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40 Jahre E-Mail
Manage episode 432041526 series 2808962
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Jetzt ist Montag ½ 11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½ 11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen.Das schreibt Franz Kafka an seine künftige Verlobte Felice Bauer am 4. November 1912. Eine leichte Verzweiflung ist in diesen Zeilen enthalten, aber auch ein behutsamer Vorwurf.Quelle: Franz Kafka
Unzulänglichkeiten des "analogen" Postwegs
Die Unzuverlässigkeit des Fräulein Bauer ist das eine. Das andere ist die Post: Briefe haben einen langen Weg zurückzulegen, und es kann ihnen etwas dazwischenkommen – ein verpeilter Postbeamter, eine Schlamperei, ein ungeplanter Umweg durch fremde Städte, undurchschaubare Briefverteilungszentren. Wenn das Schreiben nicht bis zu einer gewissen Stunde zugestellt ist, dann heißt es warten bis zum nächsten Tag. Im bürgerlichen Zeitalter des ausgiebigen Briefeschreibens musste man Geduld erlernen und gute Nerven besitzen, gerade wenn es um Liebesdinge ging. Ein falsches Wort, eine skeptische Anmerkung, eine bohrende Beunruhigung konnte erst zeitverzögert, möglicherweise Tage, wenn nicht Wochen später bereinigt oder geklärt werden. In ganz dringenden Fällen blieb einem nur das Telegramm, in dem man sich kurz zu fassen hatte. Die erste telegrafische Leitung gab es allerdings nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts. In den frühen 1990er Jahren, als ich bei der Deutschen Bundespost als Eilbote jobbte, war das Telegramm schon vom Faxgerät verdrängt worden – aber ein- bis zweimal am Tag kam es doch noch vor, dass ich ein Fernschreiben mit meinem VW-Post-Golf zustellen durfte, meistens einen Glückwunsch zum Geburtstag oder die Nachricht eines Todesfalls. Dass ich einer in Kürze aussterbenden Tätigkeit nachging, der des Eilboten, war mir wohl sehr viel weniger bewusst als vielen meiner Generationsgenossen, die bereits ihren Commodore C64 gegen einen Macintosh eingetauscht hatten und die digitale Zukunft am Horizont aufleuchten sahen.Die erste elektronische Post im Jahr 1971
Ich hingegen schrieb Briefe mit der Hand, Hausarbeiten mit einer Schreibmaschine und las Goethes „Werther“ oder Kafkas schön-schmerzliche Briefe. Spät kapierte auch ich, was das ausgehende Jahrhundert geschlagen hatte: Bereits 1971 hatte der US-amerikanische Informatiker Roy Tomlinson ja den ersten elektronischen Brief verschickt, von einer größeren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Am 3. August 1984 um 10:14 Uhr wurde in Deutschland dann die erste Internet-E-Mail empfangen: Michael Rotert von der Technischen Hochschule Karlsruhe erhielt eine Grußbotschaft von der Internet-Pionierin Laura Breeden. Die saß in Massachusetts, also auf einem anderen Kontinent, und hatte irgendetwas in ihren Computer getippt, was nur Sekunden später seinen Empfänger fand.360 Milliarden E-Mails täglich
Heute, 40 Jahre danach, werden weltweit jeden Tag gut 360 Milliarden E-Mails verschickt. 360 Milliarden! Täglich! Die E-Mail-Kommunikation ist beruflich und privat inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen können. Selbst SMS und WhatsApp konnten der E-Mail bislang nichts anhaben. Das hat nicht zuletzt literaturhistorische Folgen: Das Literaturarchiv in Marbach, in dem Hunderte von Dichternachlässen und selbstverständlich auch Briefwechsel wie in einer heiligen Grabkammer verwahrt werden, muss sich nun auch mit den neuen technischen Gegebenheiten arrangieren. Es werden Verfahren entwickelt, wie digitale Nachlässe – wozu auch E-Mails gehören – dauerhaft archiviert werden können. Der Briefroman des 18. Jahrhunderts erfährt ebenfalls eine Aktualisierung – als E-Mail-Roman. So hat Daniel Glattauer etwa mit „Gut gegen Nordwind“ im Jahr 2006 einen großen Publikumserfolg gefeiert; Zsuzsa Bánk lässt in „Schlafen werden wir später“ zwei Freundinnen von Computer zu Computer schwermütige Nachrichten austauschen. Im Prinzip aber sind solche Bücher dem klassischen Briefroman verhaftet, auch wenn E-Mail drübersteht – eine ausschweifende, wohlformulierte, auf Antwort und Erwiderung basierende Schriftverkehrs-Prosa.Schnelligkeit auf Kosten der Sprachfeinheit
Für den Großteil der heute täglich versandten 360 Milliarden Mails trifft weder ausschweifend noch wohlformuliert zu: Das Medium treibt uns zur Eile an, die Feinheiten der Sprache gehen dabei meist verloren. Mails sollen kurz, schnell beantwortet und ohne formalen Schnickschnack verschickt sein. Manchmal provozieren sie impulsive Reaktionen, die uns später durchaus reuen können. Quillt das Postfach über oder ist man unkonzentriert, vertut man sich auch schon mal im Adressfeld und antwortet dem falschen Empfänger – was fürchterliche Verwicklungen nach sich ziehen kann: Aus Versehen schickt man einem Bekannten eine gehässige Beschreibung von dessen Charakter, die eigentlich in lästerlicher Absicht an einen gemeinsamen Freund gerichtet sein sollte. Oder ein grammatikalisch zweifelhaftes Liebesbekenntnis landet – einer Freudschen Fehlleistung geschuldet – bei der falschen Frau respektive dem verkehrten Mann, die oder der daraus wiederum verhängnisvolle Schlüsse ziehen wird. Die Bedächtigkeit, die sich durch das Schreiben eines Briefes, das Adressieren, das Frankieren, das Zum-Postkasten-Bringen notwendigerweise ergibt, fällt bei der E-Mail dem elektronischen Eilverfahren zum Opfer. Ein Klick auf Senden – und das Unheil ist da.Schriftliche Kommunikation in Echtzeit
Die Rasanz hat natürlich auch Vorzüge, aber die liegen eher im Ökonomischen. Zeit wird gespart, Porto wird gespart, Schreibarbeit wird gespart. Schriftliche Kommunikation findet in Echtzeit statt, Räume werden in Windeseile überwunden, Wegstrecken sind auf digitalen Autobahnen eigentlich nur noch abstrakte Entfernungen. Selbst Kafka hätte das wohl als höchst zwiespältig empfunden. Die Gleichzeitigkeit regiert. Keine Postkutsche, kein Flugzeug, kein VW-Post-Golf kann da jemals mithalten. Wer heute noch von einem Dasein als Eilbote träumt, ist der Gegenwart irgendwie verloren – so viele E-Mails er zu den 360 Milliarden auch täglich beitragen mag.971 Episoden
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Jetzt ist Montag ½ 11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½ 11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen.Das schreibt Franz Kafka an seine künftige Verlobte Felice Bauer am 4. November 1912. Eine leichte Verzweiflung ist in diesen Zeilen enthalten, aber auch ein behutsamer Vorwurf.Quelle: Franz Kafka
Unzulänglichkeiten des "analogen" Postwegs
Die Unzuverlässigkeit des Fräulein Bauer ist das eine. Das andere ist die Post: Briefe haben einen langen Weg zurückzulegen, und es kann ihnen etwas dazwischenkommen – ein verpeilter Postbeamter, eine Schlamperei, ein ungeplanter Umweg durch fremde Städte, undurchschaubare Briefverteilungszentren. Wenn das Schreiben nicht bis zu einer gewissen Stunde zugestellt ist, dann heißt es warten bis zum nächsten Tag. Im bürgerlichen Zeitalter des ausgiebigen Briefeschreibens musste man Geduld erlernen und gute Nerven besitzen, gerade wenn es um Liebesdinge ging. Ein falsches Wort, eine skeptische Anmerkung, eine bohrende Beunruhigung konnte erst zeitverzögert, möglicherweise Tage, wenn nicht Wochen später bereinigt oder geklärt werden. In ganz dringenden Fällen blieb einem nur das Telegramm, in dem man sich kurz zu fassen hatte. Die erste telegrafische Leitung gab es allerdings nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts. In den frühen 1990er Jahren, als ich bei der Deutschen Bundespost als Eilbote jobbte, war das Telegramm schon vom Faxgerät verdrängt worden – aber ein- bis zweimal am Tag kam es doch noch vor, dass ich ein Fernschreiben mit meinem VW-Post-Golf zustellen durfte, meistens einen Glückwunsch zum Geburtstag oder die Nachricht eines Todesfalls. Dass ich einer in Kürze aussterbenden Tätigkeit nachging, der des Eilboten, war mir wohl sehr viel weniger bewusst als vielen meiner Generationsgenossen, die bereits ihren Commodore C64 gegen einen Macintosh eingetauscht hatten und die digitale Zukunft am Horizont aufleuchten sahen.Die erste elektronische Post im Jahr 1971
Ich hingegen schrieb Briefe mit der Hand, Hausarbeiten mit einer Schreibmaschine und las Goethes „Werther“ oder Kafkas schön-schmerzliche Briefe. Spät kapierte auch ich, was das ausgehende Jahrhundert geschlagen hatte: Bereits 1971 hatte der US-amerikanische Informatiker Roy Tomlinson ja den ersten elektronischen Brief verschickt, von einer größeren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Am 3. August 1984 um 10:14 Uhr wurde in Deutschland dann die erste Internet-E-Mail empfangen: Michael Rotert von der Technischen Hochschule Karlsruhe erhielt eine Grußbotschaft von der Internet-Pionierin Laura Breeden. Die saß in Massachusetts, also auf einem anderen Kontinent, und hatte irgendetwas in ihren Computer getippt, was nur Sekunden später seinen Empfänger fand.360 Milliarden E-Mails täglich
Heute, 40 Jahre danach, werden weltweit jeden Tag gut 360 Milliarden E-Mails verschickt. 360 Milliarden! Täglich! Die E-Mail-Kommunikation ist beruflich und privat inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen können. Selbst SMS und WhatsApp konnten der E-Mail bislang nichts anhaben. Das hat nicht zuletzt literaturhistorische Folgen: Das Literaturarchiv in Marbach, in dem Hunderte von Dichternachlässen und selbstverständlich auch Briefwechsel wie in einer heiligen Grabkammer verwahrt werden, muss sich nun auch mit den neuen technischen Gegebenheiten arrangieren. Es werden Verfahren entwickelt, wie digitale Nachlässe – wozu auch E-Mails gehören – dauerhaft archiviert werden können. Der Briefroman des 18. Jahrhunderts erfährt ebenfalls eine Aktualisierung – als E-Mail-Roman. So hat Daniel Glattauer etwa mit „Gut gegen Nordwind“ im Jahr 2006 einen großen Publikumserfolg gefeiert; Zsuzsa Bánk lässt in „Schlafen werden wir später“ zwei Freundinnen von Computer zu Computer schwermütige Nachrichten austauschen. Im Prinzip aber sind solche Bücher dem klassischen Briefroman verhaftet, auch wenn E-Mail drübersteht – eine ausschweifende, wohlformulierte, auf Antwort und Erwiderung basierende Schriftverkehrs-Prosa.Schnelligkeit auf Kosten der Sprachfeinheit
Für den Großteil der heute täglich versandten 360 Milliarden Mails trifft weder ausschweifend noch wohlformuliert zu: Das Medium treibt uns zur Eile an, die Feinheiten der Sprache gehen dabei meist verloren. Mails sollen kurz, schnell beantwortet und ohne formalen Schnickschnack verschickt sein. Manchmal provozieren sie impulsive Reaktionen, die uns später durchaus reuen können. Quillt das Postfach über oder ist man unkonzentriert, vertut man sich auch schon mal im Adressfeld und antwortet dem falschen Empfänger – was fürchterliche Verwicklungen nach sich ziehen kann: Aus Versehen schickt man einem Bekannten eine gehässige Beschreibung von dessen Charakter, die eigentlich in lästerlicher Absicht an einen gemeinsamen Freund gerichtet sein sollte. Oder ein grammatikalisch zweifelhaftes Liebesbekenntnis landet – einer Freudschen Fehlleistung geschuldet – bei der falschen Frau respektive dem verkehrten Mann, die oder der daraus wiederum verhängnisvolle Schlüsse ziehen wird. Die Bedächtigkeit, die sich durch das Schreiben eines Briefes, das Adressieren, das Frankieren, das Zum-Postkasten-Bringen notwendigerweise ergibt, fällt bei der E-Mail dem elektronischen Eilverfahren zum Opfer. Ein Klick auf Senden – und das Unheil ist da.Schriftliche Kommunikation in Echtzeit
Die Rasanz hat natürlich auch Vorzüge, aber die liegen eher im Ökonomischen. Zeit wird gespart, Porto wird gespart, Schreibarbeit wird gespart. Schriftliche Kommunikation findet in Echtzeit statt, Räume werden in Windeseile überwunden, Wegstrecken sind auf digitalen Autobahnen eigentlich nur noch abstrakte Entfernungen. Selbst Kafka hätte das wohl als höchst zwiespältig empfunden. Die Gleichzeitigkeit regiert. Keine Postkutsche, kein Flugzeug, kein VW-Post-Golf kann da jemals mithalten. Wer heute noch von einem Dasein als Eilbote träumt, ist der Gegenwart irgendwie verloren – so viele E-Mails er zu den 360 Milliarden auch täglich beitragen mag.971 Episoden
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Der Soziologieprofessor Andreas Reckwitz hat vor allem die Gesellschaft der westlichen Moderne bis in unsere Tage im Blick. – „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ lautet der Titel seiner neuesten Publikation. Die Moderne beginnt bei Reckwitz ganz klassisch mit den 30er- und 40er- Jahren des 19. Jahrhunderts. Gewaltige Technisierungsschübe und naturwissenschaftliche Errungenschaften sind prägend, ebenso das Bürgertum und ein breiter werdender Wohlstand. Fortschritt und stetiges Wachstum versprechen ein zukünftiges Paradies – was allerdings in der Hölle endet, nämlich im Ersten Weltkrieg. Das Fortschrittsnarrativ wie es insbesondere in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Technik und Lebensführung verankert worden ist, basiert auf einem einfachen Plot: Erzählt wird die Geschichte eines Prozesses der permanenten Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die Verlusterzählung in der Moderne und die Kunst Natürlich gibt es auch in der frühen Moderne Verlusterzählungen – etwa die Marginalisierung des Landlebens und der Agrarwirtschaft. Doch nach Reckwitz ist die Fortschrittsgläubigkeit bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu bremsen. Das alte Paris – es ist nicht mehr (ach, die Form der Stadt / wandelt sich viel schneller als das Herz des Sterblichen) Quelle: Charles Baudelaire: Le Cygne / Der Schwan Das Gedicht „Der Schwan“ hat Charles Baudelaire in etwa um 1850 verfasst. Mit dem Bau des Boulevard Hausmann verschwindet das alte Paris. Der Dichter formuliert also klar eine existentielle Verlustangst. Andreas Reckwitz bringt zwar einige Beispiele aus der Belletristik und der Kunst, aber er nennt nicht Künstlergruppen, die jenseits allen Fortschrittsglaubens den Verlust in der Moderne klar markiert haben: Die Symbolisten, später dann die Dadaisten und Surrealisten. Die Künstler des Surrealismus versuchten sich sogar an einem Gegenmodell zum rationalen Fortschritt – nämlich indem sie das Unbewusste und den Traumbereich des Menschen erforschten. Verlustverdrängung versus Verlustpotenzierung Von unschätzbarem Wert ist bei Reckwitz die genaue und breitgefächerte Darstellung der Verlusterfahrungen in der Moderne. Dabei kommt es auch zu Formen der Verlustverdrängung: Das so genannte Wirtschaftswunder nach 1945, das bis in die 1970er Jahre reicht. Oder die 1990er Jahre, in denen man mit dem Zerfall kommunistischer Staaten eine Art kapitalistisch organisierten Weltfrieden zu erkennen meinte. Das Fazit von Reckwitz lautet: Im Arrangement der modernen Gesellschaft ergibt sich eine prekäre Balance zwischen Fortschrittsorientierung, Verlustreduktion, Verlustpotenzierung, Verlustvisibilisierung und Verlustbearbeitung. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Und genau diese „prekäre Balance“ von Verlusterkennung und Verlustvergessenheit ist nach Reckwitz entscheidend, um die „Spätmoderne“, also unsere Zeit zu begreifen. Denn die positive Fortschrittserzählung kommt an ein klares Ende. Dass die katastrophische Zukunft eintreten kann, wird im spätmodernen Zeitregime zur neuen Gewissheit. Quelle: Andreas Reckwitz – Verlust Die vermeintliche Katastrophe und die „Reparatur der Moderne“ Diese negative Gewissheit äußert sich in drei Hauptsegmenten: Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis. Wie aber aus dem Sumpf der Skepsis wieder herauskommen? Andreas Reckwitz bietet drei Szenarien an: Erstens, wir machen weiter so wie bisher – wird schon gut gehen! Zweitens, die Moderne endet in der Katastrophe. Und drittens? Reckwitz nennt es die „Reparatur der Moderne“. Dabei richten wir unser zukunftsorientiertes Tun auf die Reduktion und Vermeidung von Verlusten. Wer allerdings die „Ingenieure“ dieses dritten Wegs sein sollen, sagt Reckwitz nicht. Denn sein Buch „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ sollten alle die lesen, denen die Zukunft etwas wert ist und die nicht in einer Verlustphobie erstarren wollen.…
Die französische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Claudie Hunzinger wurde 1940 im Elsass geboren; im April wird sie also 85 Jahre alt. Seit den 1970er-Jahren publiziert Hunzinger Romane und Erzählungen. Ihren größten Erfolg feierte sie allerdings in ihrem Heimatland erst im Jahr 2022: Der Roman „Ein Hund an meiner Tafel“ wurde nicht nur mit dem „Prix Femina“ ausgezeichnet, einem Literaturpreis, der von einer ausschließlich weiblich besetzten Jury vergeben wird. Das Buch wurde in Frankreich auch zu einem Bestseller. Auf den Hund gekommen Nun ist „Ein Hund an meiner Tafel“ in der Übersetzung von Timea Tankó auch auf Deutsch erschienen. Christoph Schröder hat den Roman gelesen. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein altes Paar: Sophie und Grieg. Eines Abends steht eine Hündin vor der Tür ihres Hauses in den Vogesen.…
„Die Spaltung, glaube ich, ist sicher meine Obsession.“ So Thomas Brasch. Und Spaltung bestimmt sein Leben: er gehört nirgends ganz dazu, er ist jüdischer Herkunft, er fliegt früh von der Universität, an der er Journalistik studiert, wegen existentialistischer Anschauungen, er kommt auf die Filmhochschule Potsdam, und landet im Gefängnis, weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag protestiert, er muss als Fräser arbeiten und ist doch immer Dichter. 1976 verlässt er das eine Deutschland, um ins andere überzusiedeln. Wieder also Spaltung. Spaltung im Kleinen und im Großen. Und sein berühmtestes Gedicht handelt von nichts anderem. Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin. Quelle: Thomas Brasch Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt Alles dreht sich um das Wort „aber“. Ein „aber“ und noch ein „Aber“ und noch ein „Aber“. Ein Gedicht, das nie zur Ruhe kommt, wie auch sein Autor nicht. Viele Gedichte von Brasch klingen oft ganz einfach, zugänglich, fast liedhaft, immer auch mit dem Mut zum linken Kitsch, doch seine Reime sind kein ruhiger Hafen, seine lyrischen Texte eher getriebene, kleine poetische Maschinen, die atemlos vorwärtsstreben, ohne zu wissen, wo sie ankommen. Da schreibt einer gehetzt um sein Leben, weil nur durchs Schreiben Erfahrungen vollständig werden können. Was nicht beschrieben ist, ist nicht. Oder anders: ich schreibe, also bin ich. Es hatte ganz simple Gründe, Ehrgeiz und auch das Bedürfnis, Dinge anders auszudrücken, (…) Dinge zu beschreiben, die man nicht leben kann, Dinge nochmals zu erfahren, indem man sie beschreibt als eine Gegenwehr, als ein Bedürfnis, sie nicht zu vergessen, indem man sie nochmals lebt, beschreibbar. Quelle: Thomas Brasch Keine Erzählungen, sondern Montageroman 1977 erschienen Erzählungen unter dem schlagenden Titel „Vor den Vätern sterben die Söhne.“ Aber sie durften nur im Westen publiziert werden. Sie eröffnen den neuen Band mit gesammelter Prosa, den der Suhrkamp Verlag zum 80. Geburtstag gerade herausgegeben hat. Bei ihrem Erscheinen waren sie eine Sensation, eine knappe, dichte Literatur um rebellische Jugend und erschöpfte Arbeiter, fast grob gefügt, wenn man so will: geschweißt, ohne dass die Nähte verdeckt würden. Brasch selbst nannte seine Prosa darum im Interview gerade nicht Erzählungen, sondern einen Montageroman. Aber gleichzeitig wurde Brasch zu dem, was er nie sein wollte, der Stardissident in Westdeutschland, geliebt von der konservativen Presse. Denn letztlich blieb sein „Meinland“ die DDR, und wenn schon Feind, dann der eigene, und nicht der fremde Feind im „Ausland“ BRD. Gefährdet durch das eigene Leben Irgendwann verlor die Öffentlichkeit das Interesse an ihm. Und er an der Öffentlichkeit? Er schrieb für die Schublade, ohne Kraft zur Ordnung, tausende Seiten über seine Idee fixe, den Mädchenmörder Brunke, die immer noch unveröffentlicht im Nachlass liegen. Was hat ihn an dem interessiert? Das radikale Außenseitertum? Die inszenierten Selbstmorde, die eben doch Morde waren? Oder einfach: Dass dieses Mädchenmörderleben um 1900 ein ganz anderes war, so dass man es nicht hätte auf seine Biographie herunterbrechen können. Also der Brasch hat im Gefängnis gesessen, also muss er gelitten haben, also muss seine Literatur Leidensdruck haben, so eindimensional, und außerdem noch dilettantisch. Quelle: Thomas Brasch Denn das ist die eigentliche Tragik des Künstlers Thomas Brasch. Er war immer gefährdet durch sein eigenes Leben, sein Image: gutaussehend, cool, Frauenheld, Dichter, Filmemacher, Rebell, Dissident. Oder wie er einmal bitter bemerkte: „Biographie war wichtiger als ein Stück, Gedicht oder Film.“ Vielleicht ist sogar etwas Wahres dran: Dass sein Leben den besten Roman schrieb.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
Das literarische Jahr 2025 hat gerade erst begonnen, trotzdem sind wir schon in bedächtiger Gedenkstimmung. Schließlich stehen auch in diesem Jahr einige wichtige Literaturtermine, Gedenktage und Jubiläen an. Wir feiern nicht nur das große Thomas-Mann-Jahr , erinnern uns am 19. Februar zu Thomas Braschs 80. Geburtstag an das Werk des Dichters oder gedenken der Berliner Großstadtlyrikerin Mascha Kaléko an ihrem 50. Todestag ... Nein, wir müssen 2025 einige Daten im Blick behalten. Dabei hilft der Reclam Verlag. Im „lesenswert Magazin" empfiehlt Nina Wolf ein Büchlein, das einen Überblick über alle wichtigen Literaturtermine bietet. Diese Neuerscheinungen erwarten wir Trotzdem lohnt sich nicht nur der Blick zurück, denn auch die Gegenwartsliteratur hat schon im jungen Jahr Bücher zu bieten, die mit höchstem Lob der Kritik bedacht werden. Etwa der neue Roman des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas. „Wackelkontakt“ heißt das Buch , in dem es um den Trauerredner Franz Escher geht, der auf einen Elektriker wartet und dabei ein Buch liest über den Mafia-Kronzeugen Elio Russo, der im Gefängnis sitzt und sich die Zeit vertreibt, indem er ein Buch liest, das wiederum von Franz Escher handelt, der auf einen Elektriker wartet, weil seine Steckdose in der Küche einen Wackelkontakt hat. Haben wir damit schon einen Anwärter auf die kommenden Literaturpreise? Eine Gelegenheit um zu spekulieren: Welche Themen und welche Bücher erwarten uns in den kommenden Monaten? Science-Fiction von Christian Kracht Die Verlagsprogramme versprechen schon zu Jahresbeginn einige Titel, auf die wir gespannt warten können. Ein Beispiel, so SWR Kultur Literaturredakteurin Nina Wolf, im Gespräch: ein neuer Roman aus der Feder Christian Krachts . „Air" wird er heißen und der Autor geht mit einer Science-Fiction-Geschichte neue Genre-Wege. Neuer Roman der Deutschen Buchpreisträgerin In jedem Jahr bewegen sie auch die Literaturwelt: die Debatten. Ein Buch, das sich literarisch mit Debattenkultur, medialen Diskursen und „den Erregungsdynamiken, die sich, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr steuern lassen" auseinandersetzen will, kommt von der Deutschen Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel . Wieder ein Weltbestseller? Zehn Jahre sind seit Chimamanda Ngozi Adichies Weltbestseller „Americanah" mittlerweile vergangen. Es war der dritte Roman der 1977 in Nigeria geborenen Autorin, die heute in Lagos und in den USA lebt. Adichie gilt als feministische Ikone und es scheint, als würde sie auch in ihrem neuen Roman „Dream Count" ihren vertrauten Themen treu bleiben. Der Roman wird weltweit zeitgleich am 4. März erscheinen. Das Debüt einer Musikerin Sophie Hunger ist Musikerin , die Schweizerin Texte der Schweizerin überzeugen durch ihre lyrische Qualität. Ob auch ihr Debütroman sich durch dieses Können auszeichnet, wird sich zeigen. Angekündigt ist eine tragikomische Coming-Of-Age Geschichte über eine innige Freundschaft.…
Vier Männer und zwei Frauen leben zusammen an einem Ort außerhalb unserer Erde. Trotzdem tun sie erstmal, was die meisten von uns den Tag über tun: Essen, schlafen, arbeiten. Die sechs Astronauten haben feste Routinen, genaue Arbeitspläne und einen streng geregelten Schlaf- und Essensplan. Obwohl diese Abläufe an Alltägliches erinnern, so ist auf der Raumstation im All doch nichts alltäglich. Ein Tag bezeichnet bei uns auf der Erde die Dauer, die der Planet braucht, um einmal um sich selbst zu kreisen. Die Bewohner des Raumschiffs umkreisen die Erde in dieser Zeit rund 16 mal. Ein neuer Tag. Aber einer, der fünf Kontinente mit sich bringt, Herbst und Frühling, Gletscher und Wüsten, Wildnis und Kriegsgebiete. Während sie die Erde umrunden, durch Anhäufungen von Licht und Dunkelheit reisen, sich der verwirrenden Arithmetik von Schubkraft und Fluglage, der Geschwindigkeit und den Sensoren hingeben, ertönt alle neunzig Minuten der Peitschenknall eines neuen Morgens. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Klarkommen in der ungewohnten Sphäre Die Normalität wie wir sie hier auf der Erde kennen, wird also lediglich simuliert – auch, damit Körper und Psyche der sechs Crewmitglieder überhaupt eine Chance haben, in der ungewohnten Sphäre zurecht zu kommen. Nicht nur das Erleben des veränderten Tag-Nacht-Rhythmus, auch die Abwesenheit der Schwerkraft, das ständige Schweben, bewirkt bei den sechs Protagonisten ein vollkommen neues Körpergefühl, mit dem mehr als nur lästige Kopfschmerzen und wiederholte Übelkeit einhergehen. Auch das Denken nimmt neue Formen an und spinnt mitunter spannende Überlegungen. Oft weiß sie nicht, was sie Familie und Freunden zuhause erzählen soll, hat sie festgestellt, die kleinen Dinge sind zu banal, der Rest zu überwältigend, dazwischen scheint es nichts zu geben. (…) Sie denken viel darüber nach, wie es möglich sein kann, so schnell zu reisen und doch nirgendwo anzukommen. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Erzählung verliert sich in ausschweifenden Sinnbildern Wie sich diese spezielle Reise, dieses Leben abseits der Erde anfühlt, das versucht der Roman von Samantha Harvey einzufangen. Er beschreibt die herausfordernden Konditionen für die Crew und befremdende Umstände wie das Wiederaufbereiten von Urin zu Trinkwasser. Es geht um das Leben abseits von Komfort, Heimat und Familie. Allerdings kratzt die Autorin beim Beschreiben der Protagonisten lediglich an der Oberfläche dessen, was diese Menschen tatsächlich ausmacht und die Gedanken des einen könnten genauso auch die eines anderen sein. Hier und dort werden Einblicke in die Lebensgeschichte von Roman oder die Kindheitserinnerungen von Chie gegeben, aber statt nah an die Figuren heranzutreten, verliert sich die Erzählstimme in ausschweifenden Sinnbildern. Ihr Herz und Pietros schlagen als einzige im All, zwischen der Erdatmosphäre und so weit hinter dem Sonnensystem wie man es sich nur vorstellen kann. Ihre beiden Herzschläge eilen friedlich durch den Weltraum, befinden sich nie zwei Mal am selben Ort. Werden nie an denselben Ort zurückkehren. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Redundantes Umschreiben von Landschaft und Eindrücken „Umlaufbahnen“ wurde mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet, die Jury lobte die „Sprache der Lyrik und Schärfe“. Der poetische Klang ist in jedem Fall präsent, die Schärfe beim Erzählen von inneren Zuständen und in den Dialogen zwischen den Figuren, ist dagegen eher selten zu erkennen. Dafür schweift die Autorin zu oft ins Universelle ab. Die menschenlose Klarheit von Land und Meer. Die Art, wie der Planet zu atmen scheint, ein ganz eigenes Lebewesen. Die Perfektion der Welt, ihre gleichgültigen Drehungen im gleichgültigen Raum, die alles Sprachliche transzendieren. Quelle: Samantha Harvey – Umlaufbahnen Das Buch setzt ganz auf ein redundantes Umschreiben von Bildern und Zuständen. Dass dabei die Figuren so sehr in den Hintergrund treten, ist schade, denn damit verstärkt sich von Satz zu Satz der Eindruck, den sprachlichen Ambitionen der Autorin folgen zu müssen, statt glaubhaft in das Erleben der sechs Protagonisten einzutauchen.…
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SWR Kultur lesenswert - Literatur
1 Literatur für unruhige Zeiten: Mit Büchern von Samantha Harvey, Claudine Hunzinger und einem Ausblick auf das Literaturjahr 2025 54:59
Dieses Mal im lesenwert Magazin: Preisgekrönte Romane aus Frankreich und England, wichtige Neuerscheinungen 2025 und ein History-Thriller als Hörbuch.
Das erste Buch seiner Reihe, „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, bezeichnete Antonio Scurati als „dokumentarischen Roman“: Alles darin, jede Figur, jeder Dialog sei durch Dokumente belegt, schrieb der Schriftsteller in einer Vorbemerkung. Das gilt auch für seine folgenden Mussolini-Romane. Was sie von Geschichtsbüchern definitiv unterscheidet, ist zum einen das gehobene Stilregister von Scuratis Prosa, zum anderen die Kunstfertigkeit des Autors, die psychologische Entwicklung der handelnden Figuren nachzuzeichnen. Er versetzt uns – teils auch durch wortgetreu zitierte Zeitzeugnisse – in deren Gedankenwelt. Protagonisten von Scuratis M-Bücher sind größtenteils Faschisten, denen in „M. Das Buch des Krieges“ sich Nazis hinzugesellen. Erschütternde Zeitzeugnisse Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt sich an das. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoss sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner, kurzer Tod, gemessen an den höllischen Qualen von Tausenden und Abertausenden in den Kerkern der GPU. Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen. Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges Ein Auszug aus dem Brief eines Polizeisekretärs aus Wien, der 1941 aus dem Russlandfeldzug an seine Frau schreibt. Es sind nicht die einzigen schaurigen Zeilen im „Buch des Krieges“. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, an dem Italien zunächst als Verbündeter Nazi-Deutschlands teilnahm. Das Buch umspannt den Zeitraum zwischen dem 28. Juni 1940, dem achtzehnten Tag der italienischen Kriegsbeteiligung, und dem 25. Juli 1943 – dem Tag, an dem Benito Mussolini vom Großrat des Faschismus abgesetzt und auf Königsbefehl verhaftet wurde. Denn der Diktator weigerte sich weiterhin, das militärische Debakel zur Kenntnis zu nehmen. Alles nur, um Hitler zu imponieren Dabei war der Krieg für Italien von Anfang an verloren. Militärs und Parteikader – alle wussten, dass Italiens Waffenarsenal heillos veraltet und das Land keineswegs „kriegstüchtig“ war. Aber dem Duce war der Eintritt in den Krieg nicht auszureden gewesen. Anfangs spekulierte er darauf, Deutschland würde den Krieg im Nu gewinnen, und Italien könnte sich mit ein paar Tausend toter Soldaten ein Stück der Kriegsbeute erkaufen. Später trieb sein verändertes Verhältnis zu Hitler Mussolini dazu, suizidale Militäraktionen zu befehlen. War der Duce der Italiener einst des Führers Vorbild gewesen, wurde er durch die militärische Übermacht Deutschlands zu seinem Trabant. Angst vor Blamage und gedemütigter Größenwahn bestimmten demnach sein Handeln. Dass die Italiener ihren deutschen Kameraden ebenbürtig sein und seine Faschisten mit den Nazi-Verbündeten Schritt halten mögen: Das ist an diesem Septemberende Benito Mussolinis höchstes Streben. Doch zu seinem großen Kummer bringen sie es nicht fertig. Deshalb geschieht es immer häufiger, dass die Mitarbeiter des Duce seine anti-italienischen Wutausbrüche ertragen müssen. Quelle: Antonio Scurati – M. Das Buch des Krieges Italiener als Kanonenfutter Der italienische Waffengang wurde, wie vorgesehen, eine Endlosschleife von Niederlagen und sinnlosen Gemetzeln. Zu Hunderttausenden wurden schlecht ausgerüstete und nicht mal angemessen gekleidete junge Männer in den sicheren Tod geschickt. Eine angekündigte Tragödie. In der Tat ähnelt Antonio Scuratis „M. Buch des Krieges“ einem antiken Trauerspiel: Es beschreibt den Sinkflug eines Herrschers, dessen Hybris ihn und sein Land in den Abgrund stürzt – und mitschuldig werden lässt am größten Blutbad des 20. Jahrhunderts. Mehr als 68 Millionen Menschen starben im Zweiten Weltkrieg.…
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Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Über Geschmack lässt sich nicht streiten, das wussten schon die Römer. Warum tun wir es dann aber trotzdem, oft sogar mit größter Leidenschaft? Klar, wir tun es nicht, wenn es um unsere Lieblingsmarmelade geht. Aber bei der Frage nach unserem Lieblingsautor, unserer Lieblingsmusik oder -serie? Da sieht die Sache schon anders aus. Für den Literaturkritiker Johannes Franzen ist das kein Zufall. Denn Urteile in Sachen Ästhetik besitzen ein spezielles Konfliktpotenzial: Bei ihnen geht es um viel mehr als nur um Kunst, es geht immer auch um uns selbst. Schließlich ist das, was wir am liebsten lesen, hören oder anschauen – das, wofür wir Zeit, Geld und Emotionen investiert haben –, Teil unserer Identität. Entsprechend groß sei das Verletzungspotenzial einschlägiger Äußerungen, so Franzen. Wer die Kunst angreift, die wir lieben, der attackiert den Kern dessen, was wir sind. Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten „Trotzrezeption“ Unter dem schönen Titel „Wut und Wertung“ untersucht Johannes Franzen die starken Emotionen, die wir im Umgang mit Kunst entwickeln. Sein spannendes Buch ist voller überraschender Beobachtungen wie die: Es wurde noch nie so viel über Kunst gestritten wie in unserer Zeit. Jedenfalls wenn man, wie Franzen, von einem sehr weiten Kunstbegriff ausgeht, der keinen Unterschied macht zwischen dem, was uns in Museen, im Fernsehen oder im Internet begegnet. Dann sieht man nämlich: Die Reaktionen von Rezipienten, die sich verletzt oder angegriffen fühlen, sind oft erstaunlich ähnlich. Egal ob es um ein Eugen Gomringer-Gedicht an der Fassade einer Berliner Hochschule geht, um Karl Mays Winnetou-Romane oder den umstrittenen Partyschlager „Leyla“. So kommt es regelmäßig zum Phänomen einer „Trotzrezeption“; schließlich will man sich seine Kunst von niemandem wegnehmen lassen. Oder es kommt sogar zu einer „agonalen Rezeption“, bei der man versucht, der Gegenseite seine Kunst quasi aufzuzwingen. Gomringers Gedicht zum Beispiel wurde zwar von besagter Hochschulwand entfernt, von empörten Gomringer-Liebhabern aber nur ein paar Häuser weiter an einer anderen Fassade angebracht. Konflikte über Kunst und Kultur sind eminent politisch – ein ständiger Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte darüber, was gesagt und gezeigt werden darf. Quelle: Johannes Franzen – Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten Neue Macht des Publikums Warum derartige Konflikte heute immer häufiger auftreten, kann Franzen gut erklären. Es liegt vor allem an der Digitalisierung, die dafür sorgt, dass wir ständig mit den Meinungen und Urteilen anderer oder auch Details aus dem realen Leben von Künstlern konfrontiert werden. Und dass zugleich die Meinung des Publikums eine viel höhere Sichtbarkeit und auch Macht gewonnen hat, gerade im Verhältnis zur professionellen Kritik. Franzen erinnert an den Fall eines Musikrezensenten, der es wagte, die Musik von Taylor Swift einmal nicht in den höchsten Tönen zu loben und prompt einen Shitstorm ihrer Fans erntete, bis hin zu Morddrohungen. Toxisches Beziehungsgeflecht Für Kritiker wie Künstler scheinen derartige Erfahrungen kollektiver Ablehnung inzwischen leider zum normalen Berufsrisiko geworden zu sein. Das größere Problem, so Franzen, seien aber jene Künstler, die den Fans die Freude an den geliebten Werken verderben, und zwar durch das, was sie in ihrem realen Leben angeblich oder auch tatsächlich getan oder geäußert haben. Das betrifft die Musik von Michael Jackson oder Rammstein genauso wie die Filme von Woody Allen oder die Romane J. K. Rowlings. Unterstützt man den Künstler nicht, wenn man weiterhin seine Werke rezipiert? Wie rechtfertigt man sich gegenüber denen, die von einem erwarten, dass man sich von dem betreffenden Künstler von nun an distanziert? Ob so oder so, eines sei in jedem Fall klar, betont Franzen: Wir streiten nur über das, was uns wirklich wichtig ist. Und das ist uns die Kunst heute offenkundig mehr denn je. Wie schön.…
Philadelphia im Jahr 1985: Der 11-jährige Toussaint und seine Mutter Ava sind am Tiefpunkt ihres bisherigen Lebens. Avas Mann hat sie aus dem gemeinsamen Haus geworfen, ohne Freunde und ohne Geld bleibt ihnen nur eine Obdachlosenunterkunft. Eine schäbige Bleibe, voller Kakerlaken, schlechtem Essen, missgünstiger Frauen. Ava weigert sich zwar, sich mit dieser Situation abzufinden. Aber sie ist müde vom steten Überlebenskampf. Diesem Leben von Ava und Toussaint im Norden der USA stellt Ayana Mathis in „Am Flussufer ein Feuer“ in alternierenden Kapiteln den Kampf von Avas Mutter Dutchess in Alabama gegenüber. Sie lebt in dem fiktiven Ort Bonaparte, der historischen Siedlungen wie Freetown nachgebildet ist. Seit Jahrzehnten leben dort Schwarze auf eigenem Land, selbstbestimmt und frei. Und genauso lange wird dieser Ort von Weißen bedroht. Mit Hass und Gewalt. Nun hat es ein von Weißen geführtes Unternehmen auf das Land der Menschen abgesehen. Aber Dutchess ist wie ihre Tochter Ava nicht bereit aufzugeben. Preis der Selbstbestimmung Philadelphia und Alabama, Ava und Dutchess, zwei Orte, zwei Figuren voller Gegensätzlichkeiten und Gemeinsamkeiten im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben. Ava ist in Bonaparte aufgewachsen – einer Welt, in der Schwarze frei leben konnten. Im Norden erfährt sie Rassismus und Demütigung, doch der Anspruch, ein Leben zu führen, in dem sie frei sein kann, steckt tief in ihr. Sie ist eine hochinteressante komplexe Figur, die fast in einer eigenen Realität lebt. Sie glaubt, sei eine gute Mutter – tatsächlich ist Toussaint einsam und verloren. Sie hält sich für unpolitisch, Außer dass schon ihre Annahme, dass Schwarze Menschen frei sind und selbstbestimmt handeln, in den USA eine politische Aussage ist. Quelle: Ayana Mathis Hoffnungslosigkeit der 1980er Jahre Avas und Toussaints Leben ändert sich erst, als Ava Toussaints Vater wiedertrifft: den charismatischen Arzt Cass. Einst ein Black Panther, ist er desillusioniert über die politische Gegenwart. Er gründet eine Gruppe namens Arc, die auf Autonomie, Selbstbestimmung und Gewalt setzt. Mich interessiert wie jemand ein politischer Mensch wie Cass, der zielstrebig und hoffnungsvoll war, mit dem Scheitern dieser Bewegungen umgegangen ist. Wir haben so viel getan, viele von uns wurden getötet, eingesperrt. Und im Jahr 1985 gibt es Crack. Es gibt AIDS. Es gibt keine Sozialprogramme. Ronald Reagan ist Präsident. Quelle: Ayana Mathis Aus Utopien Hoffnung schöpfen Ayana Mathis verknüpft ihre historisch-politische Analyse geschickt mit den persönlichen Kämpfen der facettenreichen Figuren. Überall finden sich historische Referenzen – allein Toussaints Name verweist schon auf Toussaint Louverture, den prominentesten Anführer der haitianischen Revolution. Auch setzt sie dem Rassismus, dem Neoliberalismus und den Demütigungen in den 1980er Jahren mit Arc und Bonaparte zwei radikale Utopien entgegen, die auf historischen Vorbildern basieren. Eine Utopie erinnert uns daran, dass es eine andere Möglichkeit gibt: Die Dinge waren nicht immer so, wie es uns erzählt wurden – und sie müssen so auch nicht immer bleiben. Es gibt Alternativen – nicht einfach nur Fantasien oder Träume – sondern Orte, die tatsächlich existiert haben. Egal, wie es mit ihnen ausgegangen ist. Quelle: Ayana Mathis Beide Utopien sind gescheitert. Aber dieser vielschichtige, kluge Roman erinnert daran, dass man den Kampf für eine bessere, eine gerechtere Welt fortführen sollte.…
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Nach Cuba und Nicaragua ist Venezuela ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie ein Hoffnungsmodell durch die Egozentrik von Einzelpersonen und die Korruption einer kleinen Machtelite zugrunde gerichtet wird. Zwar sind die Ursachen und äußeren Einwirkungen sehr verschieden, aber Grundmuster und Resultat sind in den drei Fällen die gleichen. Das lässt sich aus der hervorragenden Studie von Tobias Lambert folgern. Er hat sich darin – aus seiner linken Sicht – die Aufgabe gestellt, die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez ohne die üblichen Vorurteile und Scheuklappen ausführlich zu beschreiben. Das heißt, ihn ernst zu nehmen und seine sozialen Leistungen für jenen Teil der Bevölkerung herauszuarbeiten, der von den meisten venezolanischen Regierungen vernachlässigt wurde. Er zeigt jedoch auch dessen Schwächen und Grenzen. Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten. Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente. Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez Eine charismatische Führungsperson Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken. Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde. Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an. Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden. Quelle: Tobias Lambert – Gescheiterte Utopie? Venezuela ein Jahrzehnt nach Hugo Chávez Die Rolle der Opposition Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht. Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen. Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option. Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.…
Der Pappschuber, der normalerweise die Bände der Anderen Bibliothek schützt, ist im Fall meiner Ausgabe von Christoph Ransmayrs Roman „Die letzte Welt“ nicht mehr auffindbar. Das spricht dafür, dass ich diesen Band, den 44. der Reihe, tatsächlich gelesen und nicht bloß als bibliophiles Schmuckstück ins Regal gestellt habe. Zudem bin ich ganz sicher, „Die letzte Welt“ irgendwo gebraucht gekauft zu haben, denn 1988, im Erscheinungsjahr, war ich vierzehn Jahre alt und gewiss noch kein Ransmayr-Leser. Auch die Debatte um diesen Roman habe ich erst später nachgelesen: Hat Hans Magnus Enzensberger, der Herausgeber der Anderen Bibliothek, mit Hilfe seiner Beziehungen im Literaturbetrieb einen Autor und sein Buch großgemacht? Oder ist der Österreicher Ransmayr tatsächlich ein Schriftsteller von hohem Rang? Heute wissen wir: Letzteres ist der Fall. Ransmayr ist ein Universum für sich. „Die letzte Welt“, diese Geschichte von der Verbannung des Dichters Ovid, die Ransmayr in literarische Korrespondenz zu Ovids „Metamorphosen“ setzt, ist nicht mein Lieblingsroman von Ransmayr geworden. Aber: Er war ein Bestseller. Meine Ausgabe weist die Druckauflage 76.000 - 100.000 auf. So viel verkauft heute allenfalls Sebastian Fitzek. Die Andere Bibliothek: Ein Relikt aus der goldenen Zeit der schönen Bücher. Die Andere Bibliothek, Band 44, erschienen 1988, 324 Seiten.…
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1 Andreas Thalmayr – Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen 1:10
Am 27. September 1985 erschien als neunter Band der „Anderen Bibliothek“ ein Buch mit einem sehr barocken Titel: „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“. Es war prächtig aufgemacht, mit geprägtem Deckel, der ein Teufelchen inmitten eines Labyrinths zeigt, versehen mit einem Schutzumschlag aus Plastik. Sein Inhalt: eine detailreiche Sammlung rhetorischer und sonstiger Mittel der Lyrik anhand vieler Gedichte der Weltliteratur. Beispiele gefällig?: Anapher, Epiphora, Paronomasie, aber auch Überraschendes wie: Jargon, Zitat usw. Da erinnert einer daran, dass Kunst von Können kommt, dass Dichten ein Handwerk ist, vielleicht keines, das man lernen kann, aber eines, ohne das es nicht geht. Ein Genie fällt nicht vom Himmel, sondern steht auf dem Sockel der Transpiration. Aber wer war nun dieser mysteriöse Andreas Thalmayr? In meinem Exemplar steht eine kleine Widmung: „i.V. Enzensberger“. Der sich da einen Vertreter nennt, ist in Wirklichkeit der Sammler und Herausgeber selbst, Hans Magnus Enzensberger, der Begründer und spiritus rector der „Anderen Bibliothek“, „Andreas Thalmayr“ sein nicht ganz unbekanntes Pseudonym. Enzensberger hat sich immer für die handwerkliche Seite der Dichtung interessiert, sozusagen für den Maschinenraum der Poesie. Dass er später also einen „Landsberger Poesie-Automat entwickelt hat, der auf Knopfdruck Gedichte produziert, wenn wundert's. „Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr“, Band 9, 27. September 1985…
Ich bin Alexander Wasner, Kulturredakteur beim SWR und „Die andere Bibliothek“ war für mich sowas wie eine Offenbarung. Literaturwissenschaft habe ich in den 80ern gegen den entschiedenen Rat meines Deutschlehrers studiert. Er wollte Klassiker im Stil der 50er besprechen, ich wollte was anderes. In meinem Ketzertum fühlte ich mich durch die Andere Bibliothek bestätigt. 1985 habe ich meinen Buchhändler jeden letzten Donnerstag im Monat belauert, um eins der Vorschauhefte zu ergattern. Es war eine echt wilde Mischung: am Anfang die Lügengeschichten des Lukian von Samosata, dann Barbey d’Aurevilly über den Dandy, in Samt eingeschlagen, etc. – die frühen Titel sparte ich ernsthaft vom BaföG ab, nur um meinem Deutschlehrer zu zeigen, dass es bessere Autoritäten gab als ihn. Besonders tat es mir Band 2 an, der zwischen den Lügengeschichten und dem Dandy. Driss Ben Hahmed Charhadi, „Ein Leben voller Fallgruben“. Eine Entdeckung von Paul Bowles. Es geht um einen Underdog in Marokko, er wird vom Stiefvater ins Kinderheim geschickt, wird aber bald wieder rausgeholt, weil die Familienehre das nicht zulässt. Wenn er mal Geld hat, nimmt ihm der Stiefvater das gleich wieder ab. Er bekommt einfach keine Chance. Und so verloren ist dann halt auch der Rest des Lebens – er kifft und stiehlt, Liebe gibt es nur bei Huren und da auch nur zusammen mit Prügel, er wohnt auf der Straße und in Gefängnissen. Erzählt aber wird das ohne jede Anklage, ohne Psychologie, nur im Hier und jetzt. Charhadi hat den Text auf Tonband eingesprochen, Paul Bowles hat es nur abgetippt. Ein irres Buch, auch heute noch. Driss Ben Hamed Charhadi: Ein Leben voller Fallgruben, Franz Greno 1985, jetzt im Aufbau Verlag, Übersetzt von Anne Ruth Strauß, 352 Seiten…
In Reynosa, Mexiko, wird der Reisende von Schüssen geweckt. Das stört ihn aber nicht weiter, er ist es noch gewohnt von seinem letzten Besuch hier. Ihn stört es auch nicht, dass das Hotel, in dem er schläft, der Mafia gehört. Um genau zu sein, liebt er seine Unterkunft. Vor allem aus einem Grund: Sein Hotelzimmer hat einen Schreibtisch. Und dieser steht so, dass man sich selbst nicht in einem Spiegel sieht. Denn in neunzig Prozent der Fälle, so erklärt es der weit gereiste Erzähler, hängt in Hotelzimmern ein Spiegel über dem Schreibtisch. Das sei falsch, schließlich würde zuhause kein Mensch auf so eine Idee kommen. Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen? Dieser Blick – auf die großen und die kleinen Details, machen die Texte von Michael Glawogger so wunderbar. Es ist ein Buch voll mit Geschichten aus der ganzen Welt - von Äthiopien bis Nordkorea, von Vietnam bis Norwegen. Manche von ihnen märchenhaft, manche voller rätselhafter Begegnungen und seltsamen Dingen, die in Hotelzimmern zurückgelassen wurden. Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher Michael Glawogger portraitierte in Dokus wie „Whores Glory“ oder „Megacities“ die Ausgebeuteten, die ums Überleben-Kämpfenden. Dieser Band ist vielleicht eines seiner persönlichsten Werke, denn er bringt uns den Reisenden Glawogger näher. Wunderschön ist auch diese Ausgabe, die bei Der Anderen Bibliothek erschienen ist. 2015, posthum, nachdem Glawogger bei Dreharbeiten in Liberia an einer Malaria-Infektion gestorben ist. Auf dem Buchrücken leuchtet wie ein Neon-Schriftzug das Wort „Hotel“. Innen beginnt jede Geschichte mit orange-farbenen Buchstaben, die langsam von Rot und Violett ins Schwarze verlaufen – ein in Druckertinte festgehaltener Sonnenuntergang. Die letzte Geschichte spielt 2012 in einem Hotel in Karlsruhe. Natürlich räumt der Reisende erst mal das Hotelzimmer um und stellt Tisch und Stuhl vor das Fenster für den perfekten Blick auf den Bahnhofsvorplatz. Beim Umbau sieht er sich selbst im Spiegel. Er denkt, für seine Nachwelt möchte er gerne so, als – Zitat – „Der Mann mit dem hellbraunen Tisch in den Armen“ überliefert werden. Das Bild, das mir aber vom Filmemacher und Autor Michael Glawogger bleibt, ist das hier: Das Bild eines Reisenden, der einen besseren Platz für sich selbst sucht, einen Platz mit Aussicht auf das Getümmel und Geschehen, auf die Menschen, für die Glawogger einen so einfühlsamen Blick hatte. Michael Glawogger - 69 Hotelzimmer, Die Andere Bibliothek, Bandnummer 363, 408 Seiten, 24 Euro, ISBN: 978-3-8477-2010-2…
Vor 20 Jahren, 2005, erschien sein weltweiter Erfolgsroman „Die Vermessung der Welt". Wir gratulieren und hören, was ihm Thomas Mann bedeutet - der in diesem Jahr ebenfalls einen runden Geburtstag hat: den 150. am 6. Juni.
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