diese Küchen eingebaut werden, hat ihr Mann Hermann entworfen. Allerdings nur mit Mühe und Trotz hat er sein modernes Punkthochhaus gegen den Willen der Partei durchsetzen können. Und mit dem Zuspruch seines Freundes Bertolt Brecht, der ihm Mut machte. Hermann ist aufgebracht bringt laut und übersprudelnd all seine Argumente hervor. Brecht hört zu und reagiert dann reagiert ruhig und besänftigend. Die Arbeit der Klasse sei eben noch nicht reif für die Moderne. Der Künstler dürfe sich nicht über das Volk erheben, sondern müsse den Menschen kleinere Schritte zumuten und sie behutsam in die richtige Richtung bewegen. Erst wenn sich das Bewusstsein verändert habe, werde auch die neue Form populär werden. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Hermann Henselmann – eine komplexe Persönlichkeit Tochter Isa erlebte Brecht noch im Hause Henselmann. Sie ist die Mutter der Autorin. Auch sie ist eine Protagonistin des Romans. Isa hatte es als Kind nicht leicht in der Familie. Der zu Jähzorn und Wutausbrüchen neigende Vater hat sie oft verprügelt. Das Gesicht des Kindes auf den Fliesenboden geschlagen. Darüber zu schreiben, gehört dazu, sagt Florentine Anders. Sie selbst hat ihren Großvater vor allem als liebevollen Anreger kennengelernt. Hermann gab mir jedes Mal ein Buch, bis zum nächsten Treffen sollte ich es gelesen haben, damit wir gemeinsam darüber reden können. Er gab mir selbstverständlich keine Kinderbücher, sondern Bücher von Thomas Mann oder Bertolt Brecht. Jedes Mal lag eine kleine Auswahl, die er sich für mich überlegt hatte, auf seinem Schreibtisch und ich durfte mir ein Werk daraus auswählen. Quelle: Florentine Anders – Die Allee Die komplexe Persönlichkeit Henselmanns auf den Punkt gebracht hat die Schriftstellerin Brigitte Reimann, eine sehr enge Freundin der Familie, weiß Anders: „Brigitte Reimann hat einmal gesagt, wenn man Henselmann beschreiben will, dann muss man einfach alle Gegensätze die einem einfallen, aufzählen und dann liegt man so ganz richtig." Der Roman erzählt chronologisch und schaut dabei immer wieder auf die unterschiedlichen Lebensphasen und -entwürfe seiner drei Hauptpersonen Herrmann, seiner Frau Isi und Tochter Isa (eines der insgesamt acht Kinder!), blickt auf ihre Arbeitsweisen, Erfolge und Niederlagen, entwirft ein lebenspralles Bild dieser berühmten DDR-Familie. Ikonen der Ostmoderne – Vom Fernsehturm bis zum Haus des Lehrers Zugleich sieht man vor dem geistigen Auge die imposanten Türme am Strausberger Platz wachsen und die ersten Mieter in die großzügigen Wohnungen einziehen, darunter zahlreiche Trümmerfrauen und Arbeiterfamilien, erblickt den Fernsehturm mit seiner unverwechselbaren Kugel, um deren Urheberschaft zäh gestritten wurde und die Kongresshalle mit dem Haus des Lehrers am Alexanderplatz. „Die Allee“ ist nicht das erste Buch über Hermann Henselmann. Aber es eröffnet neue Perspektiven auf den Architekten, seine Bauten und die Menschen an seiner Seite.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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1 Von Herzen, durch Zeiten, zwischen Welten: Neue Bücher u.a. von Jonas Lüscher und Zach Williams 54:57
Ob Lyrik als Heilmittel, das architektonische Erbe der Ostmoderne, oder die kritische Analyse eines Social-Media-Trends: Die Literatur eröffnet neue Perspektiven.
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Immer mehr Celebrities und Personen des öffentlichen Lebens sprechen in den Sozialen Medien über ihre Krisenerfahrungen und psychischen Belastungen – und das oftmals in ästhetisch ansprechenden Videos. Ambivalente Auswirkungen der Debatte Dass dies häufig auch Druck bei klinisch betroffenen Menschen auslösen kann und darüber, ob psychische Erkrankungen mittlerweile gar zu einem Trend geworden sind, spricht Soziologin und Autorin Laura Wiesböck. Sie analysiert in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“, warum psychologische Konzepte inflationär verwendet werden und welche gesellschaftlichen Folgen das hat. Ein Gespräch über den schmalen Grat zwischen Enttabuisierung und Selbstdarstellung.…
Mara hat prophetische Träume. Sie träumt etwas und kurze Zeit später passiert dies wirklich. Diese Gabe ist mehr Fluch als Segen, denn eines Tages träumt sie sogar den tödlichen Unfall ihrer Eltern, der dann tatsächlich eintritt. Ich hatte schon immer sehr lebendige Träume gehabt, wie wohl die meisten Kinder, aber irgendwann geschahen Dinge, die eben nicht normal waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Das ist schon lange her. Inzwischen ist Mara Lux eine bekannte Schlafforscherin und lebt in London. Obwohl sie auf neurowissenschaftlicher Ebene sehr viel über das Phänomen Schlaf weiß, schläft sie selbst schlecht. Beunruhigend realistische Träume Und dann sind auch die Träume wieder da. Mara träumt von ihrer Nachbarin, die plötzlich fliegen kann. Zunächst ist sie amüsiert, doch als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verlässt, sind unten auf der Straße viele Menschen versammelt. Vor dem Eingang flackert Blaulicht und jetzt sehe ich auch die Polizisten, die auf dem Gehweg stehen. Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ein ganz, ganz schlechtes, dunkles, zähes, klebriges Gefühl. Die hübsche junge Frau aus dem ersten Stock wird auf mich aufmerksam und kommt zu mir. „Es ist Mrs. Jones“, sagt sie mit belegter Stimme. „Sie ist aus dem Fenster gesprungen, heute Nacht. Oder besser in den frühen Morgenstunden. Ist das nicht schrecklich?“ Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Ein merkwürdiges Angebot Mara ist schockiert. Am Abend wird sie sich einen gehörigen Rausch verpassen, weil sie weiß, dass Alkohol die Traumschlafphasen, den so genannten REM-Schlaf, unterdrückt. Gesund ist das nicht, auch das weiß sie. Aber es ist gerade zu viel los. Denn da ist noch diese merkwürdige E-Mail von einem Notar: Ein ihr unbekannter alter Mann möchte ihr ein Herrenhaus in Deutschland schenken. Keine Verpflichtungen, nur ein riesiges Haus in sogar annehmbaren Zustand. Mara zögert, macht sich dann aber doch auf den Weg, um es sich wenigstens einmal anzusehen. Als sie in dem kleinen Ort namens Limmerfeld ankommt, erkennt sie die Gassen wieder – aus einem Traum. Parallel zu Mara und ihren Abenteuern erzählt Autorin Melanie Raabe noch eine zweite Geschichte: Ich erinnere mich an das Gefühl des Laufens, so leicht, so frei. Ich erinnere mich, wie ich einen Blick über meine Schulter warf und sah, dass Kai mir dicht auf den Fersen war. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass ich nicht vergessen durfte, ihm zu sagen, dass er später beim Abendbrot auf keinen Fall erzählen sollte, dass wir im Wald gewesen waren, denn der Wald war verboten. Im Wald gab es einen alten Steinbruch und alte Schächte und all diese Dinge, vor denen Mama uns gewarnt hatte, seit wir klein waren. Ich erinnere mich, wie ich den Blick wieder nach vorne richtete, früh genug, um die morschen Planken vor mir zu sehen, nicht früh genug, um rechtzeitig innezuhalten. Und dann der Fall. Und dann die Hoffnung, Kai möge es geschafft haben, möge nicht ebenfalls in den alten Brunnen gestürzt sein. Und dann die Erkenntnis, dass wir beide hier gefangen waren. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf Chantal Busse gehört zu jenen Schauspielerinnen, die ihre junge Stimme problemlos einem zehnjährigen Mädchen geben können und natürlich dennoch über das ganze gestalterische Repertoire verfügen, um ihrer Lesung die nötige Tiefe zu geben, Emotionen zu transportieren und Atmosphäre zu erzeugen. Hier ist offenbar ein großes Unglück geschehen. Erwachende Erinnerungen an ein Unglück in Kindheitstagen Das Mädchen wird es schaffen, aus dem Brunnenschacht zu klettern, um Hilfe für seinen bewusstlosen Bruder zu holen. Wie aber hängt diese Geschichte mit der von Mara zusammen? Diese hat sich inzwischen entschieden, die Schenkung anzunehmen und verbringt eine angemessen gruselige Nacht in dem verlassenen, aber komplett eingerichteten Haus, das ein seltsames Eigenleben entwickelt. Immer wieder geht das Licht an und Mara wird das Gefühl nicht los, nicht allein zu sein. Am nächsten Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus, oder? Jetzt noch eine lange Dusche und ein ordentliches Frühstück und ich bin schon wieder ganz die Alte. Während ich noch das Badezimmer im Obergeschoss betrete, streife ich mir bereits das T-Shirt, in dem ich geschlafen habe, über den Kopf und… Mir entfährt ein kleiner, erstickter Schrei, als ich den Spiegel über dem Waschbecken sehe. Mein roter Lippenstift liegt im Waschbecken, die Verschlusskappe auf dem Boden. Jemand hat mir mit ihm eine Botschaft auf den Badezimmerspiegel geschrieben. Quelle: Melanie Raabe – Der längste Schlaf „Ich sehe dich“, steht da. „Siehst du mich?“ Nicht gerade beruhigend. Autorin Melanie Raabe versteht ihr Handwerk. Nichts einfacher als einer jungen Frau nachts in einem leerstehenden Haus das Fürchten zu lehren, aber sie schafft es zudem, die Atmosphäre ganz langsam von bedrohlich in freundlich zu drehen, Verfolgte und Verfolger tauschen die Rollen. Schauspielerin Sithembile Menck vollzieht all das stimmlich mit. Gekonnt wechselt sie zwischen der selbstbewussten Forscherin zur verunsicherten jungen Frau und zurück, unterscheidet im Tonfall zwischen Traum und Wirklichkeit und hält die Spannung bis zuletzt. Einzig ein paar kleine grammatikalische Fehler im Text sind etwas ärgerlich, da hätten Lektorat oder Regie besser aufpassen müssen. Dennoch: „Der längste Schlaf“ ist ein gelungenes Hörbuch für alle, die es gerne mit dem Übersinnlichen aufnehmen – zum entspannten Hinübergleiten in die Nachtruhe ist es allerdings nicht zu empfehlen.…
Wir leben in Zeiten, in denen das Groteske alltäglich wird. Politik und Tech-Industrie liefern absurde Wendungen, die selbst Horrorfilme alt aussehen lassen. In den letzten Jahrzehnten war es eher umgekehrt: Die Fiktion übersetzte unsere unbewussten Ängste und Fantasien in drastische Erzählungen. Heute kann sie kaum noch mit der Realität Schritt halten. Zach Williams‘ Debüt mit dem euphemistischen Titel „Es werden schöne Tage kommen“ ist ein bemerkenswerter Erzählungsband, zugleich anachronistisch und komplett gegenwärtig. Er knüpft an die Tradition psychologischer Albtraum-Geschichten an, in denen das Vertraute plötzlich unheimlich wird und die Grenze zur Dystopie fließend ist. Autoren wie George Saunders oder Cormac McCarthy kommen einem in den Sinn, wenn man diese zehn, von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz meisterhaft übersetzten Storys liest. Zugleich brodelt in ihnen etwas – ein Echo unserer unsicheren Gegenwart. Ich flog durch die Tür zur Lobby und blickte mich dann keuchend zum Unwetter um. Es war schlimm da draußen. Die Stadt bestand nur noch aus vagen Umrissen und schwebenden Lichtern; der Schnee trieb in Wellen über die Nineteenth Street. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Der Auftakt: ein düsterer Probelauf „Probelauf“ heißt die Auftakterzählung, die 2022 in der Paris Review erstmals erschienen ist. Der Erzähler sucht mitten in einem gewaltigen Schneesturm seinen Arbeitsplatz auf, ein fast verlassenes Bürogebäude. Nur Manny ist da, ein Wachmann mit bizarren Ansichten und einem Hang zur Paranoia. Abgeschirmt von der zugeschneiten Welt draußen, wird es drinnen immer ungemütlicher, klaustrophobischer, bedrohlicher. Ein weiterer Kollege erscheint, der den Erzähler in ein allzu intimes Gespräch verwickelt, das ihn unangenehm berührt. Es ist immer wieder die Rede von mysteriösen Mails, von einer dunklen Macht, aber alles bleibt im Vagen. Sie waren Mitglieder eines eigenartigen Bunds, die einander instinktiv erkannten, Blicke wechselten, sich heimlich auf etwas vorbereiteten, vielleicht nicht mal auf das Gleiche, aber gleich in ihrem Sinnen und Trachten. Und mich hatten sie als einen von ihnen ausgemacht. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Das Unbehagen unserer Zeit Ein Gefühl der Unsicherheit und Unfassbarkeit durchzieht die Geschichten von Williams. Ein Schatten legt sich über die Figuren, kontrolliert sie, ist aber nie recht zu fassen. Es ist da ein zeitgenössisches Unbehagen, spätestens seit der Corona-Pandemie ein sehr konkretes Gefühl. Williams‘ Erzähler sind oft Angeschlagene, leicht aus der Bahn Geworfene, obwohl sie sich vermeintlich feste Strukturen geschaffen haben. So auch in „Das Sauerkleehaus“: eine dreiköpfige Familie erwacht in einer idyllischen, abgelegenen Waldhütte. Weder wissen sie, wie sie dort hingekommen sind, noch von wem sie jeden Tag mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgt werden. Es gibt keine anderen Menschen, keine wechselnden Jahreszeiten, keine Möglichkeit, anderswo hinzugelangen. Jacob war der Meinung, am besten käme man der Situation durch Zahlen, Fakten, Aufzeichnungen auf den Grund – kurz, durch alles, was sich irgendwie beobachten und festhalten ließ, denn nur auf diese Weise konnten Rätsel gelöst werden. Ronna dagegen vermutete, dass dieser Ort nicht solchen Regeln folgte. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Noch gespenstischer wird es, als Sohn Max einfach nicht altert, während Jacob und Ronna älter werden und sich mehr und mehr entfremden. In einem der längsten Texte – „Ghost Image“ – verwandelt sich der Sohn des Erzählers insgeheim in dessen früheren Boss Joe Daly, einen Ausbund an Gewöhnlichkeit, der zu einer Art Symbol des Scheiterns wird. Die Geschichte steuert auf einen Ausflug in ein apokalyptisches Disney World zu – dorthin, „wo Träume wahr werden“. Allerdings ist das Schild mit dem Slogan übermalt und lautet nun: „wo Träume absterben“. Choreografie des Absurden In einer anderen Erzählung findet ein Mann seine tote Nachbarin in ihrer Wohnung, im Sessel vor dem Fernseher. Plötzlich bemerkt er einen maskierten Fremden in der Wohnung, es beginnt eine kafkaesk anmutende Verfolgungsjagd. Die absurde Situation scheint sich endlos hinzuziehen. Ich geriet in Panik. Er bewegte sich am Fernseher vorbei, aufs Fenster zu. Unser Kreislauf war ununterbrochen. Die Wiederholung hatte den Charakter eines Albtraums. Ich sagte ihm, er würde verhaftet werden, aber es kam in einem flehentlichen Ton heraus, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es selbst glaubte. Die Polizei, die gleich diese Treppe heraufkommen würde, in diese Situation hinein – das waren zwei unvereinbare Realitäten. (…) Ich wollte zu Boden sinken und den Kopf zwischen die Knie stecken, aber ich hatte den furchtbaren Gedanken, dass er einfach immer weitermachen könnte mit seinem absonderlichen Verhalten und jede neue Runde ihn dann an mir vorbeiführen würde. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen Nichts ist sicher, nichts stabil Kleinstädtischen und kleinbürgerlichen Lebenswelten stellt Williams jene Unorte entgegen, in denen eigene oder gar keine Regeln mehr gelten – ein heruntergekommener Freizeitpark, ein verlassener Bürokomplex, eine Wüstenlandschaft. Die Figuren werden davon magisch angezogen, vielleicht weil sie sonst aus ihrem Sackgassendasein keinen anderen Ausweg finden. Oder sie werden durch eine unscheinbare Begegnung auf Abwege geführt. David Lynch lässt grüßen, wenn ein verwachsener Mann – Er war einfach ein kleines, seltsames Ding. Quelle: Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen – aus dem Schrank heraus seiner attraktiven Frau beim Liebesspiel mit dem Erzähler zusieht. Nikolaj Gogol schaut über die Schulter, wenn einem kleinen Kind über Nacht ein weiterer Zeh wächst und sein Vater in einen Strudel irrationaler Gedanken gerät. Williams’ grotesk-fantastische Geschichten spiegeln unsere spätmoderne Welt wider – eine Zeit, in der Künstliche Intelligenz Kreativität simuliert, in der liberale Gewissheiten langsam zerbröckeln und traditionelle Strukturen zerfallen. Mit subtilem Grauen, surrealem Humor und gnadenloser Präzision fängt dieser Erzählband das Gefühl ein, den eigenen Platz in dieser unsicheren Realität zu verlieren. Zach Williams‘ Erzählungen verstören – und bleiben lange im Gedächtnis.…
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