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AD(H)S bei Frauen – Unerkannt, weil unbekannt

21:11
 
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Ob Eckart von Hirschhausen oder Justin Bieber: Gefühlt haben immer mehr erwachsene Menschen eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Dabei werden Frauen allerdings häufig übersehen, seltener und meist später diagnostiziert als Männer. Und bei Frauen wird AD(H)S auch gern mit Depressionen verwechselt. Von Victoria Marciniak

Credits
Autorin dieser Folge: Victoria Marciniak
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprach: Victoria Marciniak
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie
Lisa Tihanyi, Selbstständige mit AD(H)S
Nina Haffer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Gesundheitsforschung in der Charité

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
ARD alpha
ADHS bei Erwachsenen - Warum die Diagnose häufiger wird
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Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

O-Ton 01 Lisa (01:25)

[00:07:17]Also ich gehe zum Beispiel in den Keller, ich will den Staubsauger holen, dann sehe ich da die Weihnachtsdeko und denke oh Moment, Weihnachtsdeko. Der Weihnachtsstern vom letzten Jahr hängt noch. Auf dem Weg zu dem Weihnachtsstern komme ich dann wieder an der Kaffeemaschine vorbei und denke uhh Kaffee wäre jetzt schön. Und dann sagt die Kaffeemaschine an, der Kaffeesatz muss geleert werden. Damit gehe ich an die Biotonne. Dann entdecke ich Oh Moment, da wuchert irgendwie Efeu neben der Tonne, aber weiß jetzt auch nicht, wo meine Gartenschere ist. Vielleicht habe ich eine, vielleicht auch nicht, aber habe jetzt auch keine Lust nachzugucken. Fahr dann in den Baumarkt und dann sehe ich da eine schöne Wandfarbe und denke mir im Moment den Schrank wollte ich doch schon lange mal streichen. Dann stehe ich wahrscheinlich im Baumarkt am Handy und recherchiere, welche Wandfarbe gut passen könnte auf Pinterest und vielleicht kauf ich irgendeine Farbe. Möglicherweise habe ich so eine Farbe sogar schon zu Hause, aber habe nicht nachgeschaut, ob ich eine habe. Irgendeine Farbe werde ich mitnehmen, aber dabei bestimmt vergessen, dass ich eigentlich noch eine Farbrolle bräuchte und ein Pinsel und auch keine Farbwanne habe. Aber die Farbe habe ich und die steht dann wahrscheinlich auch wieder ein halbes Jahr rum, bis ich irgendwann an dieser Farbe vorbeilaufe und denke: Jetzt ist der Moment. Aber staubgesaugt habe ich immer noch nicht.

***akustischer Trenner***

Podcast-Ansage

Lisa Tihany will eigentlich nur Staubsaugen – und muss aufpassen, dass sie nicht gleich ihre Wohnung renoviert. Und: Lisa denkt vor Allem assoziativ, sie kommt sehr oft zu spät zu Verabredungen, sie kann sich stundenlang auf eine Aufgabe fokussieren und dabei das Essen und Trinken vergessen.

Lisa hat ADS bzw. ADHS. Frauen wie sie fallen häufig nicht so schnell als ADSlerin auf, sie bekommen ihre Diagnose meist später als Männer. Oft werden Frauen sogar fehldiagnostiziert. Woran liegt das? Und wie ist ein erfolgreiches Leben trotz ADS möglich?

Ich bin Victoria Marciniak und ich kenne Lisa und einige andere Frauen mit ähnlichen Symptomen persönlich. Für diesen Podcast habe ich mit ihnen und mit Expertinnen gesprochen.

Musik: Rush into the future c 0‘30

Sprecherin

Promis wie Eckart von Hirschhausen, Justin Bieber oder Felix Lobrecht haben es. In den deutschen Google-Suchanfragen hat es 2024 ein Rekordhoch erreicht , auf TikTok, YouTube und Instagram erscheinen immer mehr Videos darüber: ADHS - Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom.

TON 2 (00:07)

[00:00:12] Handy klingelt:

„Ich bin Automobilverkäufer und habe diagnostiziertes ADHS. Das geht von morgens bis abends so!“ (lacht)

Sprecherin

Ich bin bei Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und Mitbegründerin des ADHS-Zentrums München. Zu ihr in die Praxis kommen immer mehr Menschen mit Selbstdiagnosen. Sie sehen Videos auf YouTube oder TikTok und glauben, sich selbst darin wiederzuerkennen.

O-Ton 03

[00:13:10] Ich bin auf der einen Seite sehr froh, dass das einfach jetzt sehr publik ist (…) Natürlich hat nicht jeder, der sich selbst diagnostiziert, auch ADHS. Man muss ja auch diese Symptomatik von Anfang an haben, also schon in der Kindheit sich zeigen. Jeder ist mal verpeilt, jeder ist mal impulsiv und hat Stimmungswechsel. (…) Aber das muss sich wirklich durchs Leben ziehen. Aber ein Großteil derer, die kommen, haben es auch tatsächlich und das finde ich gut.(…)

Sprecherin

Dass auf Social Media-Kanälen immer mehr über ADHS diskutiert und aufgeklärt wird, kann Betroffenen helfen, einen Namen für etwas zu finden, was sie schon ein Leben lang belastet. So war es auch bei Lisa – sie ist 36 Jahre alt und hat ihre Diagnose erst vor zwei Jahren bekommen.

TON 04

[00:23:33] mir wurden immer wieder so auf Social Media Videos ausgespielt, Beiträge ausgespielt, wo Leute über ihre Symptomatik geredet haben und das sehr, sehr anschaulich beschrieben haben und ich immer wieder dachte: Hm, kenne ich, kenne ich. (…) Vorher wusste ich gar nicht, dass eben ADHS bedeutet nicht, man kann sich auf gar nichts konzentrieren. Oder ADHS bedeutet nicht, man ist irgendwie ein männlicher Zappelphillip, der alle in der Schule stört. Es kann sich auch ganz anders äußern.

Sprecherin

ADHS ist nämlich nicht gleich ADHS:

O-Ton 05

Es gibt zwei Formen von ADHS, das heißt, es ist eigentlich eine falsche Nomenklatur. ADHS heißt Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivität Syndrom. Jetzt hat ein Teil der ADHS-Betroffenen die Hyperaktivität. Ein anderer Teil, und das sind vorwiegend die Frauen, eben nicht. Das ist der unaufmerksame Typ. Eigentlich müsste der Oberbegriff ADS sein und die Hyperaktivität des ADS ist die Unterform (…) aber es hat sich einfach ADHS eingebürgert und deswegen setze ich das hier immer in Klammern, weil das H nicht zwingend ist. (…) Aber eigentlich müsste es ADS heißen.

Musik: Almost neutral 0‘22

Sprecherin

Frauen und Mädchen haben also EHER ADS und Männer und Jungen EHER die hyperaktive Form: nämlich ADHS.

Die Symptome von Mädchen und Frauen sind oft weniger auffällig und können zum Beispiel so aussehen:

TON 06 (00:45)

Verträumtheit, Ablenkbarkeit, oft auch langsam, oft auch so sehr emotional, so nah am Wasser gebaut, wie man so früher sagte. Ja, mit Schwierigkeiten sich zu organisieren, mit Schwierigkeiten arbeiten anzufangen und zu Ende zu bringen.

Und das Problem ist, dass unsere Fragebögen für ADS eben auf hyperaktive Jungen abgestellt sind. Und deswegen erfüllen Mädchen oft auch nicht den Score, um diese ADS-Diagnose zu erreichen in den Tests. Und dann werden die übersehen.

Musik: Surviving victims 0‘43

Sprecherin

In Deutschland ist ADS bzw. ADHS eine der am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Aber: Auf vier diagnostizierte Jungen kommt gerade mal ein Mädchen. Die anderen Mädchen, die dann nicht richtig behandelt werden, haben häufiger ein geringes Selbstwertgefühl, weil sie Aufgaben nicht zu Ende bringen können, häufiger scheitern, nur wenige Erfolgserlebnisse haben. Dadurch können sich dann im jungen Erwachsenenalter zum Beispiel Depressionen entwickeln. Auch wenn die Depression erkannt und behandelt wird, bleibt das ADS, das der Krankheit zugrunde liegt, aber oft unerkannt.

Trotzdem bleibt die Frage: Warum bekommen Frauen wie Lisa ihre Diagnose erst so spät?

TON 09

[00:09:27] Also der Gender Data Gap ist zu Deutsch übersetzt eine geschlechtsspezifische Verzerrung von Daten.

Sprecherin

Nina Haffer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité – genauer: am Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Da promoviert sie im Bereich medizinische Informatik und beschäftigt sich u.a. damit, psychiatrische Fragebögen – etwa für die ADS-Diagnostik – zu standardisieren. Also die Fragebögen, die momentan noch vor allem auf Jungen und Männer mit ADHS ausgerichtet sind.

TON 10

[00:11:28] Also unter dem Gender Data Gap kann man ein Vorurteil verstehen gegenüber einem Geschlecht oder dem anderen. Dieses Vorurteil hat sich sehr, sehr lange historisch aufgebaut, weil meistens männliche Daten gesammelt wurden (…) in Studien, für Diagnosekriterien und so weiter und so fort. Und weibliche Daten sind sozusagen hinten runtergefallen. Und damit fehlt ein großer Teil an Daten in der Medizin.

Sprecherin

Die überwiegend männlichen Daten in der Medizin können Frauen im schlimmsten Fall sogar schaden, weil bestimmte Krankheiten erst später diagnostiziert werden. Oder weil Frauen eine andere Dosierung von Medikamenten brauchen als Männer. Aber nicht nur das:

TON 11 (00:45)

[00:23:08] Frauen haben bei Herzinfarkten ein viel (…) höheres Risiko, dann auch schwere Folgen zu erleiden, aufgrund dessen, dass sie nicht früh genug erkannt werden. Und ähm, ja, im Allgemeinen werden Frauen auch dadurch, dass sie als emotionaler wahrgenommen werden, auch häufig in ihren Symptomen nicht richtig wahrgenommen und erhalten deswegen beispielsweise auch weniger Schmerzmittel als Männer.

Sprecherin

Zwar fehlen heute immer noch Daten von Frauen in der Medizin, aber es geht bergauf: seit 2004 ist es in Deutschland z.B. verpflichtend, dass klinische Studien mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern berücksichtigen und untersuchen.

Musik: Data connected 0‘25

Sprecherin

Wir alle sind mal vergesslich, aufgekratzt, unkonzentriert, unpünktlich oder schieben wichtige Aufgaben vor uns her – auch ich. Das Skript, das ich Ihnen gerade vorlese, habe ich ein paar Stunden vor der offiziellen Deadline fertigbekommen. Ich komme nicht drum rum, mich während der Recherche zu fragen, ob auch ich ADS habe. Ein wichtiger Punkt, den Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz aber immer wieder betont, passt nicht zu mir: Dass sich ADS bzw. ADHS nämlich durch das ganze Leben zieht und schon in der Kindheit zu beobachten ist…

TON 13

[01:06:35] Also was bei mir schon ganz typisch war, auch so im Kindesalter. Ich hatte immer so ein super chaotisches Zimmer

Sprecherin

In Deutschland haben etwa 5 Prozent der Erwachsenen eine ADS bzw. ADHS-Diagnose. Dabei ist die häufigste ADS-Form bei Erwachsenen: die Mischform. Aber: jede Mischform ist anders und schwierig statistisch zu erfassen, sagt Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz.

TON 14

[00:47:59] der eine hat halt mehr Prokrastination, der andere hat mehr Impulsivität und Hyperaktivität, der andere hat mehr langsam umständliches Verhalten. (…) Ja, also der kleinere Teil hat das reine ADS im Erwachsenenalter, ein ganz kleiner Teil so von 10-15 Prozent. Die meisten haben eben diese Mischform aber bei Frauen haben mehr den Anteil von Unaufmerksamkeit.

Musik: Rush into the future c 0‘21

Sprecherin

Und das macht die Diagnose im Erwachsenenalter noch einmal schwieriger. Lisa dachte zum Beispiel früher, sie sei einfach chaotisch und kreativ. Die Selbstständige mit den Foto- und Videoproduktionen, die sich halt jede kleine Info aufschreibt, weil sie sie sonst vergisst. Obwohl….

TON 15

[01:07:26] ich mich immer gefragt habe warum kriegen andere das hin? Warum kriege ich das nicht hin? (…) Also manchmal sitze ich den ganzen Nachmittag da und versuche ein Buch anzufangen, aber es funktioniert einfach nicht. Und manchmal fange ich an, Buch zu lesen und würde am liebsten die ganze Nacht lesen und kann nicht mehr aufhören und habe dann super wenig Schlaf. So also dieses es selbst nicht kontrollieren können, wann meine Aufmerksamkeit wo ist, das habe ich einfach nie verstanden.

Sprecherin

Dann sieht Lisa die Videos über ADS auf Instagram. Und sie lernt: ADS bedeutet nicht, dass man sich überhaupt nicht konzentrieren kann. Sondern: dass es Dinge gibt, die sie einfach vergisst und andere, bei denen sie einen Hyperfokus hat und sich so reinhängt, dass sie sogar die Zeit vergisst. Lisa sieht zum ersten Mal erwachsene Frauen mit den gleichen Symptomen, die sie hat. Sie recherchiert weiter zu dem Thema und will Klarheit: Kann sie als erwachsene Frau auch ADS bzw. ADHS haben? Sie beginnt mit der Suche nach einer Spezialambulanz für ADHS bei Erwachsenen. Und stößt auf erste Hürden.

TON 16

[00:11:39] ganz viele Praxen sind auch gar nicht auf Erwachsenenalter spezialisiert bei ADHS, sondern kümmern sich eben nur um ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Und dann habe ich da hingeschrieben, musste Fragebögen ausfüllen und auch schon beim Fragebogen ausfüllen hatte ich sehr viele Aha Momente und habe das da hingeschickt. Und dann habe ich die Antwort bekommen Okay, ich bin jetzt auf einer Warteliste, quasi. Und dann, wenn es einen freien Platz gibt für eine Diagnostik, dann würden die sich bei mir melden. Und ich wartete und wartete.

Sprecherin

Es gibt noch zu wenige Fachärzte, die sich auf ADS bei Erwachsenen spezialisieren. Der Bedarf ist groß, Termine sind erst in weiter Zukunft möglich. Dabei sollte jeder Psychotherapeut ADS bei Erwachsenen genauso gut diagnostizieren können wie die Kinder- und Jugendpsychiaterinnen, sagt Neuy-Lobkowicz.

TON 17

[00:37:10] Ich würde mir wünschen, dass jeder erwachsene Psychiater, jeder Psychotherapeut sich fortbildet und weiß, was ADS ist. (…) + Ich finde es ein bisschen peinlich, dass mittlerweile YouTube und TikTok besser ADHS diagnostizieren kann als unsere Fachärzte und als unsere Psychotherapeuten. Und da muss sich was ändern.+

Wir erkennen nur das, was wir wissen. Wir erkennen nur, wenn wir eine Schublade für das haben und die richtigen Fragen stellen: Können Sie anfangen, auf Dinge, die keinen Spaß machen? Können Sie Sachen zu Ende machen? Können Sie aufräumen? Ja, aber das, das fragt ja niemand. Sondern was erzählen uns die Patienten? Die erzählen uns von ihren Begleiterkrankungen, weil diese neu für sie sind. Ja, also, früher war ich viel lustiger. Jetzt, jetzt bin ich traurig. Und dann sage ich: Na klar, ist eine Depression. Ja, stimmt ja auch so eine Depression. Aber wenn da drunter ADS liegt, dann füttert sozusagen das ADS weiter die Depression.

Musik: Undercover investigations red 0‘23

Sprecherin

Lisa will Gewissheit. Während sie auf die Rückmeldung der Spezialambulanz wartet, fragt sie weiter und bekommt spontan einen Termin in einer anderen Praxis, die ebenfalls auf ADS im Erwachsenenalter spezialisiert ist.

Und der Diagnostik-Weg ist lang. Neben dem eigenen Fragebogen gibt es noch Fragebögen für den Partner oder die Partnerin und für die Eltern. Ärzte wie Neuy-Lobkowicz schauen in Schulzeugnisse und sehen sich an, was die Lehrerinnen und Lehrer geschrieben haben

Ton 19

[00:17:27] wir haben Tests, aber die Tests sind nicht beweisend, weil erst mal ist es einfach sehr stimmungsabhängig. Wenn sie morgens ein Test machen, kann der mittags schon anders sein. Oft haben auch anders da nicht so eine Einschätzung von ihrer Symptomatik, weil sie das ja schon immer haben. Aber diese Kernsymptomatik muss sich also jetzt darstellen, und zwar im Lebensverlauf. Dazu braucht es natürlich eine ausführliche Erhebung der Krankheitsgeschichte. Man muss andere Erkrankungen ausschließen(…) und dann kann man das eigentlich sehr genau feststellen, aber man braucht halt dafür Zeit.

Sprecherin

Im Juli 2022, kurz vor ihrem 34. Geburtstag, steht die Diagnose: Lisa hat ADS bzw. ADHS, die Mischform. Mitte 2024 bekommt sie auch Rückmeldung von der Spezialambulanz: Nach zwei Jahren Wartezeit wäre jetzt ein Termin für sie frei…

Lisa hat Glück gehabt, dass sie deutlich schneller professionelle Hilfe gefunden hat. Und eigentlich sollte jedes Mädchen und jede Frau diese Chance bekommen, sagt Neuy-Lobkowicz.

TON 20

Was mir besonders wichtig ist, auch meinen Kolleginnen zu sagen: …. ADS ist das dankbarste Krankheitsbild in der Psychiatrie und Psychotherapie. Man kann nirgends Menschen schneller helfen als ADS-Betroffenen, wenn man richtig diagnostiziert und richtig behandelt.

Sprecherin

Aber wie behandelt man richtig?

Musik: Chain reaction 0‘21

Mit der Veranlagung für ADS wird man geboren. Und die Störung ist mit Medikamenten behandelbar.

TON 24

Dopamin steuert in unserem Gehirn Motivation, Konzentration, Stimmung, Stabilität. Und dieses Dopamin wird bei ADHS Betroffenen schneller abgebaut. Man hat eigentlich Dopaminmangel. Und da muss man ansetzen.

Sprecherin

Lisa hat zuerst Bedenken, Medikamente zu nehmen. Aus Angst, dass ihre Kreativität darunter leiden könnte. Heute sagt sie: Wenn ihre Fähigkeiten eine Schatzkiste wären, dann sind die Medikamente der Schlüssel. Ohne Medikamente öffnet sich die Schatzkiste unkontrollierbar: Manchmal ist sie offen und manchmal nicht.

TON 25

[00:54:36] Es war für mich richtig krass, denn als die Wirkung eingesetzt hat, hatte ich wirklich zum Ersten Mal Ruhe im Kopf. Das hatte ich vorher noch nie.(…) Also mein Partner arbeitet auch im Homeoffice. Und…Ich habe so geheult einfach und bin so rüber zu ihm und meinte: geht es anderen Leuten so immer? Also es war richtig krass für mich, weil ich das Gefühl hatte, ich habe zum Ersten Mal wirklich Ruhe im Kopf.

Sprecherin

Für Lisa war das die richtige Entscheidung. Ob Medikamente bei Kindern und Jugendlichen die Lösung sind, wird nach wie vor auch in Fachkreisen diskutiert. Wichtig ist, dass sich die Eltern mit der Gefühlswelt, dem Umfeld und den Problemen der Kinder beschäftigen – und schauen, wie kann ich meinem Kind die beste Struktur geben? Es gibt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene nämlich noch weitere Wege, um mit ADS umzugehen: einer davon, ist die richtige Umgebung zu suchen. Ich erfahre im Gespräch mit der Expertin, welcher Beruf perfekt zu ADSlern passt: nämlich meiner:

TON 27

[00:11:55] Also komplett fehl am Platz, wäre ein Beruf, der jetzt beispielsweise Buchhalter oder auf der Steuerbehörde, wo man akribisch arbeiten muss, langweilig ist, wenig Bewegung, wenig Spannung ist. Und der richtige Beruf für ADHSler. Wäre zum Beispiel Ihrer: Journalist oder auch Schauspieler. Journalist ist eigentlich ein unglaublich gutes Beispiel. So kurz sich für was interessieren, Begeisterung haben und dann schon wieder zum nächsten. Also wo Abwechslung ist, wo ja auch viel Bewegung drin ist, wo auch was los ist, was Spannung erzeugt. Das sind gute Berufe für ADSler.

Sprecherin

Der andere und oftmals auch ergänzende Weg ist: Sich innerhalb der Umgebung Strukturen aufzubauen. Lisa stellt sich zum Beispiel für alles Mögliche einen Wecker. Selbst, wenn sie in 10 Minuten zum Bus muss.

***Ton Wecker***

Sprecherin

Lisa ist früher oft zu spät gekommen oder hat vergessen, Freundinnen zum Geburtstag zu gratulieren. Und dafür hat sie ihre Strategien entwickelt: Sie schreibt sich Termine auf Post-ist; Sie hat einen gepflegten Kalender und schreibt sich minutiöse To Dos auf. Eine Sache ist Lisa aber noch wichtig zu erwähnen, wenn es um Strategien geht:

TON 29

[00:31:55] ganz, ganz oft ist es so, dass in den Fragebögen eben so was steht wie: kommen sie oft zu spät? Und vielleicht denkt sich eine Person dann: Nein, ich komm nicht zu spät. Ich habe nämlich 30 Wecker, 40 Post-its hier und überall Reminder: Ich komme nicht zu spät. Aber das sind ja alles Strategien, die man sich erarbeitet, um diese Symptomatik zu kompensieren. Und deshalb fallen eben auch ganz, ganz viele Frauen gerade weiblich gelesene Personen durchs Raster, weil diese Strategien eben da sind. Weil ganz, ganz oft eben auch in der Erziehung oder so durch die gesellschaftliche Erwartungshaltung du als Frau du, du musst es ja schon im Griff haben.

Stroke of fate 0‘24

Sprecherin

Das Beispiel von Lisa Tihany zeigt, dass es mit den richtigen Tools, Strategien, Umfeld und Medikamenten möglich ist, gut und auch beruflich erfolgreich mit ADS bzw. ADHS zu leben. Lisa ist im Kreativbereich selbstständig und kann ihre Störung sogar als Vorteil zu nutzen.

TON 30

[00:59:18] Für mich ist mein ADHS auf jeden Fall ein großer Teil von mir. (…) Es bestimmt meinen Alltag, das bestimmt, wie ich ticke. (…) Und was ich mittlerweile gelernt habe, ist es gibt viele Dinge, die mir natürlich sehr, sehr schwer fallen im Alltag aufgrund von ADHS. + [01:00:41] Und ich weiß aber mittlerweile, dass auch ganz ganz viele Dinge, die ich sehr gut kann auch mit ADHS zusammenhängen. Ich bin super kreativ, ich bin super schnell im Probleme lösen. Wenn es irgendwo ein Problem aufkommt, dann werde ich direkt 20 Lösungsvorschläge im Kopf haben.

Sprecherin

Es lohnt sich immer, Hilfe zu holen – auch im höheren Alter. Eine richtige Diagnose kann manchmal das ganze Leben verändern, sagt Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz und deutet auf einen Strauß Sonnenblumen, den sie von einer Patientin bekommen hat:

TON 31

[00:50:58] gerade vorhin war eine Apothekerin da, die war aber schon 50. (…) Ihr Sohn hatte auch ADHS. Es war die ganze Familie in Aufruhr, weil Ihr Sohn da ziemlich dekompensiert ist. Ja, sie ist immer weiter am Rad gedreht und alle haben gesagt, sie muss jetzt in die Klinik, sie ist manisch depressiv usw Dann hat sie Antidepressiva gekriegt, die hat sie nicht vertragen und ich habe gesagt Stopp, langsam, Sie haben ADS, Stellen sie jetzt ein, sie ist dekompensiert unter dieser Anspannung, auch mit dem Sohn, der einfach überhaupt nicht funktioniert hat und sich gegen alles gewehrt hat. Und wir haben sie. Ich habe sie zweimal gesehen und von ihr ist heute der große Blumenstrauß. Und da hat sie gesagt, sie hat ein anderes Leben. Ja, und es ist so, es ist ja so viel einfacher. Das Leben. (…) Und sie war so voller Glück und Dankbarkeit. Und das ist natürlich, das ist der beste Lohn, den Sie als Arzt haben können.


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Autorin dieser Folge: Victoria Marciniak
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Es sprach: Victoria Marciniak
Technik: Simon Lobenhofer
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Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

O-Ton 01 Lisa (01:25)

[00:07:17]Also ich gehe zum Beispiel in den Keller, ich will den Staubsauger holen, dann sehe ich da die Weihnachtsdeko und denke oh Moment, Weihnachtsdeko. Der Weihnachtsstern vom letzten Jahr hängt noch. Auf dem Weg zu dem Weihnachtsstern komme ich dann wieder an der Kaffeemaschine vorbei und denke uhh Kaffee wäre jetzt schön. Und dann sagt die Kaffeemaschine an, der Kaffeesatz muss geleert werden. Damit gehe ich an die Biotonne. Dann entdecke ich Oh Moment, da wuchert irgendwie Efeu neben der Tonne, aber weiß jetzt auch nicht, wo meine Gartenschere ist. Vielleicht habe ich eine, vielleicht auch nicht, aber habe jetzt auch keine Lust nachzugucken. Fahr dann in den Baumarkt und dann sehe ich da eine schöne Wandfarbe und denke mir im Moment den Schrank wollte ich doch schon lange mal streichen. Dann stehe ich wahrscheinlich im Baumarkt am Handy und recherchiere, welche Wandfarbe gut passen könnte auf Pinterest und vielleicht kauf ich irgendeine Farbe. Möglicherweise habe ich so eine Farbe sogar schon zu Hause, aber habe nicht nachgeschaut, ob ich eine habe. Irgendeine Farbe werde ich mitnehmen, aber dabei bestimmt vergessen, dass ich eigentlich noch eine Farbrolle bräuchte und ein Pinsel und auch keine Farbwanne habe. Aber die Farbe habe ich und die steht dann wahrscheinlich auch wieder ein halbes Jahr rum, bis ich irgendwann an dieser Farbe vorbeilaufe und denke: Jetzt ist der Moment. Aber staubgesaugt habe ich immer noch nicht.

***akustischer Trenner***

Podcast-Ansage

Lisa Tihany will eigentlich nur Staubsaugen – und muss aufpassen, dass sie nicht gleich ihre Wohnung renoviert. Und: Lisa denkt vor Allem assoziativ, sie kommt sehr oft zu spät zu Verabredungen, sie kann sich stundenlang auf eine Aufgabe fokussieren und dabei das Essen und Trinken vergessen.

Lisa hat ADS bzw. ADHS. Frauen wie sie fallen häufig nicht so schnell als ADSlerin auf, sie bekommen ihre Diagnose meist später als Männer. Oft werden Frauen sogar fehldiagnostiziert. Woran liegt das? Und wie ist ein erfolgreiches Leben trotz ADS möglich?

Ich bin Victoria Marciniak und ich kenne Lisa und einige andere Frauen mit ähnlichen Symptomen persönlich. Für diesen Podcast habe ich mit ihnen und mit Expertinnen gesprochen.

Musik: Rush into the future c 0‘30

Sprecherin

Promis wie Eckart von Hirschhausen, Justin Bieber oder Felix Lobrecht haben es. In den deutschen Google-Suchanfragen hat es 2024 ein Rekordhoch erreicht , auf TikTok, YouTube und Instagram erscheinen immer mehr Videos darüber: ADHS - Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom.

TON 2 (00:07)

[00:00:12] Handy klingelt:

„Ich bin Automobilverkäufer und habe diagnostiziertes ADHS. Das geht von morgens bis abends so!“ (lacht)

Sprecherin

Ich bin bei Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz. Sie ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie und Mitbegründerin des ADHS-Zentrums München. Zu ihr in die Praxis kommen immer mehr Menschen mit Selbstdiagnosen. Sie sehen Videos auf YouTube oder TikTok und glauben, sich selbst darin wiederzuerkennen.

O-Ton 03

[00:13:10] Ich bin auf der einen Seite sehr froh, dass das einfach jetzt sehr publik ist (…) Natürlich hat nicht jeder, der sich selbst diagnostiziert, auch ADHS. Man muss ja auch diese Symptomatik von Anfang an haben, also schon in der Kindheit sich zeigen. Jeder ist mal verpeilt, jeder ist mal impulsiv und hat Stimmungswechsel. (…) Aber das muss sich wirklich durchs Leben ziehen. Aber ein Großteil derer, die kommen, haben es auch tatsächlich und das finde ich gut.(…)

Sprecherin

Dass auf Social Media-Kanälen immer mehr über ADHS diskutiert und aufgeklärt wird, kann Betroffenen helfen, einen Namen für etwas zu finden, was sie schon ein Leben lang belastet. So war es auch bei Lisa – sie ist 36 Jahre alt und hat ihre Diagnose erst vor zwei Jahren bekommen.

TON 04

[00:23:33] mir wurden immer wieder so auf Social Media Videos ausgespielt, Beiträge ausgespielt, wo Leute über ihre Symptomatik geredet haben und das sehr, sehr anschaulich beschrieben haben und ich immer wieder dachte: Hm, kenne ich, kenne ich. (…) Vorher wusste ich gar nicht, dass eben ADHS bedeutet nicht, man kann sich auf gar nichts konzentrieren. Oder ADHS bedeutet nicht, man ist irgendwie ein männlicher Zappelphillip, der alle in der Schule stört. Es kann sich auch ganz anders äußern.

Sprecherin

ADHS ist nämlich nicht gleich ADHS:

O-Ton 05

Es gibt zwei Formen von ADHS, das heißt, es ist eigentlich eine falsche Nomenklatur. ADHS heißt Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivität Syndrom. Jetzt hat ein Teil der ADHS-Betroffenen die Hyperaktivität. Ein anderer Teil, und das sind vorwiegend die Frauen, eben nicht. Das ist der unaufmerksame Typ. Eigentlich müsste der Oberbegriff ADS sein und die Hyperaktivität des ADS ist die Unterform (…) aber es hat sich einfach ADHS eingebürgert und deswegen setze ich das hier immer in Klammern, weil das H nicht zwingend ist. (…) Aber eigentlich müsste es ADS heißen.

Musik: Almost neutral 0‘22

Sprecherin

Frauen und Mädchen haben also EHER ADS und Männer und Jungen EHER die hyperaktive Form: nämlich ADHS.

Die Symptome von Mädchen und Frauen sind oft weniger auffällig und können zum Beispiel so aussehen:

TON 06 (00:45)

Verträumtheit, Ablenkbarkeit, oft auch langsam, oft auch so sehr emotional, so nah am Wasser gebaut, wie man so früher sagte. Ja, mit Schwierigkeiten sich zu organisieren, mit Schwierigkeiten arbeiten anzufangen und zu Ende zu bringen.

Und das Problem ist, dass unsere Fragebögen für ADS eben auf hyperaktive Jungen abgestellt sind. Und deswegen erfüllen Mädchen oft auch nicht den Score, um diese ADS-Diagnose zu erreichen in den Tests. Und dann werden die übersehen.

Musik: Surviving victims 0‘43

Sprecherin

In Deutschland ist ADS bzw. ADHS eine der am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Aber: Auf vier diagnostizierte Jungen kommt gerade mal ein Mädchen. Die anderen Mädchen, die dann nicht richtig behandelt werden, haben häufiger ein geringes Selbstwertgefühl, weil sie Aufgaben nicht zu Ende bringen können, häufiger scheitern, nur wenige Erfolgserlebnisse haben. Dadurch können sich dann im jungen Erwachsenenalter zum Beispiel Depressionen entwickeln. Auch wenn die Depression erkannt und behandelt wird, bleibt das ADS, das der Krankheit zugrunde liegt, aber oft unerkannt.

Trotzdem bleibt die Frage: Warum bekommen Frauen wie Lisa ihre Diagnose erst so spät?

TON 09

[00:09:27] Also der Gender Data Gap ist zu Deutsch übersetzt eine geschlechtsspezifische Verzerrung von Daten.

Sprecherin

Nina Haffer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Charité – genauer: am Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Da promoviert sie im Bereich medizinische Informatik und beschäftigt sich u.a. damit, psychiatrische Fragebögen – etwa für die ADS-Diagnostik – zu standardisieren. Also die Fragebögen, die momentan noch vor allem auf Jungen und Männer mit ADHS ausgerichtet sind.

TON 10

[00:11:28] Also unter dem Gender Data Gap kann man ein Vorurteil verstehen gegenüber einem Geschlecht oder dem anderen. Dieses Vorurteil hat sich sehr, sehr lange historisch aufgebaut, weil meistens männliche Daten gesammelt wurden (…) in Studien, für Diagnosekriterien und so weiter und so fort. Und weibliche Daten sind sozusagen hinten runtergefallen. Und damit fehlt ein großer Teil an Daten in der Medizin.

Sprecherin

Die überwiegend männlichen Daten in der Medizin können Frauen im schlimmsten Fall sogar schaden, weil bestimmte Krankheiten erst später diagnostiziert werden. Oder weil Frauen eine andere Dosierung von Medikamenten brauchen als Männer. Aber nicht nur das:

TON 11 (00:45)

[00:23:08] Frauen haben bei Herzinfarkten ein viel (…) höheres Risiko, dann auch schwere Folgen zu erleiden, aufgrund dessen, dass sie nicht früh genug erkannt werden. Und ähm, ja, im Allgemeinen werden Frauen auch dadurch, dass sie als emotionaler wahrgenommen werden, auch häufig in ihren Symptomen nicht richtig wahrgenommen und erhalten deswegen beispielsweise auch weniger Schmerzmittel als Männer.

Sprecherin

Zwar fehlen heute immer noch Daten von Frauen in der Medizin, aber es geht bergauf: seit 2004 ist es in Deutschland z.B. verpflichtend, dass klinische Studien mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern berücksichtigen und untersuchen.

Musik: Data connected 0‘25

Sprecherin

Wir alle sind mal vergesslich, aufgekratzt, unkonzentriert, unpünktlich oder schieben wichtige Aufgaben vor uns her – auch ich. Das Skript, das ich Ihnen gerade vorlese, habe ich ein paar Stunden vor der offiziellen Deadline fertigbekommen. Ich komme nicht drum rum, mich während der Recherche zu fragen, ob auch ich ADS habe. Ein wichtiger Punkt, den Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz aber immer wieder betont, passt nicht zu mir: Dass sich ADS bzw. ADHS nämlich durch das ganze Leben zieht und schon in der Kindheit zu beobachten ist…

TON 13

[01:06:35] Also was bei mir schon ganz typisch war, auch so im Kindesalter. Ich hatte immer so ein super chaotisches Zimmer

Sprecherin

In Deutschland haben etwa 5 Prozent der Erwachsenen eine ADS bzw. ADHS-Diagnose. Dabei ist die häufigste ADS-Form bei Erwachsenen: die Mischform. Aber: jede Mischform ist anders und schwierig statistisch zu erfassen, sagt Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz.

TON 14

[00:47:59] der eine hat halt mehr Prokrastination, der andere hat mehr Impulsivität und Hyperaktivität, der andere hat mehr langsam umständliches Verhalten. (…) Ja, also der kleinere Teil hat das reine ADS im Erwachsenenalter, ein ganz kleiner Teil so von 10-15 Prozent. Die meisten haben eben diese Mischform aber bei Frauen haben mehr den Anteil von Unaufmerksamkeit.

Musik: Rush into the future c 0‘21

Sprecherin

Und das macht die Diagnose im Erwachsenenalter noch einmal schwieriger. Lisa dachte zum Beispiel früher, sie sei einfach chaotisch und kreativ. Die Selbstständige mit den Foto- und Videoproduktionen, die sich halt jede kleine Info aufschreibt, weil sie sie sonst vergisst. Obwohl….

TON 15

[01:07:26] ich mich immer gefragt habe warum kriegen andere das hin? Warum kriege ich das nicht hin? (…) Also manchmal sitze ich den ganzen Nachmittag da und versuche ein Buch anzufangen, aber es funktioniert einfach nicht. Und manchmal fange ich an, Buch zu lesen und würde am liebsten die ganze Nacht lesen und kann nicht mehr aufhören und habe dann super wenig Schlaf. So also dieses es selbst nicht kontrollieren können, wann meine Aufmerksamkeit wo ist, das habe ich einfach nie verstanden.

Sprecherin

Dann sieht Lisa die Videos über ADS auf Instagram. Und sie lernt: ADS bedeutet nicht, dass man sich überhaupt nicht konzentrieren kann. Sondern: dass es Dinge gibt, die sie einfach vergisst und andere, bei denen sie einen Hyperfokus hat und sich so reinhängt, dass sie sogar die Zeit vergisst. Lisa sieht zum ersten Mal erwachsene Frauen mit den gleichen Symptomen, die sie hat. Sie recherchiert weiter zu dem Thema und will Klarheit: Kann sie als erwachsene Frau auch ADS bzw. ADHS haben? Sie beginnt mit der Suche nach einer Spezialambulanz für ADHS bei Erwachsenen. Und stößt auf erste Hürden.

TON 16

[00:11:39] ganz viele Praxen sind auch gar nicht auf Erwachsenenalter spezialisiert bei ADHS, sondern kümmern sich eben nur um ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Und dann habe ich da hingeschrieben, musste Fragebögen ausfüllen und auch schon beim Fragebogen ausfüllen hatte ich sehr viele Aha Momente und habe das da hingeschickt. Und dann habe ich die Antwort bekommen Okay, ich bin jetzt auf einer Warteliste, quasi. Und dann, wenn es einen freien Platz gibt für eine Diagnostik, dann würden die sich bei mir melden. Und ich wartete und wartete.

Sprecherin

Es gibt noch zu wenige Fachärzte, die sich auf ADS bei Erwachsenen spezialisieren. Der Bedarf ist groß, Termine sind erst in weiter Zukunft möglich. Dabei sollte jeder Psychotherapeut ADS bei Erwachsenen genauso gut diagnostizieren können wie die Kinder- und Jugendpsychiaterinnen, sagt Neuy-Lobkowicz.

TON 17

[00:37:10] Ich würde mir wünschen, dass jeder erwachsene Psychiater, jeder Psychotherapeut sich fortbildet und weiß, was ADS ist. (…) + Ich finde es ein bisschen peinlich, dass mittlerweile YouTube und TikTok besser ADHS diagnostizieren kann als unsere Fachärzte und als unsere Psychotherapeuten. Und da muss sich was ändern.+

Wir erkennen nur das, was wir wissen. Wir erkennen nur, wenn wir eine Schublade für das haben und die richtigen Fragen stellen: Können Sie anfangen, auf Dinge, die keinen Spaß machen? Können Sie Sachen zu Ende machen? Können Sie aufräumen? Ja, aber das, das fragt ja niemand. Sondern was erzählen uns die Patienten? Die erzählen uns von ihren Begleiterkrankungen, weil diese neu für sie sind. Ja, also, früher war ich viel lustiger. Jetzt, jetzt bin ich traurig. Und dann sage ich: Na klar, ist eine Depression. Ja, stimmt ja auch so eine Depression. Aber wenn da drunter ADS liegt, dann füttert sozusagen das ADS weiter die Depression.

Musik: Undercover investigations red 0‘23

Sprecherin

Lisa will Gewissheit. Während sie auf die Rückmeldung der Spezialambulanz wartet, fragt sie weiter und bekommt spontan einen Termin in einer anderen Praxis, die ebenfalls auf ADS im Erwachsenenalter spezialisiert ist.

Und der Diagnostik-Weg ist lang. Neben dem eigenen Fragebogen gibt es noch Fragebögen für den Partner oder die Partnerin und für die Eltern. Ärzte wie Neuy-Lobkowicz schauen in Schulzeugnisse und sehen sich an, was die Lehrerinnen und Lehrer geschrieben haben

Ton 19

[00:17:27] wir haben Tests, aber die Tests sind nicht beweisend, weil erst mal ist es einfach sehr stimmungsabhängig. Wenn sie morgens ein Test machen, kann der mittags schon anders sein. Oft haben auch anders da nicht so eine Einschätzung von ihrer Symptomatik, weil sie das ja schon immer haben. Aber diese Kernsymptomatik muss sich also jetzt darstellen, und zwar im Lebensverlauf. Dazu braucht es natürlich eine ausführliche Erhebung der Krankheitsgeschichte. Man muss andere Erkrankungen ausschließen(…) und dann kann man das eigentlich sehr genau feststellen, aber man braucht halt dafür Zeit.

Sprecherin

Im Juli 2022, kurz vor ihrem 34. Geburtstag, steht die Diagnose: Lisa hat ADS bzw. ADHS, die Mischform. Mitte 2024 bekommt sie auch Rückmeldung von der Spezialambulanz: Nach zwei Jahren Wartezeit wäre jetzt ein Termin für sie frei…

Lisa hat Glück gehabt, dass sie deutlich schneller professionelle Hilfe gefunden hat. Und eigentlich sollte jedes Mädchen und jede Frau diese Chance bekommen, sagt Neuy-Lobkowicz.

TON 20

Was mir besonders wichtig ist, auch meinen Kolleginnen zu sagen: …. ADS ist das dankbarste Krankheitsbild in der Psychiatrie und Psychotherapie. Man kann nirgends Menschen schneller helfen als ADS-Betroffenen, wenn man richtig diagnostiziert und richtig behandelt.

Sprecherin

Aber wie behandelt man richtig?

Musik: Chain reaction 0‘21

Mit der Veranlagung für ADS wird man geboren. Und die Störung ist mit Medikamenten behandelbar.

TON 24

Dopamin steuert in unserem Gehirn Motivation, Konzentration, Stimmung, Stabilität. Und dieses Dopamin wird bei ADHS Betroffenen schneller abgebaut. Man hat eigentlich Dopaminmangel. Und da muss man ansetzen.

Sprecherin

Lisa hat zuerst Bedenken, Medikamente zu nehmen. Aus Angst, dass ihre Kreativität darunter leiden könnte. Heute sagt sie: Wenn ihre Fähigkeiten eine Schatzkiste wären, dann sind die Medikamente der Schlüssel. Ohne Medikamente öffnet sich die Schatzkiste unkontrollierbar: Manchmal ist sie offen und manchmal nicht.

TON 25

[00:54:36] Es war für mich richtig krass, denn als die Wirkung eingesetzt hat, hatte ich wirklich zum Ersten Mal Ruhe im Kopf. Das hatte ich vorher noch nie.(…) Also mein Partner arbeitet auch im Homeoffice. Und…Ich habe so geheult einfach und bin so rüber zu ihm und meinte: geht es anderen Leuten so immer? Also es war richtig krass für mich, weil ich das Gefühl hatte, ich habe zum Ersten Mal wirklich Ruhe im Kopf.

Sprecherin

Für Lisa war das die richtige Entscheidung. Ob Medikamente bei Kindern und Jugendlichen die Lösung sind, wird nach wie vor auch in Fachkreisen diskutiert. Wichtig ist, dass sich die Eltern mit der Gefühlswelt, dem Umfeld und den Problemen der Kinder beschäftigen – und schauen, wie kann ich meinem Kind die beste Struktur geben? Es gibt sowohl für Kinder als auch für Erwachsene nämlich noch weitere Wege, um mit ADS umzugehen: einer davon, ist die richtige Umgebung zu suchen. Ich erfahre im Gespräch mit der Expertin, welcher Beruf perfekt zu ADSlern passt: nämlich meiner:

TON 27

[00:11:55] Also komplett fehl am Platz, wäre ein Beruf, der jetzt beispielsweise Buchhalter oder auf der Steuerbehörde, wo man akribisch arbeiten muss, langweilig ist, wenig Bewegung, wenig Spannung ist. Und der richtige Beruf für ADHSler. Wäre zum Beispiel Ihrer: Journalist oder auch Schauspieler. Journalist ist eigentlich ein unglaublich gutes Beispiel. So kurz sich für was interessieren, Begeisterung haben und dann schon wieder zum nächsten. Also wo Abwechslung ist, wo ja auch viel Bewegung drin ist, wo auch was los ist, was Spannung erzeugt. Das sind gute Berufe für ADSler.

Sprecherin

Der andere und oftmals auch ergänzende Weg ist: Sich innerhalb der Umgebung Strukturen aufzubauen. Lisa stellt sich zum Beispiel für alles Mögliche einen Wecker. Selbst, wenn sie in 10 Minuten zum Bus muss.

***Ton Wecker***

Sprecherin

Lisa ist früher oft zu spät gekommen oder hat vergessen, Freundinnen zum Geburtstag zu gratulieren. Und dafür hat sie ihre Strategien entwickelt: Sie schreibt sich Termine auf Post-ist; Sie hat einen gepflegten Kalender und schreibt sich minutiöse To Dos auf. Eine Sache ist Lisa aber noch wichtig zu erwähnen, wenn es um Strategien geht:

TON 29

[00:31:55] ganz, ganz oft ist es so, dass in den Fragebögen eben so was steht wie: kommen sie oft zu spät? Und vielleicht denkt sich eine Person dann: Nein, ich komm nicht zu spät. Ich habe nämlich 30 Wecker, 40 Post-its hier und überall Reminder: Ich komme nicht zu spät. Aber das sind ja alles Strategien, die man sich erarbeitet, um diese Symptomatik zu kompensieren. Und deshalb fallen eben auch ganz, ganz viele Frauen gerade weiblich gelesene Personen durchs Raster, weil diese Strategien eben da sind. Weil ganz, ganz oft eben auch in der Erziehung oder so durch die gesellschaftliche Erwartungshaltung du als Frau du, du musst es ja schon im Griff haben.

Stroke of fate 0‘24

Sprecherin

Das Beispiel von Lisa Tihany zeigt, dass es mit den richtigen Tools, Strategien, Umfeld und Medikamenten möglich ist, gut und auch beruflich erfolgreich mit ADS bzw. ADHS zu leben. Lisa ist im Kreativbereich selbstständig und kann ihre Störung sogar als Vorteil zu nutzen.

TON 30

[00:59:18] Für mich ist mein ADHS auf jeden Fall ein großer Teil von mir. (…) Es bestimmt meinen Alltag, das bestimmt, wie ich ticke. (…) Und was ich mittlerweile gelernt habe, ist es gibt viele Dinge, die mir natürlich sehr, sehr schwer fallen im Alltag aufgrund von ADHS. + [01:00:41] Und ich weiß aber mittlerweile, dass auch ganz ganz viele Dinge, die ich sehr gut kann auch mit ADHS zusammenhängen. Ich bin super kreativ, ich bin super schnell im Probleme lösen. Wenn es irgendwo ein Problem aufkommt, dann werde ich direkt 20 Lösungsvorschläge im Kopf haben.

Sprecherin

Es lohnt sich immer, Hilfe zu holen – auch im höheren Alter. Eine richtige Diagnose kann manchmal das ganze Leben verändern, sagt Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz und deutet auf einen Strauß Sonnenblumen, den sie von einer Patientin bekommen hat:

TON 31

[00:50:58] gerade vorhin war eine Apothekerin da, die war aber schon 50. (…) Ihr Sohn hatte auch ADHS. Es war die ganze Familie in Aufruhr, weil Ihr Sohn da ziemlich dekompensiert ist. Ja, sie ist immer weiter am Rad gedreht und alle haben gesagt, sie muss jetzt in die Klinik, sie ist manisch depressiv usw Dann hat sie Antidepressiva gekriegt, die hat sie nicht vertragen und ich habe gesagt Stopp, langsam, Sie haben ADS, Stellen sie jetzt ein, sie ist dekompensiert unter dieser Anspannung, auch mit dem Sohn, der einfach überhaupt nicht funktioniert hat und sich gegen alles gewehrt hat. Und wir haben sie. Ich habe sie zweimal gesehen und von ihr ist heute der große Blumenstrauß. Und da hat sie gesagt, sie hat ein anderes Leben. Ja, und es ist so, es ist ja so viel einfacher. Das Leben. (…) Und sie war so voller Glück und Dankbarkeit. Und das ist natürlich, das ist der beste Lohn, den Sie als Arzt haben können.


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