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Authentisch leben - Die Kunst man selbst zu sein

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Ständig sind wir heute auf der Suche nach dem Authentischen: Essen, Kultur-Urlaub, Kunst. Und auch wir selbst sollen authentisch sein. Doch wie geht das? Und was, wenn das 'authentische Ich' ein mieser Charakter ist? Autor: Niklas Nau (BR 2018)

Credits
Autor dieser Folge: Niklas Nau
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Wolfgang Pregler, Hemma Michel
Technik: Fabian Zweck
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Monika Betzler (Professorin; Lehrstuhlinhaberin für Praktische Philosophie und Ethik, LMU München);
Stephanie Draschil (Sozialpsychologin)

Linktipp:

Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST

ARD Alpha
Sein Leben ändern: Wie ihr einen Neuanfang wagt und meistert
People Pleaser: Stoppt eure Harmoniesucht

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

COLLAGE VOX-POPS

Authen ... warte ... das ist natürlich jetzt mies, ne ...A uthezizi ... nein ... Authen-tizität. Authentizität. Authetizi ... Autheziti ... Authentizität, Authentizi-tät, Authetizität. Authenzizi- kann ich nicht. Authentizität. Authentizität. Hamma's scho.

ERZÄHLER

A-U-T-H-E-N-T-I-Z-I-T-Ä-T. Den Begriff auszusprechen, ist schon schwer genug. Ihn auch noch wirklich zu leben, wirklich authentisch zu sein … – geht das überhaupt?

MUSIKAKZENT

ERZÄHLERIN

Authentisch sein – das ist heute schwer in Mode. Die Regale der Buchhändler und Lebenshilfeblogs im Internet laufen über mit Titeln wie:

COLLAGE ZITATORIN / ZITATOR

'Authentizität: Die neue Wissenschaft vom geglückten Leben'

ZITATOR

'Sind Sie noch ganz echt?: Mut zur Authentizität'

ZITATORIN

'Sich selbst finden und leben in 7 Schritten'

ZITATOR

'Du willst echt sein? – 3 Tipps für mehr Authentizität'

ZITATORIN

'Einzigartig!: Mit authentischer Positionierung und Branding zum Erfolg'

ZITATOR

'Authentisch, präsent, charismatisch. Nutzen Sie das Potenzial Ihrer Ausstrahlung'

ERZÄHLER

Und nicht nur wir selbst, auch unsere Erfahrungen sollen heute möglichst authentisch sein. Beim Urlaub in Südafrika nur am Strand brutzeln und Löwen vom Safari-Jeep aus beobachten?: „Out“! „In“ ist heute, das „echte“ Südafrika und seine Menschen kennenzulernen: etwa mit einer Tour durch den einstmals als Drogenhöhle berüchtigten Ponte Tower in Johannesburg, inklusive Einblick in die Wohnungen und das „echte Leben“ der Bewohner. Die Tourismusindustrie tut alles dafür, damit sich der Tourist nicht als 'Tourist' fühlen muss.

ERZÄHLERIN

Oder beim Essen: Wenn wir ein unbekanntes kleines chinesisches Restaurant betreten und alle anderen Gäste Chinesen sind, beglückwünschen wir uns wahrscheinlich erst einmal selbst: Wir haben etwas Authentisches entdeckt! Falls es dann doch schlecht schmeckt, war es immerhin authentisch schlecht.

Dass wiederum in der chinesischen Provinz Guangdong vor einigen Jahren das gesamte österreichische Dorf Hallstatt für 940 Millionen Dollar seitenverkehrt nachgebaut wurde, erscheint uns mindestens skurril.

Österreichisches Weltkulturerbe im Reich der Mitte? Unauthentisch! Auf der Startseite von Hallstatts Internetauftritt steht (augenzwinkernd):

ZITATOR (http://www.hallstatt.net/)

Herzlich willkommen in Hallstatt. Millionenfach fotografiert – einmal kopiert – nie erreicht.

ERZÄHLER

Die Liste der Dinge, die bitte möglichst authentisch sein sollen, lässt sich fast beliebig lange weiterführen:

Unser Chef oder unser Führungsstil, unsere Politiker, die Produkte die wir kaufen, die Musik, die wir hören: Der Drang, Authentisches zu erleben und authentisch zu leben, scheint so groß wie vielleicht noch nie:

O-Ton 1 - Stephanie Draschil

Ich habe das Gefühl, dass sich sehr viel vereinheitlicht hat, also sehr viel homogenisiert ist. Wenn Sie in der Welt herumreisen, haben Sie überall Starbucks, Sie haben überall McDonalds, Sie haben überall H&M, die Leute ziehen das Gleiche an, die trinken das gleiche, die beschäftigen sich mit ähnlichen Sachen. Wir sind sehr vernetzt geworden, es hat sich alles sehr homogenisiert. Und ich glaube, da ist ein Bedürfnis da, dass man wieder individueller wird, dass man wirklich auch sich die Frage stellt: Was will ich eigentlich, was ist mir eigentlich wichtig, wie will ich mich auch von anderen Menschen abgrenzen?

ERZÄHLERIN

Sagt die Sozialpsychologin Stephanie Draschil. Doch was genau ist diese Authentizität, nach der wir uns so sehnen? Das Wort „authentisch“ kommt vom griechischen authentikós und heißt so viel wie „echt“, „original“, „verbürgt“, „wahrhaftig“.

ERZÄHLER

Was ein authentisches Dokument ist, etwa ein authentischer Vertrag oder ein authentisches Testament, leuchtet uns sofort ein. Auch bei klassischen Kunstobjekten wie Gemälden ist das Identifizieren von Authentischem noch relativ einfach. Ein authentischer Rembrandt ist eben das Gegenteil von einer Fälschung und das Gegenteil von einer Kopie. Doch was genau meinen wir, wenn wir von „authentischer“ Kultur sprechen? Es ist ein Begriff, der schnell in eine gefährliche Nähe zu den Völkerschauen des Kolonialismus gerät, in denen „Wilde“ wie Zootiere zur Schau gestellt wurden:

Zum Beispiel dann, wenn Touristen enttäuscht sind, dass das exotische Volk, zu dem ein Reiseveranstalter sie führt, nicht in der Zeit festgefroren ist, sondern durchaus eine hohe Smartphone- und Fernseherdichte aufweist. Und wie sollen wir erst über Authentizität entscheiden, wenn es um so etwas Komplexes wie den einzelnen Menschen geht?

MUSIKAKZENT

ERZÄHLERIN

Was macht eine Person authentisch? Monika Betzler ist Professorin für Praktische Philosophie und Ethik an der LMU München. Sie empfiehlt eine Annäherung über den Alltag:

O-Ton 2 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Da kann man sich mal überlegen, was meinen wir alltagssprachlich damit, und noch einfacher, was meinen wir mit dem Gegenteil von Authentizität, was sind denn inauthentische Wesen? Da hat wahrscheinlich jeder eine Vorstellung davon. Das sind Menschen, die irgendwas verbergen beispielsweise, die nicht in der Lage sind zu dem zu stehen oder das zu äußern, was sie wirklich denken und so weiter. Und das Gegenteil wäre dann etwas, was den Begriff der Authentizität charakterisiert. Und vielleicht ist auch die allgemeinste Definition, die, das eine Person authentisch ist in dem Maße, in dem sie zu dem steht, was ihr wichtig ist. Und dann müssen wir uns nähere Gedanken machen was heißt das jetzt genau, was heißt, zu sich stehen, und was heißt, dass einem etwas wichtig ist.

ERZÄHLERIN

Das Ideal der Authentizität ist dabei relativ neu. Zwar stand schon vor etwa 2.500 Jahren am Apollotempel in Delphi die Inschrift „Gnothi seauton“ – „Erkenne dich selbst!“. Und auch der antike Philosoph Sokrates soll die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis immer wieder gelehrt haben.

Und doch verstanden vormoderne Gesellschaften unter diesem „Erkenne dich Selbst!“ wohl etwas ganz anderes, als wir das heute tun. Denn Menschen sahen sich damals in den meisten Gesellschaften als Teil einer größeren, kosmischen Ordnung. Irgendwo zwischen Göttern oder Geistern, Tieren und Pflanzen hatte der Mensch seinen Platz. Sich selbst zu erkennen hieß, seinen Platz – und seine Aufgabe – innerhalb dieser kosmischen Ordnung zu begreifen.

MUSIKAKZENT

ERZÄHLER

Doch dann, im 18. Jahrhundert, ist auf einmal alles anders.

Es ist das Zeitalter der Aufklärung und Säkularisierung, der wissenschaftlichen und industriellen Revolution und tief greifender gesellschaftlicher Veränderungen wie der Französischen Revolution. Mit sich bringen diese Entwicklungen, was der Soziologe Max Weber als „Entzauberung der Welt“ beschrieben hat: die Erkenntnis, dass das Universum rational erklärbar ist, dass es keine verborgenen mythischen Mächte gibt. Das hat weitreichenden Folgen:

O-Ton 3 - Prof. Monika Betzler

Wir sind nicht notwendig Teil des Kosmos oder der Gesellschaft und sind nun in der Lage uns davon zu entfernen und uns nun dazu selbst reflexiv in ein Verhältnis zu bringen. Ja, das sieht man auch an solchen Dingen, wie dass so Begriffe wie Ehre plötzlich weniger eine Rolle spielen, und es gibt auch eine wunderbare Schrift von John Stuart Mill, das ist dann 19. Jahrhundert, über die Freiheit, der einen Lobgesang auf die Individualität singt.

ERZÄHLER

Die alte Idee von der kosmischen Ordnung, in der jeder Mensch einen festen Platz und feste Aufgaben hat, in der gut zu leben bedeutet, seinem gesellschaftlichen Stand und seinen Pflichten gerecht zu werden, ist passé.

In der Moderne ist der Mensch ein freies, vernunftbegabtes Individuum. Doch die geistige und gesellschaftliche Freiheit, die der Mensch sich erkämpft hat, bringt eine große Frage mit sich: Wie soll er diese Freiheit nutzen? Was ist in diesem entzauberten Universum ein gutes, ein sinnvolles Leben?

MUSIKAKZENT

ERZÄHLERIN

Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau gilt als zentrale Figur bei der Schöpfung des modernen Authentizitätsbegriffs.

Denn die Antwort, die er auf die Frage nach dem richtigen Leben hat, ist folgende: Der Schlüssel liegt in uns selbst. Der Mensch, glaubt Rousseau, ist von Natur aus gut und moralisch. Die Gesellschaft ist es, die uns verdirbt, vom rechten Weg abbringt, unmoralisch und unglücklich macht. Den Zauber, der die Welt verlassen hat, finden wir wieder – und zwar in uns selbst. Rousseau schreibt:

ZITATOR Rousseau (public domain, http://gutenberg.spiegel.de/buch/emil-oder-ueber-die-erziehung-erster-band-3811/12)

Bevor die Vorurtheile und die menschlichen Einrichtungen unsere natürlichen Neigungen verderbt haben, besteht das Glück der Kinder eben so wie das der Erwachsenen in dem unbeschränkten Genusse der Freiheit; Wer thut, was er will, ist glücklich, sobald er sich selbst genug ist; das wird stets bei dem Menschen der Fall sein, welcher im Naturzustande lebt.

ERZÄHLERIN

Obwohl Rousseau den Begriff Authentizität selbst nicht verwendet: Indem er der für ihn „künstlichen“ Gesellschaft die Idee des „Edlen Wilden“, der in uns schlummert, gegenüberstellt, gibt er den Startschuss für die Suche nach dem Authentischen. Viele der großen Philosphen der Moderne werden sich an ihr beteiligen:

Hegel, Kierkegaard, Heidegger, Nietzsche, Sartre, Camus, Adorno, Fromm, Foucault, Taylor – ein echtes Who is Who der Philosophie.

MUSIKAKZENT

ERZÄHLER

Doch sehen sie sich dabei mit einem grundliegenden Problem konfrontiert: Authentizität, wie die meisten Philosophen sie von nun an verstehen, ist nichts, das sich anhand objektiver Kriterien beschreiben ließe, sondern zutiefst subjektiv. „Zehn Dinge, die dich zum authentischen Menschen machen?“ – Fehlanzeige! Und so lässt Nietzsche seinen Entwurf eines authentischen „Übermenschen“ – den Einsiedler Zarathustra, der beschließt, seine Weisheit mit den Menschen zu teilen – auch keine allgemeingültigen Regeln für ein authentisches Leben aufstellen, sondern erklären:

ZITATOR Nietzsche (public domain, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3248/66)

»Das – ist nun mein Weg, – wo ist der eure?« so antwortete ich Denen, welche mich »nach dem Wege« fragten. Den Weg nämlich – den giebt es nicht!

ERZÄHLER

Authentizität ist für viele Existenzphilosophen etwas, das jeder nur für sich selbst finden kann. Der dänische Philosoph Soren Kierkegaard identifiziert gerade die leidenschaftslose Rationalität als großes Übel der Moderne, und sieht Authentizität als Heilmittel und Gegenentwurf dazu. Authentizität bedeutet für ihn Pathos, also Leidenschaft, und Authentizität ist für ihn ein Projekt der Subjektivität und der Gefühle, nicht des Verstandes. Deshalb sollen authentische Helden oder Anti-Helden wie Nietzsches Zarathustra im Leser den Wunsch nach Authentizität wecken, Ironie soll das Inauthentische bloßstellen.

ERZÄHLERIN

Dabei sehen viele Philosophen Authentizität bald aber nicht bloß als etwas Statisches, sondern als fortwährendes Projekt: ständiges Ankämpfen gegen das Inauthentische, die ständige Neukreation des authentischen Ichs aus sich selbst heraus, ein ständiger Akt der Selbst-Schöpfung. Nietzsche schreibt:

ZITATOR Nietzsche (http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3245/7)

„Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein!“

ERZÄHLERIN

Natürlich haben die Philosophen in vielen Punkten unterschiedliche Auffassungen zur Authentizität und zum besten Weg, diese zu erreichen. Von einem Verständnis von Authentizität als dem wahren Kern unseres Selbst, der nur freigelegt werden muss, ist etwa bei Nietzsche und Heidegger nicht mehr viel übrig.

Nietzsche betont das spielerische Ausprobieren und fordert vom Menschen, „das zu werden, was man ist“. Authentisch zu werden bedeutet bei ihm also auch, Verantwortung für seine Taten und Charakterzüge zu übernehmen – gute wie schlechte, Stärken wie Schwächen – und sie zu einem kohärenten Bild zu vereinen. In „Die fröhliche Wissenschaft“ verlangt Nietzsche:

ZITATOR Nietzsche (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-frohliche-wissenschaft-3245/7)

Eins ist Noth. – Seinem Charakter "Stil geben" – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt.

ERZÄHLER

Für einen der bekanntesten Existenzphilosophen, Martin Heidegger, ist hingegen das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit zentral bei der Suche nach Authentizität. Denn sie ist es, die einem die Verantwortung für das eigene Leben vor Augen führt und aus den Ablenkungen des Alltäglichen in ein Leben führt, das wir uns zu eigen gemacht haben.

ERZÄHLERIN

Die Konfrontation mit dem unausweichlichen Tod als Augenblick der Wahrheit und Erkenntnis ist ein Mittel, das auch in Literatur und Film immer wieder gerne eingesetzt wird, um die Möglichkeiten von authentischem Leben auszuloten.

Etwa in Leo Tolstois Erzählung vom Sterben des Gerichtsangestellten Iwan Iljitsch. Erst als Iljitsch mit Mitte vierzig überraschend todkrank wird und auf dem Sterbebett liegt, wird ihm klar, dass er sein Leben falsch und unauthentisch gelebt hat. Alle Annehmlichkeiten seines Lebens und seine gesellschaftliche Stellung sind für ihn auf einmal wertlos geworden, mehr noch, das Spielen seiner gesellschaftlichen Rolle hat ihn zu einer leeren Hülle gemacht.

MUSIKAKZENT

ERZÄHLER

Genau in diesem Punkt scheinen sich fast alle Verfechter der Authentizität einig zu sein: Authentisch leben heißt, gesellschaftliche Erwartungen, Rollenbilder und Ideologien kritisch zu hinterfragen und sich – falls nötig – von ihnen zu lösen.

O-Ton 4 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Und da sind wir auch schon bei einem der ersten Probleme. Könnte der Wert der Authentizität in Konflikt geraten mit beispielsweise der Moral? Nämlich dann, wenn man sich ganz aufrichtig zu Werten bekennt, die aber unmoralisch sind!?

ERZÄHLER

In den USA zog mit Donald Trump Anfang 2017 ein Mann ins Weiße Haus ein, der auf einer Tonbandaufnahme damit prahlte, als Star könne er es sich erlauben, Frauen einfach zwischen die Beine zu fassen. Die Reaktionen auf das Öffentlichwerden dieser Aufnahme während des Wahlkampfs waren empört.

Auf seiner Kampagnenseite veröffentlichte Trump daraufhin ein Statement:

ZITATOR Statement D. Trump, Übersetzung Niklas Nau (https://web.archive.org/web/20161007210105/https://www.donaldjtrump.com/press-releases/statement-from-donald-j.-trump)

Das war ein Umkleidekabinengespräch, ein Privatgespräch von vor vielen Jahren. Bill Clinton hat beim Golfen schon deutlich Schlimmeres zu mir gesagt. Es tut mir leid, falls sich jemand davon angegriffen gefühlt hat.

ERZÄHLER

Bei vielen Wählern schien diese Argumentation anzukommen, denn auf lange Sicht konnte der Vorfall Trump nicht schaden. „Locker Room Talk“ – so, wie echte Männer nunmal in der Umkleidekabine über Frauen reden. Authentisch … unmoralisch.

MUSIKAKZENT

ERZÄHLERIN

Das Ideal der Authentizität stellt die Gesellschaft vor ein Problem. Denn an Rousseaus „edlen Wilden“ – daran, dass der Mensch von Natur aus nur gut ist – glaubt heute fast niemand mehr. Verhaltensforschung und Psychologie haben uns klargemacht, dass der Mensch von sich aus zu Grausamkeit und Mordlust genauso fähig ist, wie zu Selbstlosigkeit und Güte. Wie soll die Gesellschaft also umgehen mit einem Ideal, das es Menschen möglich macht, mit dem Verweis auf die Authentizität auch unsere dunkelsten Impulse zu rechtfertigen?

Wie umgehen mit dem authentischen Rassisten, dem authentischen Betrüger, dem authentischen Gewalttäter?

O-Ton 5 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Ich denke, der Begriff der Authentizität und auch der der Autonomie, die haben ein großes Potenzial, die haben einen Wert, aber, und das zeigt sich auch in vielen Kritikern, die sich gegen diese Begriffe richten, mit denen kann man es natürlich auch übertreiben. Ich glaube, dass es ein sehr hohes Gut ist, dass wir sogenannte positive Freiheiten haben. Also sozusagen Dinge verfolgen können, die uns selber am Herzen liegen. Wir leben in einer Welt, in der es viele Länder gibt, die das als keine Errungenschaft sehen. Und ich glaube, das sollten wir schützen. Die Frage ist nur: Wo sind die Grenzen dieses Werts? Also was keiner behauptet: Der liberal ist und jedem möglichst viel Raum zugestehen möchte, sein eigenes Leben zu leben, ist nicht darauf verpflichtet, es dieser Person zuzugestehen es so weit zu treiben, dass sie andere Menschen beschränkt in ihrer Art und Weise gutes Leben zu leben. Da findet sich eine Grenze dieser Autonomie, wenn man so will.

ERZÄHLER

Die Sozialpsychologin Stephanie Draschil hat für ihre Doktorarbeit Menschen zu deren Wahrnehmung von Authentizität befragt und dabei herausgefunden, dass sich viele durchaus bewusst sind, dass Authentizität bei anderen Menschen auch ihre Schattenseiten haben kann:

O-Ton 6 - Stephanie Draschil

Was rausgekommen ist, war, dass dieses Authentische, so wie wir es in unserer individualistischen Kultur definieren, eben dass wir auch unabhängig von anderen sind, dass wir zu eigener Meinung stehen, nicht von Meinung anderer beeinflussen lassen, was wir ja ganz toll finden, was aber in anderen Kulturen gar nicht unter Authentizität fällt, also in kollektivistischen Kulturen, dass das auch dazu führen kann, dass jemand als sehr egoistisch wahrgenommen wird.

(MUSIK als Überleitung)

ERZÄHLERIN

Die Psychologie leistet etwas, was manche philosophische Betrachtungen der Authentizität nicht tun - und auch gar nicht tun wollen.

Sie begründet rational, warum authentisch sein – zumindest so, wie es Menschen im Alltag verstehen – überhaupt wertvoll ist:

O-Ton 7 - Stephanie Draschil

Wir stellen einfach fest: Leute, die sich selbst als authentisch einschätzen, also authentisch heißt in dem Sinne sie stehen zu sich selbst, sie haben das Gefühl, sie stehen zu sich selbst, sie haben das Gefühl, sie sind sich in unterschiedlichen Situationen selbst gegenüber treu, sie sagen was sie denken, sie sind nicht abhängig von der Meinung anderer, sie lassen sich nicht von anderen beeinflussen, dann geben diese Menschen auch an, dass sie eine höhere Lebenszufriedenheit haben, dass sie in ihrer Partnerschaft glücklicher sind, dass sie weniger negative Gedanken haben, mehr positive Gedanken, weniger depressive Symptome ... also, es sind lauter positive Sachen.

ERZÄHLER

Authentizität ist ein Wert, den wir nicht aufgeben wollen. Einige Philosophen werben dafür, Authentizität nicht nur als persönliche, sondern auch als soziale Tugend zu sehen. Für sie stehen Authentizität und Gesellschaft nicht in erster Linie im Konflikt. Ganz im Gegenteil – die beiden brauchen einander. Denn auch falls es tief in uns ein „Ich“ gibt, das nicht sozial konstruiert ist: Um dieses Selbst herauszuschälen, brauchen wir unsere Umwelt – die Gesellschaft. Diese Denker betonen, dass wir erst dadurch, dass wir uns im Dialog mit anderen ständig positionieren müssen, ein „Ich“ herausarbeiten oder kreieren können.

ERZÄHLERIN

Paradoxerweise ist es der gesellschaftliche Druck, sich als einigermaßen beständige Personen mit stabiler Persönlichkeit und Meinung zu präsentieren, der das Authentische Ich, das nicht von blindem Herdentrieb bestimmt ist, erst möglich macht.

„Wir brauchen einander, um überhaupt jemand zu sein“, sagt der Philosoph Bernard Williams.

Gleichzeitig ist gerade die demokratische, freie Gesellschaft, die uns die Suche nach Authentizität überhaupt erst möglich macht, darauf angewiesen, dass Menschen versuchen, Ihre eigenen Werte zu erkennen und zu vertreten – gerade auch dann, wenn sie von der vorherrschenden Meinung abweichen. Ohne Dialog und Diskussion funktioniert Demokratie nicht.

MUSIKAKZENT

ERZÄHLER

Und doch: Die Subjektivität von Werten, die das Ideal der Authentizität mit sich bringt, bedeutet: Der authentische Betrüger, der authentische Schläger werden für die Gesellschaft immer ein Problem bleiben:

O-Ton 8 - Stephanie Draschil

Ich denke, es ist wichtig, dass wir authentisch sind oder dass die Gesellschaft authentisch wird, aber dass eben Authentizität nicht als alleiniges Gut gesehen wird. Wir leben in einer Gesellschaft, und da ist eben auch diese soziale Verträglichkeit, dass wir gut miteinander auskommen auch wichtig. Also, es ist immer diese Frage, wie bringe ich denn meine Authentizität auch rüber!? Muss da wirklich der Choleriker sein, der sagt: ja ich bin halt so und ich kann nicht anders, oder ist da trotzdem irgendwie die Frage danach, wie sind wir eben im Umgang miteinander, gibt's da vielleicht eben dann doch diese gewissen Etiketten. Wo dann aber wieder die Frage ist, ist es dann noch authentisch, wenn man sich stark zurückhalten muss. Also ich denke das ist wirklich eine schwierige Frage und ein ganz großer Balanceakt.

MUSIKAKZENT

ERZÄHLER

Nicht nur darüber, wie weit das authentische Selbst und die Gesellschaft kompatibel sein können, wird weiter diskutiert.

Die postmoderne Philosophie stellt heute infrage, ob es überhaupt so etwas wie ein zusammenhängendes Selbst gibt, das authentisch sein könnte. Und bekommt dabei Unterstützung von den Neurowissenschaften. Genau verstehen Hirnforscher zwar noch nicht, wie aus einer Fülle von Nervenimpulsen so etwas wie das Selbst entstehen kann. Klar scheint jedoch: Dieses Selbst, das uns so beständig und stabil vorkommt, ist nichts, was als eigenständiges Ding existiert, sondern ist eine von unserem Gehirn erzeugte andauernde Illusion.

ERZÄHLERIN

Und hier schließt sich der Kreis: Die Erkenntnis, dass das Selbst eine Illusion ist, wie vielleicht auch der freie Wille, dass das gesamte Universum als Kette von Reaktionen und Zusammenhängen erklärt werden kann, bedeutet nicht, dass wir uns keine Gedanken mehr über unser Leben machen müssen. Genau dies ist der Ausgangsimpuls, der überhaupt erst zum Ideal der Authentizität geführt hat, wie wir es heute kennen: Die Erkenntnis, dass es in einem rein rational erklärbaren Universum keine vorgegebenen Werte und keinen Sinn gibt, sondern dass der Mensch sich diese selbst schaffen muss.

O-Ton 9 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Wie ich mich als Mensch, der sich heute und hier fragt, wie soll ich leben, verstehe, da finde ich nicht unbedingt Antworten bei der Neurowissenschaft. Wenn ich mich frage, wie fühlt sich Liebe an, und liebe ich diesen Mann, als Beispiel, hilft mir auch nicht die Neurowissenschaft, die vielleicht sagt: Liebe, das sind nur irgendwelche chemischen Prozesse im Hirn. Das ist sicherlich wahr, aber das ist nicht etwas, was uns in unserem normativen Verständnis, wer wir sein wollen, wie wir uns verstehen, hilft.

ERZÄHLER

Der Begriff Authentizität bleibt umkämpft und schwierig fassbar. Und doch wird unsere Suche nach Authentizität in absehbarer Zeit nicht aufhören. Denn obwohl wir die Welt und ihre Zusammenhänge immer besser verstehen und kontrollieren können: Einen Sinn geben müssen wir ihr und uns weiterhin selbst. Authentisch sein, das zumindest sagt uns die Philosophie eindeutig, ist dabei eine Lebensaufgabe. Und ob und wann wir wirklich authentisch sind, das können am Ende nur wir selbst entscheiden, oder, wie viele Philosophen es wohl ausdrücken würden: fühlen!

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Autor dieser Folge: Niklas Nau
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Authen ... warte ... das ist natürlich jetzt mies, ne ...A uthezizi ... nein ... Authen-tizität. Authentizität. Authetizi ... Autheziti ... Authentizität, Authentizi-tät, Authetizität. Authenzizi- kann ich nicht. Authentizität. Authentizität. Hamma's scho.

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Authentisch sein – das ist heute schwer in Mode. Die Regale der Buchhändler und Lebenshilfeblogs im Internet laufen über mit Titeln wie:

COLLAGE ZITATORIN / ZITATOR

'Authentizität: Die neue Wissenschaft vom geglückten Leben'

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'Sind Sie noch ganz echt?: Mut zur Authentizität'

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'Sich selbst finden und leben in 7 Schritten'

ZITATOR

'Du willst echt sein? – 3 Tipps für mehr Authentizität'

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'Einzigartig!: Mit authentischer Positionierung und Branding zum Erfolg'

ZITATOR

'Authentisch, präsent, charismatisch. Nutzen Sie das Potenzial Ihrer Ausstrahlung'

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Und nicht nur wir selbst, auch unsere Erfahrungen sollen heute möglichst authentisch sein. Beim Urlaub in Südafrika nur am Strand brutzeln und Löwen vom Safari-Jeep aus beobachten?: „Out“! „In“ ist heute, das „echte“ Südafrika und seine Menschen kennenzulernen: etwa mit einer Tour durch den einstmals als Drogenhöhle berüchtigten Ponte Tower in Johannesburg, inklusive Einblick in die Wohnungen und das „echte Leben“ der Bewohner. Die Tourismusindustrie tut alles dafür, damit sich der Tourist nicht als 'Tourist' fühlen muss.

ERZÄHLERIN

Oder beim Essen: Wenn wir ein unbekanntes kleines chinesisches Restaurant betreten und alle anderen Gäste Chinesen sind, beglückwünschen wir uns wahrscheinlich erst einmal selbst: Wir haben etwas Authentisches entdeckt! Falls es dann doch schlecht schmeckt, war es immerhin authentisch schlecht.

Dass wiederum in der chinesischen Provinz Guangdong vor einigen Jahren das gesamte österreichische Dorf Hallstatt für 940 Millionen Dollar seitenverkehrt nachgebaut wurde, erscheint uns mindestens skurril.

Österreichisches Weltkulturerbe im Reich der Mitte? Unauthentisch! Auf der Startseite von Hallstatts Internetauftritt steht (augenzwinkernd):

ZITATOR (http://www.hallstatt.net/)

Herzlich willkommen in Hallstatt. Millionenfach fotografiert – einmal kopiert – nie erreicht.

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Die Liste der Dinge, die bitte möglichst authentisch sein sollen, lässt sich fast beliebig lange weiterführen:

Unser Chef oder unser Führungsstil, unsere Politiker, die Produkte die wir kaufen, die Musik, die wir hören: Der Drang, Authentisches zu erleben und authentisch zu leben, scheint so groß wie vielleicht noch nie:

O-Ton 1 - Stephanie Draschil

Ich habe das Gefühl, dass sich sehr viel vereinheitlicht hat, also sehr viel homogenisiert ist. Wenn Sie in der Welt herumreisen, haben Sie überall Starbucks, Sie haben überall McDonalds, Sie haben überall H&M, die Leute ziehen das Gleiche an, die trinken das gleiche, die beschäftigen sich mit ähnlichen Sachen. Wir sind sehr vernetzt geworden, es hat sich alles sehr homogenisiert. Und ich glaube, da ist ein Bedürfnis da, dass man wieder individueller wird, dass man wirklich auch sich die Frage stellt: Was will ich eigentlich, was ist mir eigentlich wichtig, wie will ich mich auch von anderen Menschen abgrenzen?

ERZÄHLERIN

Sagt die Sozialpsychologin Stephanie Draschil. Doch was genau ist diese Authentizität, nach der wir uns so sehnen? Das Wort „authentisch“ kommt vom griechischen authentikós und heißt so viel wie „echt“, „original“, „verbürgt“, „wahrhaftig“.

ERZÄHLER

Was ein authentisches Dokument ist, etwa ein authentischer Vertrag oder ein authentisches Testament, leuchtet uns sofort ein. Auch bei klassischen Kunstobjekten wie Gemälden ist das Identifizieren von Authentischem noch relativ einfach. Ein authentischer Rembrandt ist eben das Gegenteil von einer Fälschung und das Gegenteil von einer Kopie. Doch was genau meinen wir, wenn wir von „authentischer“ Kultur sprechen? Es ist ein Begriff, der schnell in eine gefährliche Nähe zu den Völkerschauen des Kolonialismus gerät, in denen „Wilde“ wie Zootiere zur Schau gestellt wurden:

Zum Beispiel dann, wenn Touristen enttäuscht sind, dass das exotische Volk, zu dem ein Reiseveranstalter sie führt, nicht in der Zeit festgefroren ist, sondern durchaus eine hohe Smartphone- und Fernseherdichte aufweist. Und wie sollen wir erst über Authentizität entscheiden, wenn es um so etwas Komplexes wie den einzelnen Menschen geht?

MUSIKAKZENT

ERZÄHLERIN

Was macht eine Person authentisch? Monika Betzler ist Professorin für Praktische Philosophie und Ethik an der LMU München. Sie empfiehlt eine Annäherung über den Alltag:

O-Ton 2 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Da kann man sich mal überlegen, was meinen wir alltagssprachlich damit, und noch einfacher, was meinen wir mit dem Gegenteil von Authentizität, was sind denn inauthentische Wesen? Da hat wahrscheinlich jeder eine Vorstellung davon. Das sind Menschen, die irgendwas verbergen beispielsweise, die nicht in der Lage sind zu dem zu stehen oder das zu äußern, was sie wirklich denken und so weiter. Und das Gegenteil wäre dann etwas, was den Begriff der Authentizität charakterisiert. Und vielleicht ist auch die allgemeinste Definition, die, das eine Person authentisch ist in dem Maße, in dem sie zu dem steht, was ihr wichtig ist. Und dann müssen wir uns nähere Gedanken machen was heißt das jetzt genau, was heißt, zu sich stehen, und was heißt, dass einem etwas wichtig ist.

ERZÄHLERIN

Das Ideal der Authentizität ist dabei relativ neu. Zwar stand schon vor etwa 2.500 Jahren am Apollotempel in Delphi die Inschrift „Gnothi seauton“ – „Erkenne dich selbst!“. Und auch der antike Philosoph Sokrates soll die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis immer wieder gelehrt haben.

Und doch verstanden vormoderne Gesellschaften unter diesem „Erkenne dich Selbst!“ wohl etwas ganz anderes, als wir das heute tun. Denn Menschen sahen sich damals in den meisten Gesellschaften als Teil einer größeren, kosmischen Ordnung. Irgendwo zwischen Göttern oder Geistern, Tieren und Pflanzen hatte der Mensch seinen Platz. Sich selbst zu erkennen hieß, seinen Platz – und seine Aufgabe – innerhalb dieser kosmischen Ordnung zu begreifen.

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Doch dann, im 18. Jahrhundert, ist auf einmal alles anders.

Es ist das Zeitalter der Aufklärung und Säkularisierung, der wissenschaftlichen und industriellen Revolution und tief greifender gesellschaftlicher Veränderungen wie der Französischen Revolution. Mit sich bringen diese Entwicklungen, was der Soziologe Max Weber als „Entzauberung der Welt“ beschrieben hat: die Erkenntnis, dass das Universum rational erklärbar ist, dass es keine verborgenen mythischen Mächte gibt. Das hat weitreichenden Folgen:

O-Ton 3 - Prof. Monika Betzler

Wir sind nicht notwendig Teil des Kosmos oder der Gesellschaft und sind nun in der Lage uns davon zu entfernen und uns nun dazu selbst reflexiv in ein Verhältnis zu bringen. Ja, das sieht man auch an solchen Dingen, wie dass so Begriffe wie Ehre plötzlich weniger eine Rolle spielen, und es gibt auch eine wunderbare Schrift von John Stuart Mill, das ist dann 19. Jahrhundert, über die Freiheit, der einen Lobgesang auf die Individualität singt.

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Die alte Idee von der kosmischen Ordnung, in der jeder Mensch einen festen Platz und feste Aufgaben hat, in der gut zu leben bedeutet, seinem gesellschaftlichen Stand und seinen Pflichten gerecht zu werden, ist passé.

In der Moderne ist der Mensch ein freies, vernunftbegabtes Individuum. Doch die geistige und gesellschaftliche Freiheit, die der Mensch sich erkämpft hat, bringt eine große Frage mit sich: Wie soll er diese Freiheit nutzen? Was ist in diesem entzauberten Universum ein gutes, ein sinnvolles Leben?

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Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau gilt als zentrale Figur bei der Schöpfung des modernen Authentizitätsbegriffs.

Denn die Antwort, die er auf die Frage nach dem richtigen Leben hat, ist folgende: Der Schlüssel liegt in uns selbst. Der Mensch, glaubt Rousseau, ist von Natur aus gut und moralisch. Die Gesellschaft ist es, die uns verdirbt, vom rechten Weg abbringt, unmoralisch und unglücklich macht. Den Zauber, der die Welt verlassen hat, finden wir wieder – und zwar in uns selbst. Rousseau schreibt:

ZITATOR Rousseau (public domain, http://gutenberg.spiegel.de/buch/emil-oder-ueber-die-erziehung-erster-band-3811/12)

Bevor die Vorurtheile und die menschlichen Einrichtungen unsere natürlichen Neigungen verderbt haben, besteht das Glück der Kinder eben so wie das der Erwachsenen in dem unbeschränkten Genusse der Freiheit; Wer thut, was er will, ist glücklich, sobald er sich selbst genug ist; das wird stets bei dem Menschen der Fall sein, welcher im Naturzustande lebt.

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Obwohl Rousseau den Begriff Authentizität selbst nicht verwendet: Indem er der für ihn „künstlichen“ Gesellschaft die Idee des „Edlen Wilden“, der in uns schlummert, gegenüberstellt, gibt er den Startschuss für die Suche nach dem Authentischen. Viele der großen Philosphen der Moderne werden sich an ihr beteiligen:

Hegel, Kierkegaard, Heidegger, Nietzsche, Sartre, Camus, Adorno, Fromm, Foucault, Taylor – ein echtes Who is Who der Philosophie.

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Doch sehen sie sich dabei mit einem grundliegenden Problem konfrontiert: Authentizität, wie die meisten Philosophen sie von nun an verstehen, ist nichts, das sich anhand objektiver Kriterien beschreiben ließe, sondern zutiefst subjektiv. „Zehn Dinge, die dich zum authentischen Menschen machen?“ – Fehlanzeige! Und so lässt Nietzsche seinen Entwurf eines authentischen „Übermenschen“ – den Einsiedler Zarathustra, der beschließt, seine Weisheit mit den Menschen zu teilen – auch keine allgemeingültigen Regeln für ein authentisches Leben aufstellen, sondern erklären:

ZITATOR Nietzsche (public domain, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3248/66)

»Das – ist nun mein Weg, – wo ist der eure?« so antwortete ich Denen, welche mich »nach dem Wege« fragten. Den Weg nämlich – den giebt es nicht!

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Authentizität ist für viele Existenzphilosophen etwas, das jeder nur für sich selbst finden kann. Der dänische Philosoph Soren Kierkegaard identifiziert gerade die leidenschaftslose Rationalität als großes Übel der Moderne, und sieht Authentizität als Heilmittel und Gegenentwurf dazu. Authentizität bedeutet für ihn Pathos, also Leidenschaft, und Authentizität ist für ihn ein Projekt der Subjektivität und der Gefühle, nicht des Verstandes. Deshalb sollen authentische Helden oder Anti-Helden wie Nietzsches Zarathustra im Leser den Wunsch nach Authentizität wecken, Ironie soll das Inauthentische bloßstellen.

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Dabei sehen viele Philosophen Authentizität bald aber nicht bloß als etwas Statisches, sondern als fortwährendes Projekt: ständiges Ankämpfen gegen das Inauthentische, die ständige Neukreation des authentischen Ichs aus sich selbst heraus, ein ständiger Akt der Selbst-Schöpfung. Nietzsche schreibt:

ZITATOR Nietzsche (http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3245/7)

„Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein!“

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Natürlich haben die Philosophen in vielen Punkten unterschiedliche Auffassungen zur Authentizität und zum besten Weg, diese zu erreichen. Von einem Verständnis von Authentizität als dem wahren Kern unseres Selbst, der nur freigelegt werden muss, ist etwa bei Nietzsche und Heidegger nicht mehr viel übrig.

Nietzsche betont das spielerische Ausprobieren und fordert vom Menschen, „das zu werden, was man ist“. Authentisch zu werden bedeutet bei ihm also auch, Verantwortung für seine Taten und Charakterzüge zu übernehmen – gute wie schlechte, Stärken wie Schwächen – und sie zu einem kohärenten Bild zu vereinen. In „Die fröhliche Wissenschaft“ verlangt Nietzsche:

ZITATOR Nietzsche (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-frohliche-wissenschaft-3245/7)

Eins ist Noth. – Seinem Charakter "Stil geben" – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt.

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Für einen der bekanntesten Existenzphilosophen, Martin Heidegger, ist hingegen das Bewusstsein um die eigene Sterblichkeit zentral bei der Suche nach Authentizität. Denn sie ist es, die einem die Verantwortung für das eigene Leben vor Augen führt und aus den Ablenkungen des Alltäglichen in ein Leben führt, das wir uns zu eigen gemacht haben.

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Die Konfrontation mit dem unausweichlichen Tod als Augenblick der Wahrheit und Erkenntnis ist ein Mittel, das auch in Literatur und Film immer wieder gerne eingesetzt wird, um die Möglichkeiten von authentischem Leben auszuloten.

Etwa in Leo Tolstois Erzählung vom Sterben des Gerichtsangestellten Iwan Iljitsch. Erst als Iljitsch mit Mitte vierzig überraschend todkrank wird und auf dem Sterbebett liegt, wird ihm klar, dass er sein Leben falsch und unauthentisch gelebt hat. Alle Annehmlichkeiten seines Lebens und seine gesellschaftliche Stellung sind für ihn auf einmal wertlos geworden, mehr noch, das Spielen seiner gesellschaftlichen Rolle hat ihn zu einer leeren Hülle gemacht.

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Genau in diesem Punkt scheinen sich fast alle Verfechter der Authentizität einig zu sein: Authentisch leben heißt, gesellschaftliche Erwartungen, Rollenbilder und Ideologien kritisch zu hinterfragen und sich – falls nötig – von ihnen zu lösen.

O-Ton 4 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Und da sind wir auch schon bei einem der ersten Probleme. Könnte der Wert der Authentizität in Konflikt geraten mit beispielsweise der Moral? Nämlich dann, wenn man sich ganz aufrichtig zu Werten bekennt, die aber unmoralisch sind!?

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In den USA zog mit Donald Trump Anfang 2017 ein Mann ins Weiße Haus ein, der auf einer Tonbandaufnahme damit prahlte, als Star könne er es sich erlauben, Frauen einfach zwischen die Beine zu fassen. Die Reaktionen auf das Öffentlichwerden dieser Aufnahme während des Wahlkampfs waren empört.

Auf seiner Kampagnenseite veröffentlichte Trump daraufhin ein Statement:

ZITATOR Statement D. Trump, Übersetzung Niklas Nau (https://web.archive.org/web/20161007210105/https://www.donaldjtrump.com/press-releases/statement-from-donald-j.-trump)

Das war ein Umkleidekabinengespräch, ein Privatgespräch von vor vielen Jahren. Bill Clinton hat beim Golfen schon deutlich Schlimmeres zu mir gesagt. Es tut mir leid, falls sich jemand davon angegriffen gefühlt hat.

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Bei vielen Wählern schien diese Argumentation anzukommen, denn auf lange Sicht konnte der Vorfall Trump nicht schaden. „Locker Room Talk“ – so, wie echte Männer nunmal in der Umkleidekabine über Frauen reden. Authentisch … unmoralisch.

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Das Ideal der Authentizität stellt die Gesellschaft vor ein Problem. Denn an Rousseaus „edlen Wilden“ – daran, dass der Mensch von Natur aus nur gut ist – glaubt heute fast niemand mehr. Verhaltensforschung und Psychologie haben uns klargemacht, dass der Mensch von sich aus zu Grausamkeit und Mordlust genauso fähig ist, wie zu Selbstlosigkeit und Güte. Wie soll die Gesellschaft also umgehen mit einem Ideal, das es Menschen möglich macht, mit dem Verweis auf die Authentizität auch unsere dunkelsten Impulse zu rechtfertigen?

Wie umgehen mit dem authentischen Rassisten, dem authentischen Betrüger, dem authentischen Gewalttäter?

O-Ton 5 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Ich denke, der Begriff der Authentizität und auch der der Autonomie, die haben ein großes Potenzial, die haben einen Wert, aber, und das zeigt sich auch in vielen Kritikern, die sich gegen diese Begriffe richten, mit denen kann man es natürlich auch übertreiben. Ich glaube, dass es ein sehr hohes Gut ist, dass wir sogenannte positive Freiheiten haben. Also sozusagen Dinge verfolgen können, die uns selber am Herzen liegen. Wir leben in einer Welt, in der es viele Länder gibt, die das als keine Errungenschaft sehen. Und ich glaube, das sollten wir schützen. Die Frage ist nur: Wo sind die Grenzen dieses Werts? Also was keiner behauptet: Der liberal ist und jedem möglichst viel Raum zugestehen möchte, sein eigenes Leben zu leben, ist nicht darauf verpflichtet, es dieser Person zuzugestehen es so weit zu treiben, dass sie andere Menschen beschränkt in ihrer Art und Weise gutes Leben zu leben. Da findet sich eine Grenze dieser Autonomie, wenn man so will.

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Die Sozialpsychologin Stephanie Draschil hat für ihre Doktorarbeit Menschen zu deren Wahrnehmung von Authentizität befragt und dabei herausgefunden, dass sich viele durchaus bewusst sind, dass Authentizität bei anderen Menschen auch ihre Schattenseiten haben kann:

O-Ton 6 - Stephanie Draschil

Was rausgekommen ist, war, dass dieses Authentische, so wie wir es in unserer individualistischen Kultur definieren, eben dass wir auch unabhängig von anderen sind, dass wir zu eigener Meinung stehen, nicht von Meinung anderer beeinflussen lassen, was wir ja ganz toll finden, was aber in anderen Kulturen gar nicht unter Authentizität fällt, also in kollektivistischen Kulturen, dass das auch dazu führen kann, dass jemand als sehr egoistisch wahrgenommen wird.

(MUSIK als Überleitung)

ERZÄHLERIN

Die Psychologie leistet etwas, was manche philosophische Betrachtungen der Authentizität nicht tun - und auch gar nicht tun wollen.

Sie begründet rational, warum authentisch sein – zumindest so, wie es Menschen im Alltag verstehen – überhaupt wertvoll ist:

O-Ton 7 - Stephanie Draschil

Wir stellen einfach fest: Leute, die sich selbst als authentisch einschätzen, also authentisch heißt in dem Sinne sie stehen zu sich selbst, sie haben das Gefühl, sie stehen zu sich selbst, sie haben das Gefühl, sie sind sich in unterschiedlichen Situationen selbst gegenüber treu, sie sagen was sie denken, sie sind nicht abhängig von der Meinung anderer, sie lassen sich nicht von anderen beeinflussen, dann geben diese Menschen auch an, dass sie eine höhere Lebenszufriedenheit haben, dass sie in ihrer Partnerschaft glücklicher sind, dass sie weniger negative Gedanken haben, mehr positive Gedanken, weniger depressive Symptome ... also, es sind lauter positive Sachen.

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Authentizität ist ein Wert, den wir nicht aufgeben wollen. Einige Philosophen werben dafür, Authentizität nicht nur als persönliche, sondern auch als soziale Tugend zu sehen. Für sie stehen Authentizität und Gesellschaft nicht in erster Linie im Konflikt. Ganz im Gegenteil – die beiden brauchen einander. Denn auch falls es tief in uns ein „Ich“ gibt, das nicht sozial konstruiert ist: Um dieses Selbst herauszuschälen, brauchen wir unsere Umwelt – die Gesellschaft. Diese Denker betonen, dass wir erst dadurch, dass wir uns im Dialog mit anderen ständig positionieren müssen, ein „Ich“ herausarbeiten oder kreieren können.

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Paradoxerweise ist es der gesellschaftliche Druck, sich als einigermaßen beständige Personen mit stabiler Persönlichkeit und Meinung zu präsentieren, der das Authentische Ich, das nicht von blindem Herdentrieb bestimmt ist, erst möglich macht.

„Wir brauchen einander, um überhaupt jemand zu sein“, sagt der Philosoph Bernard Williams.

Gleichzeitig ist gerade die demokratische, freie Gesellschaft, die uns die Suche nach Authentizität überhaupt erst möglich macht, darauf angewiesen, dass Menschen versuchen, Ihre eigenen Werte zu erkennen und zu vertreten – gerade auch dann, wenn sie von der vorherrschenden Meinung abweichen. Ohne Dialog und Diskussion funktioniert Demokratie nicht.

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Und doch: Die Subjektivität von Werten, die das Ideal der Authentizität mit sich bringt, bedeutet: Der authentische Betrüger, der authentische Schläger werden für die Gesellschaft immer ein Problem bleiben:

O-Ton 8 - Stephanie Draschil

Ich denke, es ist wichtig, dass wir authentisch sind oder dass die Gesellschaft authentisch wird, aber dass eben Authentizität nicht als alleiniges Gut gesehen wird. Wir leben in einer Gesellschaft, und da ist eben auch diese soziale Verträglichkeit, dass wir gut miteinander auskommen auch wichtig. Also, es ist immer diese Frage, wie bringe ich denn meine Authentizität auch rüber!? Muss da wirklich der Choleriker sein, der sagt: ja ich bin halt so und ich kann nicht anders, oder ist da trotzdem irgendwie die Frage danach, wie sind wir eben im Umgang miteinander, gibt's da vielleicht eben dann doch diese gewissen Etiketten. Wo dann aber wieder die Frage ist, ist es dann noch authentisch, wenn man sich stark zurückhalten muss. Also ich denke das ist wirklich eine schwierige Frage und ein ganz großer Balanceakt.

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Nicht nur darüber, wie weit das authentische Selbst und die Gesellschaft kompatibel sein können, wird weiter diskutiert.

Die postmoderne Philosophie stellt heute infrage, ob es überhaupt so etwas wie ein zusammenhängendes Selbst gibt, das authentisch sein könnte. Und bekommt dabei Unterstützung von den Neurowissenschaften. Genau verstehen Hirnforscher zwar noch nicht, wie aus einer Fülle von Nervenimpulsen so etwas wie das Selbst entstehen kann. Klar scheint jedoch: Dieses Selbst, das uns so beständig und stabil vorkommt, ist nichts, was als eigenständiges Ding existiert, sondern ist eine von unserem Gehirn erzeugte andauernde Illusion.

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Und hier schließt sich der Kreis: Die Erkenntnis, dass das Selbst eine Illusion ist, wie vielleicht auch der freie Wille, dass das gesamte Universum als Kette von Reaktionen und Zusammenhängen erklärt werden kann, bedeutet nicht, dass wir uns keine Gedanken mehr über unser Leben machen müssen. Genau dies ist der Ausgangsimpuls, der überhaupt erst zum Ideal der Authentizität geführt hat, wie wir es heute kennen: Die Erkenntnis, dass es in einem rein rational erklärbaren Universum keine vorgegebenen Werte und keinen Sinn gibt, sondern dass der Mensch sich diese selbst schaffen muss.

O-Ton 9 - Prof. Monika Betzler, LMU München

Wie ich mich als Mensch, der sich heute und hier fragt, wie soll ich leben, verstehe, da finde ich nicht unbedingt Antworten bei der Neurowissenschaft. Wenn ich mich frage, wie fühlt sich Liebe an, und liebe ich diesen Mann, als Beispiel, hilft mir auch nicht die Neurowissenschaft, die vielleicht sagt: Liebe, das sind nur irgendwelche chemischen Prozesse im Hirn. Das ist sicherlich wahr, aber das ist nicht etwas, was uns in unserem normativen Verständnis, wer wir sein wollen, wie wir uns verstehen, hilft.

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Der Begriff Authentizität bleibt umkämpft und schwierig fassbar. Und doch wird unsere Suche nach Authentizität in absehbarer Zeit nicht aufhören. Denn obwohl wir die Welt und ihre Zusammenhänge immer besser verstehen und kontrollieren können: Einen Sinn geben müssen wir ihr und uns weiterhin selbst. Authentisch sein, das zumindest sagt uns die Philosophie eindeutig, ist dabei eine Lebensaufgabe. Und ob und wann wir wirklich authentisch sind, das können am Ende nur wir selbst entscheiden, oder, wie viele Philosophen es wohl ausdrücken würden: fühlen!

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