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Marcel Reich-Ranicki: Es gibt keine jüdische Literatur | 27.10.1988

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Transkript des Gesprächs mit Marcel Reich-Ranicki

Interviewer: Yoram Kaniuk, der Autor von "Bekenntnis eines guten Arabers", ein israelischer Autor, der hier gewesen ist, hat gesagt, die deutsche Nachkriegsliteratur ist judenrein. Nun kündigen Sie ein erstes jüdisches Literaturforum vorerst mit fünf Lesungen an. Mit welcher Intention? Marcel Reich-Ranicki: Zunächst einmal findet hier kein jüdisches Literaturforum statt. Schon diese Formulierung ist ganz und gar missverständlich. Es ist genau als das Umgekehrte gedacht. Es findet im jüdischen Gemeindezentrum eine Literaturreihe statt. Sie hat aber mit Juden so gut wie gar nichts zu tun. Das jüdische Gemeindezentrum stellt sein Gebäude zur Verfügung und lädt die Autoren ein. Das heißt, ich schlage sie vor. Und es ist eine Reihe, die nichts anderes will, als zeitgenössischen deutschen Autoren zur Öffentlichkeit, zum Publikum zu verhelfen. Interviewer: Die Veranstaltungsreihe im jüdischen Gemeindezentrum stellt die Frage, impliziert die Frage nach der jüdischen Literatur in Deutschland. Jurek Becker hat gesagt: "Nein, ich bin kein Jude. Ich bin ein Schriftsteller, und ich möchte als Schriftsteller rezipiert werden, nicht als Jude." Gibt es überhaupt so etwas wie eine jüdische Literatur im Nachkriegsdeutschland? Marcel Reich-Ranicki: Nein, ich glaube nicht, ich glaube nicht und ich weiß auch nicht recht, was jüdische Literatur in der Weimarer Republik war. Wir, die Literatur, wird meiner Ansicht nach klassifiziert, vor allem nach der Sprache, in der sie entsteht. Ich glaube nicht, es ist ein ganz anderes Thema, aber ich darf es hier mit einem Satz anführen: Ich glaube nicht recht an die Existenz der österreichischen oder der schweizerischen Literatur. Ich glaube an die deutschsprachige Literatur unserer Zeit, zu der österreichische und schweizerische Schriftsteller einen sehr wesentlichen Beitrag leisten. Ganz ähnlich ist es vielleicht mit den Juden. Es gibt ja praktisch kaum noch Juden, die Deutsch schreiben. Nach 45 gab es noch die ältere Generation der Deutsch schreibenden Juden. Das waren Emigranten, die beinahe alle nicht zurückgekehrt sind nach Deutschland, sondern dann allmählich im Ausland gestorben sind, die aber zum literarischen Leben in der Bundesrepublik und in der DDR sehr wesentlich beigetragen haben. Ganz bedeutend war die Rolle der Philosophen, der Juden in Deutschland der 60er-Jahre etwa. Da war ja die Philosophie weitgehend von Juden beherrscht, möchte man sagen. Wer war es also? Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, der nicht mehr lebende Walter Benjamin, der damals nicht mehr Lebende; heute sind sie ja alle diese Philosophen inzwischen tot. Also Walter Benjamin, auch Gershom Scholem. Sie sehen eine große Reihe hervorragender Philosophen, deren Schüler heute eine große Rolle spielen. Nun weiter. Es gab nach 45 eine Anzahl von Juden, die in der deutschen Literatur eine Rolle gespielt haben, die nicht Emigranten waren oder Autoren der Weimarer Republik, die noch lebten, sondern solche Autoren, die erst nach 45 oder in den 50er-Jahren zu schreiben begonnen haben. Ein paar Namen: Paul Celan, Peter Weiss, Erich Fried, auch der von ihnen eben genannte Jurek Becker. Aber was Celan oder Fried oder Jurek Becker geschrieben haben, ist deutsche Literatur deutscher Sprache. Natürlich kann man die Frage stellen: Und hatte das Judentum auf diese Literatur gar keinen Einfluss? Oh ja, es hatte schon einen Einfluss, bewusst und unbewusst. Natürlich konnten diese Schriftsteller deren, die ja alle noch vor dem, das Dritte Reich erlebt haben oder wie Jurek Becker während des Dritten Reichs geboren wurden, aber ihre Kindheit noch im Dritten Reich erlebt haben, Becker in einem KZ. Natürlich sind diese Erlebnisse nicht ohne Einfluss gewesen. Das gilt für die Themen der Lyrik von Erich Fried oder von Paul Celan. Das gilt natürlich auch für die Themen mehrerer Romane von Jurek Becker, vor allem seines berühmtesten und besten Romans "Jakob der Lügner". Interviewer: Jüdische Literatur oder jüdische Existenz in Deutschland, in Polen, im – in Europa beinhaltet viele Faktoren. Der Talmud ist eine die Grenzerfahrung, die Erfahrung als Minderheit zu leben, ist eine andere [sic]. Es gibt noch viele andere Faktoren, die die Produktion von Literatur ausmachten. Marcel Reich-Ranicki: Ja, sehen Sie: Die Erfahrung, als Minderheit innerhalb einer nichtjüdischen Gesellschaft zu leben, diese Erfahrung haben alle diese Autoren allesamt von Moses Mendelssohn über Heine und Börne bis hin zu Thomas Brasch, haben diese Erfahrung machen müssen. Und ich bin überzeugt davon, dass die Erlebnisse dieser Autoren innerhalb der nichtjüdischen Welt auf ihr Werk einen sehr starken Einfluss hatten. Wie stark dieser Einfluss war, erfahren wir oft erst jetzt, weil man das nicht so leicht am Werk erkennen kann, wohl aber an anderen Schriften dieser Autoren, nämlich Briefe, Tagebücher, Erinnerungen. Die sind zum großen Teil erst nach dem Tod veröffentlicht worden. Das ist eine sehr wichtige Rolle, und das hat nichts mit der Kenntnis des Talmuds oder jüdischer Überlieferung zu tun, sondern einfach mit dem Alltag eines Juden innerhalb einer nichtjüdischen, oft genug antisemitischen Gesellschaft.
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Interviewer: Yoram Kaniuk, der Autor von "Bekenntnis eines guten Arabers", ein israelischer Autor, der hier gewesen ist, hat gesagt, die deutsche Nachkriegsliteratur ist judenrein. Nun kündigen Sie ein erstes jüdisches Literaturforum vorerst mit fünf Lesungen an. Mit welcher Intention? Marcel Reich-Ranicki: Zunächst einmal findet hier kein jüdisches Literaturforum statt. Schon diese Formulierung ist ganz und gar missverständlich. Es ist genau als das Umgekehrte gedacht. Es findet im jüdischen Gemeindezentrum eine Literaturreihe statt. Sie hat aber mit Juden so gut wie gar nichts zu tun. Das jüdische Gemeindezentrum stellt sein Gebäude zur Verfügung und lädt die Autoren ein. Das heißt, ich schlage sie vor. Und es ist eine Reihe, die nichts anderes will, als zeitgenössischen deutschen Autoren zur Öffentlichkeit, zum Publikum zu verhelfen. Interviewer: Die Veranstaltungsreihe im jüdischen Gemeindezentrum stellt die Frage, impliziert die Frage nach der jüdischen Literatur in Deutschland. Jurek Becker hat gesagt: "Nein, ich bin kein Jude. Ich bin ein Schriftsteller, und ich möchte als Schriftsteller rezipiert werden, nicht als Jude." Gibt es überhaupt so etwas wie eine jüdische Literatur im Nachkriegsdeutschland? Marcel Reich-Ranicki: Nein, ich glaube nicht, ich glaube nicht und ich weiß auch nicht recht, was jüdische Literatur in der Weimarer Republik war. Wir, die Literatur, wird meiner Ansicht nach klassifiziert, vor allem nach der Sprache, in der sie entsteht. Ich glaube nicht, es ist ein ganz anderes Thema, aber ich darf es hier mit einem Satz anführen: Ich glaube nicht recht an die Existenz der österreichischen oder der schweizerischen Literatur. Ich glaube an die deutschsprachige Literatur unserer Zeit, zu der österreichische und schweizerische Schriftsteller einen sehr wesentlichen Beitrag leisten. Ganz ähnlich ist es vielleicht mit den Juden. Es gibt ja praktisch kaum noch Juden, die Deutsch schreiben. Nach 45 gab es noch die ältere Generation der Deutsch schreibenden Juden. Das waren Emigranten, die beinahe alle nicht zurückgekehrt sind nach Deutschland, sondern dann allmählich im Ausland gestorben sind, die aber zum literarischen Leben in der Bundesrepublik und in der DDR sehr wesentlich beigetragen haben. Ganz bedeutend war die Rolle der Philosophen, der Juden in Deutschland der 60er-Jahre etwa. Da war ja die Philosophie weitgehend von Juden beherrscht, möchte man sagen. Wer war es also? Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, der nicht mehr lebende Walter Benjamin, der damals nicht mehr Lebende; heute sind sie ja alle diese Philosophen inzwischen tot. Also Walter Benjamin, auch Gershom Scholem. Sie sehen eine große Reihe hervorragender Philosophen, deren Schüler heute eine große Rolle spielen. Nun weiter. Es gab nach 45 eine Anzahl von Juden, die in der deutschen Literatur eine Rolle gespielt haben, die nicht Emigranten waren oder Autoren der Weimarer Republik, die noch lebten, sondern solche Autoren, die erst nach 45 oder in den 50er-Jahren zu schreiben begonnen haben. Ein paar Namen: Paul Celan, Peter Weiss, Erich Fried, auch der von ihnen eben genannte Jurek Becker. Aber was Celan oder Fried oder Jurek Becker geschrieben haben, ist deutsche Literatur deutscher Sprache. Natürlich kann man die Frage stellen: Und hatte das Judentum auf diese Literatur gar keinen Einfluss? Oh ja, es hatte schon einen Einfluss, bewusst und unbewusst. Natürlich konnten diese Schriftsteller deren, die ja alle noch vor dem, das Dritte Reich erlebt haben oder wie Jurek Becker während des Dritten Reichs geboren wurden, aber ihre Kindheit noch im Dritten Reich erlebt haben, Becker in einem KZ. Natürlich sind diese Erlebnisse nicht ohne Einfluss gewesen. Das gilt für die Themen der Lyrik von Erich Fried oder von Paul Celan. Das gilt natürlich auch für die Themen mehrerer Romane von Jurek Becker, vor allem seines berühmtesten und besten Romans "Jakob der Lügner". Interviewer: Jüdische Literatur oder jüdische Existenz in Deutschland, in Polen, im – in Europa beinhaltet viele Faktoren. Der Talmud ist eine die Grenzerfahrung, die Erfahrung als Minderheit zu leben, ist eine andere [sic]. Es gibt noch viele andere Faktoren, die die Produktion von Literatur ausmachten. Marcel Reich-Ranicki: Ja, sehen Sie: Die Erfahrung, als Minderheit innerhalb einer nichtjüdischen Gesellschaft zu leben, diese Erfahrung haben alle diese Autoren allesamt von Moses Mendelssohn über Heine und Börne bis hin zu Thomas Brasch, haben diese Erfahrung machen müssen. Und ich bin überzeugt davon, dass die Erlebnisse dieser Autoren innerhalb der nichtjüdischen Welt auf ihr Werk einen sehr starken Einfluss hatten. Wie stark dieser Einfluss war, erfahren wir oft erst jetzt, weil man das nicht so leicht am Werk erkennen kann, wohl aber an anderen Schriften dieser Autoren, nämlich Briefe, Tagebücher, Erinnerungen. Die sind zum großen Teil erst nach dem Tod veröffentlicht worden. Das ist eine sehr wichtige Rolle, und das hat nichts mit der Kenntnis des Talmuds oder jüdischer Überlieferung zu tun, sondern einfach mit dem Alltag eines Juden innerhalb einer nichtjüdischen, oft genug antisemitischen Gesellschaft.
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