Artwork

Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.
Player FM - Podcast-App
Gehen Sie mit der App Player FM offline!

Vokalpolyphonie - Die Suche nach dem perfekten Klang

23:31
 
Teilen
 

Manage episode 408920282 series 1833401
Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.

Um 1200 erlebt die Welt der Musik eine Revolution: Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit, schafft neue Dimensionen des Hörens und Musikerlebens. Die Folgen dieser Revolution klingen bis heute nach. Von Markus Vanhoefer

Credits
Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Thomas Birnstiel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz

Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:

"Es werde Licht, es geht immer weiter aufwärts", so könnte man einen Stil umschreiben, der sich ab Mitte des 12. Jahrhunderts von England aus in ganz Europa durchgesetzt hat. Die sogenannte "Gotik". Die Gotik brachte, um es ein wenig salopp zu sagen, ein wenig Licht ins vermeintlich dunkle Mittelalter. Autor: Martin Trauner
JETZT ENTDECKEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Zitator:

Vox est aer spiritu verberatus. Die Stimme ist der von Geist beseelte Hauch,..

Sprecher:

… Isidor von Sevilla, ein Musiktheoretiker des Frühmittelalters. Das Brockhaus-Lexikon schreibt:

Zitator:

Polyphonie. Vielstimmigkeit eines Musiksatzes bei voller melodischer Eigenständigkeit jeder einzelnen Stimme.

(Musik geht weg!) ))

Sprecher:

Es ist im Jahr 1163 nach Christus, als auf der Pariser „Ile de cité“ eine Großbaustelle ihren Betrieb aufnimmt. Steinmetze behauen Granitblöcke und fügen sie in himmlischer Höhe zu Spitzbögen zusammen. Die Kathedrale Notre Dame de Paris entsteht. Die mächtige Kirche soll ein Gesamtkunstwerk werden, Porta coeli, die Pforte zum Paradies, ein mystischer Ort, der seinen Besuchern eine so überwältigende wie universelle Erfahrungen bietet.

Zitator:

Was leuchtet vor Schönheit, was entzückt durch Duft, was dem Geschmack schmeichelt, was das Ohr bezaubert,

Sprecher:

…sagt Suger, der Abt von Saint Denis. „Was das Ohr bezaubert“ heißt: Ein unverzichtbarer Bestandteil des theologischen Konzepts „Kathedrale“ ist Musik.

(Musik 2: Perotin: „Sederunt principes“. Musik bleibt unter Text. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“.

Sprecher:

Dieses „Sederunt“ ist ein Stück, das im Umfeld der Pariser Dombaustelle gesungen wird. Es ist mindestens genauso revolutionär, wie Notre Dames gotische Architektur. Kompositionen wie diese markieren den Beginn der abendländischen mehrstimmigen Musik. Von der „Schule von Notre Dame“ spricht die Musikwissenschaft. Und noch ein weiteres, wichtiges Phänomen lässt sich mit Blick auf die soeben gegründete Kathedrale beobachten. Den entscheidenden Hinweis liefert der Reise-Bericht eines anonymen englischen Mönches. In ihm entdeckt der Leser zwei Namen, Leonin und Perotin, beide sind vor und nach 1200 Kapellmeister der Pariser Kathedrale. Leonin sei…

Zitator:

…Optimus organista - größter Komponist von Organa, …

Sprecher:

…vermerkt der Unbekannte, sein Nachfolger Perotin sei..

Zitator:

…optimus discantor et melior quam Leoninus - größter Meister des Discants und noch bedeutender als Leoninus.

Sprecher:

Leonin und Perotin, es sind die ersten überlieferten Komponistennamen der Musikgeschichte.

(Musik hoch und weg!)

Sprecher:

Die Erwähnung der beiden Komponistennamen ist ein Indiz für ein

gesellschaftliches Umdenken: Der schöpferische Mensch tritt aus dem Dunkel des Kollektivs. Denn bisher unterscheidet der Sprachgebrauch zwischen zwei Musikertypen. Da ist auf der einen Seite der Cantor, der ausübende Musiker, zu ihnen zählt der Komponist. Der Cantor gilt als Musiker zweiter Klasse, ihm gegenüber steht der musicus, der Musiktheoretiker. Der Benediktiner Aurelius Reomensis:

Zitator:

Der Unterschied zwischen musicus und cantor ist so groß wie zwischen praktischem Können und Verstehen. Das praktische Können dient gewissermaßen als Sklave, während das Verstehen sozusagen als Herr befiehlt, da die Hände eines Schaffenden vergeblich arbeiten, außer das Werk wird vom Verstand belebt.

(Musik 3: Perotin: „Viderunt“. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“. ECM 1385.

Sprecher:

Das erwachende Bewusstsein für individuelle kreative Leistung und die Nennung der beiden Komponisten Leonin und Perotin hängen sicherlich zusammen mit der Musik, die in Notre Dame entsteht. Natürlich hat es bereits zuvor mehrstimmige Versuche gegeben, in Paris kristallisieren sich diese Ansätze zu qualitativ hochstehenden Kunstwerken. Kompositionen dieser Art hat es bisher noch nicht gegeben.

(Musik hoch!)

Sprecher:

Dieses „Viderunt omnes“ hat Perotin vermutlich zum Weihnachtsfest 1196 geschrieben. Es ist die erste bekannte vierstimmige Komposition der abendländischen Musik. Perotin hat das epochale Werk im so genannten Organum-Stil verfasst, der von einer rhythmischen Motorik gekennzeichnet wird. Der Begriff „Organum“ ist für unser heutiges Verständnis verwirrend, denn er hat mit dem Instrument Kirchenorgel nichts zu tun. Organa sind „Engelsgesänge“:

Zitator:

Celeste organum hodie sonuit in terra, / ad partum virginis superum cecinit caterva - Das himmlische Organum ertönte heute auf der Erde, / die überirdische Schar sang zur Geburt der Jungfrau,..

Sprecher:

…. heißt es in einem zeitgenössischen Weihnachtshymnus.

(Musik 4: Monteverdi: „Missa in illo tempore“. Daraus: “Gloria”. Sprecher darüber! The Sixteen.

Sprecher:

Die Ära der Vokalpolyphonie erstreckt sich über 400 Jahre. Sie entwickelt ihre erste Blüte um 1200 und verklingt im Übergang der Renaissance zum Barock an der Schnittstelle des 16ten zum 17ten Jahrhunderts.

(Musik hoch)

Sprecher:

Dieses Gloria aus Claudio Monteverdis 1610 komponierter „Missa in illo tempore“, kennzeichnet den musikhistorischen Bruch. Erst zur Monteverdi-Zeit entwickelt sich unsere moderne Harmonielehre, die den Zusammenklang mehrerer Töne als Akkord begreift und diese Akkorde in einem funktionalen Zusammenhang bringt. Die Harmonielehre der „musikalischen Neuzeit“ denkt vertikal, die polyphonen Komponisten des Mittelalters und der Renaissance denken dagegen horizontal. Sie schichten eigenständige melodischen Linien übereinander. Ein Empfinden für Akkorde gibt es noch nicht. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

(Musik kurz hoch und weg!)

Sprecher:

Wie funktioniert Vokalpolyphonie? Wie sieht polyphone Kompositionstechnik aus? Was ist der geistige Hintergrund? Um das Prinzip der Mehrstimmigkeit zu begreifen, ist es notwendig, sich mit deren Entstehungsgeschichte genauer auseinanderzusetzen. Und die beginnt lange vor dem Bau von Notre Dame und Perotin.

(Musik 5: Notker: „Innocentes- Sequenz „Laus tibi Christe“. Ensemble Gilles Binchois. Auf: „Musique et poesie à Saint-Gall”. harmonia mundi France

Sprecher:

Mit dieser einstimmigen Sequenz sind wir sind in den Jahren 500 bis 1100 nach Christus. Ohne Musiktheorie keine Praxis, denn die Mehrstimmigkeit benötigt ein ausgeklügeltes Tonsystem. Dieses Konstrukt schaffen gelehrte Mönche wie der Sankt Gallener Klosterbibliothekar Notker der Stammler oder der italienische Benediktiner Guido von Arezzo. Sie legen das musiktheoretische Fundament, auf dem die Musik des polyphonen Zeitalters ruhen wird. Diese geweihten Männer sind Wissenschaftler, die Musik als Teil der „sieben freien Künste“ betreiben. Die „Artes Liberales“ sind im Mittelalter der Kanon der universitären Bildung. Einer ihrer Fach-Bereiche ist, neben der Theologie, der Rhetorik und der Mathematik, die Musik. Allerdings nicht als ausübende Kunst, sondern als Mischung aus Musiktheorie und Physik bzw. Akustik. Der Gelehrte Cassiodor:

MUSIK ENDE

Zitator:

Musik ist die Wissenschaft, die die Harmonie der Dinge untereinander, das heißt ihrer Klänge, nach ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten erforscht.

(Musik 6: Perotin: „Dum sigillum“. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“.

Sprecher:

Was sind die musiktheoretischen Voraussetzungen der Vokalpolyphonie? Vor der Mehrstimmigkeit steht Einstimmigkeit. Aber bereits sie braucht Grundlagenforschung. Das ist zunächst die physikalische Analyse eines klingenden Tones, meist anhand einer schwingenden Saite. So führt die Beobachtung von Obertonreihen zur Entwicklung von Tonleitern. Ein zweiter Schritt zur Polyphonie ist die Erfindung einer Notenschrift mit exakter Tonhöhe. Sie ermöglicht die genaue Zuordnung von Tönen zu einem gemeinsamen Klang. Ein dritter Schritt ist folgende Überlegung: Wenn zwei Töne zusammen erklingen, was empfindet unser Ohr als wohlklingend und was nicht?

MUSIK ENDE

Zitator:

In der Musik gibt es bestimmte festgelegte Intervalle, aus denen Zusammenklänge entstehen können, …

Sprecher:

… „Musica Enchiriadis“, ein berühmtes Traktat des späten 9. Jahrhunderts. Die Definition, welche Intervalle, also welche Tonabstände, konsonant und welche dissonant sind, ist eine der weitreichendsten „Regeln“ der westlichen Musik. Nach diesen Kriterien komponieren Leonin und Perotin. Und noch Jahrhunderte nach ihnen werden Komponisten nach diesen Kriterien komponieren.

Musik 7: Johannes Ockeghem: „Missa Mi-MI”. Daraus „Sanctus“.

The Clecrks´Group.

Sprecher:

Und dann gibt es noch einen wichtigen Aspekt für das Verständnis der polyphonen Musik von Perotin bis Monteverdi. Der Zusammenhang zwischen Mathematik, Musik und Theologie. Diese Idee führt uns zurück zu den „sieben freien Künsten“ des Mittelalters. In deren Philosophie gehört alles zusammen, die Bewegung der Gestirne, der Klang einer Saite, der menschliche Herzschlag, all das lässt sich in Zahlen ausdrücken. Die wiederum sind Offenbarungen einer göttlichen Harmonie.

Zitator:

Die Musik ist eine Lehre, bzw. eine Wissenschaft, die von den Zahlen handelt, …

Sprecher:

…schreibt Aurelius Cassiodor im sechsten Jahrhundert:

Zitator:

Auch der Himmel und die Erde und alles, was auf göttliche Anordnung hin geschieht, besteht nicht ohne Musik; wie Pythagoras bezeugt, ist diese Welt durch Musik begründet und wird durch Musik gelenkt.

Musik 8: Philippe de Vitry: „Impudenter Circumvivi”. Sprecher darüber! Auf: Sequenzia: “Philippe de Vitry“ deutsche harmonia mundi.

Sprecher:

Von der Mystik zum realen Klang. Musik ist immer ein Fall von Moden, was heute in ist, ist morgen out. Das 13. Jahrhundert. Paris ist das Zentrum der frühen Mehrstimmigkeit. In der Seine-Stadt werden Innovationen entwickelt und allgemein gültige Standards gesetzt. Der erste polyphone Megatrend ist das Organum. Um 1250 wird es von einer Form verdrängt, die für die Mehrstimmigkeit genauso bedeutend sein wird, wie die Sonate für Klassik und Romantik: Die Motette.

Sprecher:

Das Revolutionäre an der mittelalterlichen Motette ist ihr Umgang mit dem Text. Der Begriff Motette selbst ist eine Verkleinerungsform des französischen „mot“, auf deutsch „Wort“, und bedeutet so viel wie „viele kleine Wörtchen“, denn in ihr werden die Stimmen, manchmal jede für sich, neu textiert. Diese Neu-Dichtung kann sowohl kirchlich als auch weltlich sein.

(Musik 9: privat: Anonymus: „Je ne chant pas“. Auf: Gothic Voices: „The Marriage of Heaven and Hell”. )

Sprecher:

„Je ne chant pas“ ist diese Motette eines unbekannten Meisters des 13. Jahrhunderts überschrieben.

Zitator:

Ich singe nicht aus Heiterkeit oder Fröhlichkeit, denn die Liebe hat mich so lange leiden lassen. Ich werde mich nie von diesem Leiden geheilt sehen. Denn niemand außer ihr kann mich wieder gesund machen.

Sprecher:

Dem allegorischen Liebesleid steht in einer anderen Gesangsstimme Liebeslust gegenüber:

Zitator:

Ich möchte ihr zuliebe singen, die ich so lange geliebt habe. Gott! Ich fand so viel Vergnügen daran, sie anzuschauen, ihren schönen Körper und ihr rosiges Gesicht.

(Musik kurz hoch!)

Sprecher:

Motetten wie diese gelten als elitär und sublim.

Zitator:

Diese Art von Musik sollte nicht vor der breiten Bevölkerung aufgeführt werden, denn diese versteht weder ihre Subtilität, noch hat sie Freude daran, sie zu hören, …

Sprecher:

…warnt ein Traktat des Jahres 1300. Das heißt auch, mit der Motette verlässt die musikalische Hochkultur die Kathedrale und erschließt sich ein höfisches Umfeld.

(Musik hoch mit Schluss.)

Sprecher:

Im Jahr 1322 sorgt eine Abhandlung für Aufsehen, die einer ganzen musikgeschichtlichen Epoche den Namen gibt. „Ars Nova“. Verfasser ist Philippe de Vitry, ein ehemaliger Student der Pariser Sorbonne, der seine Kirchenkarriere als Bischof von Meaux beenden wird.

Zitator:

Wisse, dass Musik die Wissenschaft vom richtigen Singen ist, …

Sprecher:

…steht in der Einleitung eines Traktates, in dem sich Philippe de Vitry mit einem essenziellen Problem der polyphonen Musik seiner Zeit auseinandersetzt. In der damals gebräuchlichen Notation lassen sich schwierige rhythmische Verhältnisse nicht darstellen. Eine Lösung dieses Dilemmas wäre ein einfaches Hilfsmittel, der Taktstrich. Doch auf diese naheliegende Idee kommen selbst die klügsten Musiktheoretiker über Jahrhunderte nicht. Stattdessen erfindet de Vitry Sonderzeichen und komplexe Regeln für Rhythmusmodelle.

(Musik 10: / privat: Philippe de Vitry, Cum statua. Motette zu 3 Stimmen, BLUE, Music of the Gothic Era (CD 2); ZEIT: 01:20

Sprecher:

Diese Innovationen erschweren das Verständnis eines Notentextes ungemein - Notationskunde ist heute ein Fach der Musikwissenschaft - andererseits öffnen sie den Komponisten das Fenster zu bis dahin nicht realisierbaren Gestaltungsmöglichkeiten. „Ars Nova“ bedeutet deshalb, eine „neue Kunst“ als Avantgarde, die sich bewusst gegen die „alte Kunst“ „Ars antiqua“ abgrenzt.

(Musik hoch)

Sprecher:

Philippe de Vitry, der Vordenker der „Ars Nova“, ist einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit, der musikalische Superstar des 14. Jahrhunderts ist jedoch ein anderer: Der Kleriker, Höfling, Komponist und Dichter Guillaume de Machaut. Das Allround-Genie, das viele seiner Texte vertonte, soll sogar von Groupies umschwärmt worden sein. So raunt ein weit verbreitetes Gerücht, der alte Machaut sei den Verführungskünsten eines 17-jährigen Mädchens aus dem Hochadel erlegen, das an seinem Ruhm teilhaben wollte. Das Ergebnis der „unheiligen“ Liaison ist angeblich einer der ersten Liebesromane der französischen Literatur: „Le Livre du voir dit - Das Buch von der wahren Dichtung“. In einer pikanten Szene überreicht die blutjunge Protagonistin ihrem Geliebten, einem nicht mehr ganz taufrischen Poeten, den goldenen Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel, der Clavette.

Zitator:

Und die Musik ist eine Wissenschaft, sie will, dass man lacht, singt oder tanzt,…

Sprecher:

…heißt es im Prolog eines Machaut-Manuskripts.

Musik 11: Guillaume de Machaut: „Ma fin est mon commencement“. Sprecher beginnt bereits unter Text! Hillard Ensemble.

Sprecher:

Superstar Machaut, der Erfolg verhilft dem Kanonikus der Kathedrale von Reims zu einem außergewöhnlichen Künstlerleben. Machaut kann sich seine Mäzene aussuchen. Er schließt sich dem Hofstaat des Herzogs Johann von Luxemburg an, den er auf dessen Reisen und Kriegszügen begleitet. Vermutlich ist Machaut sogar vor Ort, als Johann in der Schlacht von Crécy, dem Ausgangspunkt des 100-jährigen Krieges zwischen Frankreich und England fällt.

MUSIK ENDE

(Musik 12: Guillaume de Machaut: „Missa de Notre Dame“, Daraus: „Agnus Dei“. Sprecher nach kurzer Zäsur darüber. Hillard Ensemble.

Sprecher:

Neben seinem so facettenreichen wie raffinierten weltlichen Oeuvre hat Guillaume de Machaut auch als Kirchenkomponist ein musikhistorisches Ausrufezeichen gesetzt. Um 1360 verfasst er die „Messe de Notre Dame“. Es ist die älteste uns bekannte Vertonung des liturgischen Mess-Textes eines einzelnen Komponisten.

(Musik hoch!)

Sprecher:

Komponisten wie Machaut oder Perotin verbindet eines: Die Art und Weise, wie sie komponieren. Sie denken nicht, wie wir heute, in vertikalen Akkorden, sondern horizontal. Das heißt, die Meister der Polyphonie schichten Linie über Linie. Grundlage ihrer Werke ist der so genannte Cantus, eine vorgegebene Melodie. Diese Melodien, es sind meist bereits gebräuchliche liturgische Gesänge, werden zunächst nicht im Original übernommen. Die Notre-Dame-Schule verwendet nur kleine Abschnitte, deren Notenwerte zu schier endlos ausgehaltenen Tönen gestreckt werden. Über diesen Slow-Motion-Cantus wird eine zweite, wesentlich bewegtere Stimme gelegt, der Discantus, danach noch eine dritte Stimme, usw. Die kreative Gestaltung dieser Stimmen ist der eigentliche Kompositionsprozess.

(Musik 13: Josquin Desprez: „Missa l´homme armé“. Daraus „Kyrie“. / CD33925; ZEIT: 01:20)

Sprecher:

Im Laufe der Jahrhunderte verändert sich jedoch der Cantus, bzw. Cantus firmus. Wie hier in der „Missa l´homme armé“ von Josquin Desprez. Die Melodie, die diesem Kyrie zugrunde liegt, ist das Lied vom „bewaffneten Mann“, einer der großen weltlichen Hits der Zeit.

(Musik hoch!)

Sprecher:

Wie ist es mit der Geschichte der Vokalpolyphonie weitergegangen? Es gäbe noch viele Kapitel, die wir aufschlagen könnten. Zum Beispiel das des italienischen Trecento mit dem leuchtenden Namen Francesco Landini. Oder das der Franco-flämischen Schule, sie ist das herausragende musikalische Kraftzentrum der Früh-Renaissance. Johannes Ockeghem, Heinrich Isaac oder der große Josquin Desprez sind hier zu nennen. Die polyphonen Klänge der Franco-Flamen strahlen über ganz Europa bis nach Italien. Dort finden wird den Komponisten, der während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Maß aller Dinge wird: Den päpstlichen Kapellmeister Giovanni Pierluigi da Palestrina. Der „Fürst der Musik“ komponiert in politisch schwierigen Zeiten, jenen von Reformation und Gegenreformation. Der Legende nach schreibt Palestrina seine Missa Papae Marcelli, um das Trienter Konzil vom Verbot mehrstimmiger Sakralmusik abzuhalten. Mit Erfolg. Mit Segen der Kurie wird der so genannte Palestrina-Stil sogar zum verbindlichen Modell für alle Kirchenkompositionen.

Musik 14: Palestrina: “Missa Papae Marcelli”. Daraus “Credo”.

Sprecher:

Am Ende unserer Zeit-Reise durch 400 Jahre Polyphonie steht eine Frage: Wie „vokal“ war die frühe Mehrstimmigkeit? Die Musikwissenschaft war lange vom „Ideal des reinen A-capella-Klangs“ überzeugt. Seit einiger Zeit melden sich immer mehr Zweifler zu Wort: Zwar ist die Mehrstimmigkeit des Mittelalters gesungene Musik. Aber was ist mit Instrumenten? Auch die gibt es. In „La Remède de fortune“ zählt Guillaume de Machaut dutzende auf:

Zitator:

Ich sah sie alle in einem Kreis, die Harfe, Hörner, Sackpfeifen, die Rebeque, Monochorde, Businen, Cymbeln, Violen, Flöten, Pfeifen…

Sprecher:

Kamen diese Instrumente in einem gesungenen Machaut-Stück zum Einsatz? Haben sie die Gesangsstimmen gedoppelt und wenn ja, welche? Wurden Gesangsstimmen vielleicht sogar von Instrumenten ersetzt? Die uns erhaltenen Manuskripte bieten keinerlei Hinweis. Die Aufführungspraxis Alter Musik ist ein spekulatives Abenteuer, bei dem es keine eindeutige Lösung gibt.


  continue reading

4203 Episoden

Artwork
iconTeilen
 
Manage episode 408920282 series 1833401
Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.

Um 1200 erlebt die Welt der Musik eine Revolution: Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit, schafft neue Dimensionen des Hörens und Musikerlebens. Die Folgen dieser Revolution klingen bis heute nach. Von Markus Vanhoefer

Credits
Autor dieser Folge: Markus Vanhoefer
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Thomas Birnstiel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz

Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:

"Es werde Licht, es geht immer weiter aufwärts", so könnte man einen Stil umschreiben, der sich ab Mitte des 12. Jahrhunderts von England aus in ganz Europa durchgesetzt hat. Die sogenannte "Gotik". Die Gotik brachte, um es ein wenig salopp zu sagen, ein wenig Licht ins vermeintlich dunkle Mittelalter. Autor: Martin Trauner
JETZT ENTDECKEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Zitator:

Vox est aer spiritu verberatus. Die Stimme ist der von Geist beseelte Hauch,..

Sprecher:

… Isidor von Sevilla, ein Musiktheoretiker des Frühmittelalters. Das Brockhaus-Lexikon schreibt:

Zitator:

Polyphonie. Vielstimmigkeit eines Musiksatzes bei voller melodischer Eigenständigkeit jeder einzelnen Stimme.

(Musik geht weg!) ))

Sprecher:

Es ist im Jahr 1163 nach Christus, als auf der Pariser „Ile de cité“ eine Großbaustelle ihren Betrieb aufnimmt. Steinmetze behauen Granitblöcke und fügen sie in himmlischer Höhe zu Spitzbögen zusammen. Die Kathedrale Notre Dame de Paris entsteht. Die mächtige Kirche soll ein Gesamtkunstwerk werden, Porta coeli, die Pforte zum Paradies, ein mystischer Ort, der seinen Besuchern eine so überwältigende wie universelle Erfahrungen bietet.

Zitator:

Was leuchtet vor Schönheit, was entzückt durch Duft, was dem Geschmack schmeichelt, was das Ohr bezaubert,

Sprecher:

…sagt Suger, der Abt von Saint Denis. „Was das Ohr bezaubert“ heißt: Ein unverzichtbarer Bestandteil des theologischen Konzepts „Kathedrale“ ist Musik.

(Musik 2: Perotin: „Sederunt principes“. Musik bleibt unter Text. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“.

Sprecher:

Dieses „Sederunt“ ist ein Stück, das im Umfeld der Pariser Dombaustelle gesungen wird. Es ist mindestens genauso revolutionär, wie Notre Dames gotische Architektur. Kompositionen wie diese markieren den Beginn der abendländischen mehrstimmigen Musik. Von der „Schule von Notre Dame“ spricht die Musikwissenschaft. Und noch ein weiteres, wichtiges Phänomen lässt sich mit Blick auf die soeben gegründete Kathedrale beobachten. Den entscheidenden Hinweis liefert der Reise-Bericht eines anonymen englischen Mönches. In ihm entdeckt der Leser zwei Namen, Leonin und Perotin, beide sind vor und nach 1200 Kapellmeister der Pariser Kathedrale. Leonin sei…

Zitator:

…Optimus organista - größter Komponist von Organa, …

Sprecher:

…vermerkt der Unbekannte, sein Nachfolger Perotin sei..

Zitator:

…optimus discantor et melior quam Leoninus - größter Meister des Discants und noch bedeutender als Leoninus.

Sprecher:

Leonin und Perotin, es sind die ersten überlieferten Komponistennamen der Musikgeschichte.

(Musik hoch und weg!)

Sprecher:

Die Erwähnung der beiden Komponistennamen ist ein Indiz für ein

gesellschaftliches Umdenken: Der schöpferische Mensch tritt aus dem Dunkel des Kollektivs. Denn bisher unterscheidet der Sprachgebrauch zwischen zwei Musikertypen. Da ist auf der einen Seite der Cantor, der ausübende Musiker, zu ihnen zählt der Komponist. Der Cantor gilt als Musiker zweiter Klasse, ihm gegenüber steht der musicus, der Musiktheoretiker. Der Benediktiner Aurelius Reomensis:

Zitator:

Der Unterschied zwischen musicus und cantor ist so groß wie zwischen praktischem Können und Verstehen. Das praktische Können dient gewissermaßen als Sklave, während das Verstehen sozusagen als Herr befiehlt, da die Hände eines Schaffenden vergeblich arbeiten, außer das Werk wird vom Verstand belebt.

(Musik 3: Perotin: „Viderunt“. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“. ECM 1385.

Sprecher:

Das erwachende Bewusstsein für individuelle kreative Leistung und die Nennung der beiden Komponisten Leonin und Perotin hängen sicherlich zusammen mit der Musik, die in Notre Dame entsteht. Natürlich hat es bereits zuvor mehrstimmige Versuche gegeben, in Paris kristallisieren sich diese Ansätze zu qualitativ hochstehenden Kunstwerken. Kompositionen dieser Art hat es bisher noch nicht gegeben.

(Musik hoch!)

Sprecher:

Dieses „Viderunt omnes“ hat Perotin vermutlich zum Weihnachtsfest 1196 geschrieben. Es ist die erste bekannte vierstimmige Komposition der abendländischen Musik. Perotin hat das epochale Werk im so genannten Organum-Stil verfasst, der von einer rhythmischen Motorik gekennzeichnet wird. Der Begriff „Organum“ ist für unser heutiges Verständnis verwirrend, denn er hat mit dem Instrument Kirchenorgel nichts zu tun. Organa sind „Engelsgesänge“:

Zitator:

Celeste organum hodie sonuit in terra, / ad partum virginis superum cecinit caterva - Das himmlische Organum ertönte heute auf der Erde, / die überirdische Schar sang zur Geburt der Jungfrau,..

Sprecher:

…. heißt es in einem zeitgenössischen Weihnachtshymnus.

(Musik 4: Monteverdi: „Missa in illo tempore“. Daraus: “Gloria”. Sprecher darüber! The Sixteen.

Sprecher:

Die Ära der Vokalpolyphonie erstreckt sich über 400 Jahre. Sie entwickelt ihre erste Blüte um 1200 und verklingt im Übergang der Renaissance zum Barock an der Schnittstelle des 16ten zum 17ten Jahrhunderts.

(Musik hoch)

Sprecher:

Dieses Gloria aus Claudio Monteverdis 1610 komponierter „Missa in illo tempore“, kennzeichnet den musikhistorischen Bruch. Erst zur Monteverdi-Zeit entwickelt sich unsere moderne Harmonielehre, die den Zusammenklang mehrerer Töne als Akkord begreift und diese Akkorde in einem funktionalen Zusammenhang bringt. Die Harmonielehre der „musikalischen Neuzeit“ denkt vertikal, die polyphonen Komponisten des Mittelalters und der Renaissance denken dagegen horizontal. Sie schichten eigenständige melodischen Linien übereinander. Ein Empfinden für Akkorde gibt es noch nicht. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

(Musik kurz hoch und weg!)

Sprecher:

Wie funktioniert Vokalpolyphonie? Wie sieht polyphone Kompositionstechnik aus? Was ist der geistige Hintergrund? Um das Prinzip der Mehrstimmigkeit zu begreifen, ist es notwendig, sich mit deren Entstehungsgeschichte genauer auseinanderzusetzen. Und die beginnt lange vor dem Bau von Notre Dame und Perotin.

(Musik 5: Notker: „Innocentes- Sequenz „Laus tibi Christe“. Ensemble Gilles Binchois. Auf: „Musique et poesie à Saint-Gall”. harmonia mundi France

Sprecher:

Mit dieser einstimmigen Sequenz sind wir sind in den Jahren 500 bis 1100 nach Christus. Ohne Musiktheorie keine Praxis, denn die Mehrstimmigkeit benötigt ein ausgeklügeltes Tonsystem. Dieses Konstrukt schaffen gelehrte Mönche wie der Sankt Gallener Klosterbibliothekar Notker der Stammler oder der italienische Benediktiner Guido von Arezzo. Sie legen das musiktheoretische Fundament, auf dem die Musik des polyphonen Zeitalters ruhen wird. Diese geweihten Männer sind Wissenschaftler, die Musik als Teil der „sieben freien Künste“ betreiben. Die „Artes Liberales“ sind im Mittelalter der Kanon der universitären Bildung. Einer ihrer Fach-Bereiche ist, neben der Theologie, der Rhetorik und der Mathematik, die Musik. Allerdings nicht als ausübende Kunst, sondern als Mischung aus Musiktheorie und Physik bzw. Akustik. Der Gelehrte Cassiodor:

MUSIK ENDE

Zitator:

Musik ist die Wissenschaft, die die Harmonie der Dinge untereinander, das heißt ihrer Klänge, nach ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten erforscht.

(Musik 6: Perotin: „Dum sigillum“. Hilliard Ensemble. Auf: Hilliard Ensemble: „Perotin“.

Sprecher:

Was sind die musiktheoretischen Voraussetzungen der Vokalpolyphonie? Vor der Mehrstimmigkeit steht Einstimmigkeit. Aber bereits sie braucht Grundlagenforschung. Das ist zunächst die physikalische Analyse eines klingenden Tones, meist anhand einer schwingenden Saite. So führt die Beobachtung von Obertonreihen zur Entwicklung von Tonleitern. Ein zweiter Schritt zur Polyphonie ist die Erfindung einer Notenschrift mit exakter Tonhöhe. Sie ermöglicht die genaue Zuordnung von Tönen zu einem gemeinsamen Klang. Ein dritter Schritt ist folgende Überlegung: Wenn zwei Töne zusammen erklingen, was empfindet unser Ohr als wohlklingend und was nicht?

MUSIK ENDE

Zitator:

In der Musik gibt es bestimmte festgelegte Intervalle, aus denen Zusammenklänge entstehen können, …

Sprecher:

… „Musica Enchiriadis“, ein berühmtes Traktat des späten 9. Jahrhunderts. Die Definition, welche Intervalle, also welche Tonabstände, konsonant und welche dissonant sind, ist eine der weitreichendsten „Regeln“ der westlichen Musik. Nach diesen Kriterien komponieren Leonin und Perotin. Und noch Jahrhunderte nach ihnen werden Komponisten nach diesen Kriterien komponieren.

Musik 7: Johannes Ockeghem: „Missa Mi-MI”. Daraus „Sanctus“.

The Clecrks´Group.

Sprecher:

Und dann gibt es noch einen wichtigen Aspekt für das Verständnis der polyphonen Musik von Perotin bis Monteverdi. Der Zusammenhang zwischen Mathematik, Musik und Theologie. Diese Idee führt uns zurück zu den „sieben freien Künsten“ des Mittelalters. In deren Philosophie gehört alles zusammen, die Bewegung der Gestirne, der Klang einer Saite, der menschliche Herzschlag, all das lässt sich in Zahlen ausdrücken. Die wiederum sind Offenbarungen einer göttlichen Harmonie.

Zitator:

Die Musik ist eine Lehre, bzw. eine Wissenschaft, die von den Zahlen handelt, …

Sprecher:

…schreibt Aurelius Cassiodor im sechsten Jahrhundert:

Zitator:

Auch der Himmel und die Erde und alles, was auf göttliche Anordnung hin geschieht, besteht nicht ohne Musik; wie Pythagoras bezeugt, ist diese Welt durch Musik begründet und wird durch Musik gelenkt.

Musik 8: Philippe de Vitry: „Impudenter Circumvivi”. Sprecher darüber! Auf: Sequenzia: “Philippe de Vitry“ deutsche harmonia mundi.

Sprecher:

Von der Mystik zum realen Klang. Musik ist immer ein Fall von Moden, was heute in ist, ist morgen out. Das 13. Jahrhundert. Paris ist das Zentrum der frühen Mehrstimmigkeit. In der Seine-Stadt werden Innovationen entwickelt und allgemein gültige Standards gesetzt. Der erste polyphone Megatrend ist das Organum. Um 1250 wird es von einer Form verdrängt, die für die Mehrstimmigkeit genauso bedeutend sein wird, wie die Sonate für Klassik und Romantik: Die Motette.

Sprecher:

Das Revolutionäre an der mittelalterlichen Motette ist ihr Umgang mit dem Text. Der Begriff Motette selbst ist eine Verkleinerungsform des französischen „mot“, auf deutsch „Wort“, und bedeutet so viel wie „viele kleine Wörtchen“, denn in ihr werden die Stimmen, manchmal jede für sich, neu textiert. Diese Neu-Dichtung kann sowohl kirchlich als auch weltlich sein.

(Musik 9: privat: Anonymus: „Je ne chant pas“. Auf: Gothic Voices: „The Marriage of Heaven and Hell”. )

Sprecher:

„Je ne chant pas“ ist diese Motette eines unbekannten Meisters des 13. Jahrhunderts überschrieben.

Zitator:

Ich singe nicht aus Heiterkeit oder Fröhlichkeit, denn die Liebe hat mich so lange leiden lassen. Ich werde mich nie von diesem Leiden geheilt sehen. Denn niemand außer ihr kann mich wieder gesund machen.

Sprecher:

Dem allegorischen Liebesleid steht in einer anderen Gesangsstimme Liebeslust gegenüber:

Zitator:

Ich möchte ihr zuliebe singen, die ich so lange geliebt habe. Gott! Ich fand so viel Vergnügen daran, sie anzuschauen, ihren schönen Körper und ihr rosiges Gesicht.

(Musik kurz hoch!)

Sprecher:

Motetten wie diese gelten als elitär und sublim.

Zitator:

Diese Art von Musik sollte nicht vor der breiten Bevölkerung aufgeführt werden, denn diese versteht weder ihre Subtilität, noch hat sie Freude daran, sie zu hören, …

Sprecher:

…warnt ein Traktat des Jahres 1300. Das heißt auch, mit der Motette verlässt die musikalische Hochkultur die Kathedrale und erschließt sich ein höfisches Umfeld.

(Musik hoch mit Schluss.)

Sprecher:

Im Jahr 1322 sorgt eine Abhandlung für Aufsehen, die einer ganzen musikgeschichtlichen Epoche den Namen gibt. „Ars Nova“. Verfasser ist Philippe de Vitry, ein ehemaliger Student der Pariser Sorbonne, der seine Kirchenkarriere als Bischof von Meaux beenden wird.

Zitator:

Wisse, dass Musik die Wissenschaft vom richtigen Singen ist, …

Sprecher:

…steht in der Einleitung eines Traktates, in dem sich Philippe de Vitry mit einem essenziellen Problem der polyphonen Musik seiner Zeit auseinandersetzt. In der damals gebräuchlichen Notation lassen sich schwierige rhythmische Verhältnisse nicht darstellen. Eine Lösung dieses Dilemmas wäre ein einfaches Hilfsmittel, der Taktstrich. Doch auf diese naheliegende Idee kommen selbst die klügsten Musiktheoretiker über Jahrhunderte nicht. Stattdessen erfindet de Vitry Sonderzeichen und komplexe Regeln für Rhythmusmodelle.

(Musik 10: / privat: Philippe de Vitry, Cum statua. Motette zu 3 Stimmen, BLUE, Music of the Gothic Era (CD 2); ZEIT: 01:20

Sprecher:

Diese Innovationen erschweren das Verständnis eines Notentextes ungemein - Notationskunde ist heute ein Fach der Musikwissenschaft - andererseits öffnen sie den Komponisten das Fenster zu bis dahin nicht realisierbaren Gestaltungsmöglichkeiten. „Ars Nova“ bedeutet deshalb, eine „neue Kunst“ als Avantgarde, die sich bewusst gegen die „alte Kunst“ „Ars antiqua“ abgrenzt.

(Musik hoch)

Sprecher:

Philippe de Vitry, der Vordenker der „Ars Nova“, ist einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit, der musikalische Superstar des 14. Jahrhunderts ist jedoch ein anderer: Der Kleriker, Höfling, Komponist und Dichter Guillaume de Machaut. Das Allround-Genie, das viele seiner Texte vertonte, soll sogar von Groupies umschwärmt worden sein. So raunt ein weit verbreitetes Gerücht, der alte Machaut sei den Verführungskünsten eines 17-jährigen Mädchens aus dem Hochadel erlegen, das an seinem Ruhm teilhaben wollte. Das Ergebnis der „unheiligen“ Liaison ist angeblich einer der ersten Liebesromane der französischen Literatur: „Le Livre du voir dit - Das Buch von der wahren Dichtung“. In einer pikanten Szene überreicht die blutjunge Protagonistin ihrem Geliebten, einem nicht mehr ganz taufrischen Poeten, den goldenen Schlüssel zu ihrem Keuschheitsgürtel, der Clavette.

Zitator:

Und die Musik ist eine Wissenschaft, sie will, dass man lacht, singt oder tanzt,…

Sprecher:

…heißt es im Prolog eines Machaut-Manuskripts.

Musik 11: Guillaume de Machaut: „Ma fin est mon commencement“. Sprecher beginnt bereits unter Text! Hillard Ensemble.

Sprecher:

Superstar Machaut, der Erfolg verhilft dem Kanonikus der Kathedrale von Reims zu einem außergewöhnlichen Künstlerleben. Machaut kann sich seine Mäzene aussuchen. Er schließt sich dem Hofstaat des Herzogs Johann von Luxemburg an, den er auf dessen Reisen und Kriegszügen begleitet. Vermutlich ist Machaut sogar vor Ort, als Johann in der Schlacht von Crécy, dem Ausgangspunkt des 100-jährigen Krieges zwischen Frankreich und England fällt.

MUSIK ENDE

(Musik 12: Guillaume de Machaut: „Missa de Notre Dame“, Daraus: „Agnus Dei“. Sprecher nach kurzer Zäsur darüber. Hillard Ensemble.

Sprecher:

Neben seinem so facettenreichen wie raffinierten weltlichen Oeuvre hat Guillaume de Machaut auch als Kirchenkomponist ein musikhistorisches Ausrufezeichen gesetzt. Um 1360 verfasst er die „Messe de Notre Dame“. Es ist die älteste uns bekannte Vertonung des liturgischen Mess-Textes eines einzelnen Komponisten.

(Musik hoch!)

Sprecher:

Komponisten wie Machaut oder Perotin verbindet eines: Die Art und Weise, wie sie komponieren. Sie denken nicht, wie wir heute, in vertikalen Akkorden, sondern horizontal. Das heißt, die Meister der Polyphonie schichten Linie über Linie. Grundlage ihrer Werke ist der so genannte Cantus, eine vorgegebene Melodie. Diese Melodien, es sind meist bereits gebräuchliche liturgische Gesänge, werden zunächst nicht im Original übernommen. Die Notre-Dame-Schule verwendet nur kleine Abschnitte, deren Notenwerte zu schier endlos ausgehaltenen Tönen gestreckt werden. Über diesen Slow-Motion-Cantus wird eine zweite, wesentlich bewegtere Stimme gelegt, der Discantus, danach noch eine dritte Stimme, usw. Die kreative Gestaltung dieser Stimmen ist der eigentliche Kompositionsprozess.

(Musik 13: Josquin Desprez: „Missa l´homme armé“. Daraus „Kyrie“. / CD33925; ZEIT: 01:20)

Sprecher:

Im Laufe der Jahrhunderte verändert sich jedoch der Cantus, bzw. Cantus firmus. Wie hier in der „Missa l´homme armé“ von Josquin Desprez. Die Melodie, die diesem Kyrie zugrunde liegt, ist das Lied vom „bewaffneten Mann“, einer der großen weltlichen Hits der Zeit.

(Musik hoch!)

Sprecher:

Wie ist es mit der Geschichte der Vokalpolyphonie weitergegangen? Es gäbe noch viele Kapitel, die wir aufschlagen könnten. Zum Beispiel das des italienischen Trecento mit dem leuchtenden Namen Francesco Landini. Oder das der Franco-flämischen Schule, sie ist das herausragende musikalische Kraftzentrum der Früh-Renaissance. Johannes Ockeghem, Heinrich Isaac oder der große Josquin Desprez sind hier zu nennen. Die polyphonen Klänge der Franco-Flamen strahlen über ganz Europa bis nach Italien. Dort finden wird den Komponisten, der während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Maß aller Dinge wird: Den päpstlichen Kapellmeister Giovanni Pierluigi da Palestrina. Der „Fürst der Musik“ komponiert in politisch schwierigen Zeiten, jenen von Reformation und Gegenreformation. Der Legende nach schreibt Palestrina seine Missa Papae Marcelli, um das Trienter Konzil vom Verbot mehrstimmiger Sakralmusik abzuhalten. Mit Erfolg. Mit Segen der Kurie wird der so genannte Palestrina-Stil sogar zum verbindlichen Modell für alle Kirchenkompositionen.

Musik 14: Palestrina: “Missa Papae Marcelli”. Daraus “Credo”.

Sprecher:

Am Ende unserer Zeit-Reise durch 400 Jahre Polyphonie steht eine Frage: Wie „vokal“ war die frühe Mehrstimmigkeit? Die Musikwissenschaft war lange vom „Ideal des reinen A-capella-Klangs“ überzeugt. Seit einiger Zeit melden sich immer mehr Zweifler zu Wort: Zwar ist die Mehrstimmigkeit des Mittelalters gesungene Musik. Aber was ist mit Instrumenten? Auch die gibt es. In „La Remède de fortune“ zählt Guillaume de Machaut dutzende auf:

Zitator:

Ich sah sie alle in einem Kreis, die Harfe, Hörner, Sackpfeifen, die Rebeque, Monochorde, Businen, Cymbeln, Violen, Flöten, Pfeifen…

Sprecher:

Kamen diese Instrumente in einem gesungenen Machaut-Stück zum Einsatz? Haben sie die Gesangsstimmen gedoppelt und wenn ja, welche? Wurden Gesangsstimmen vielleicht sogar von Instrumenten ersetzt? Die uns erhaltenen Manuskripte bieten keinerlei Hinweis. Die Aufführungspraxis Alter Musik ist ein spekulatives Abenteuer, bei dem es keine eindeutige Lösung gibt.


  continue reading

4203 Episoden

Alle Folgen

×
 
Loading …

Willkommen auf Player FM!

Player FM scannt gerade das Web nach Podcasts mit hoher Qualität, die du genießen kannst. Es ist die beste Podcast-App und funktioniert auf Android, iPhone und im Web. Melde dich an, um Abos geräteübergreifend zu synchronisieren.

 

Kurzanleitung