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Die Gewerkschaft - Lästig, aber nötig?

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Die Gewerkschaften haben sich in den letzten 150 Jahren zu wichtigen wirtschaftlichen und politischen Akteuren entwickelt. Doch Antworten auf die herausfordernde Transformation von Arbeit wie Gesellschaft scheinen sie schwer zu finden. Können sie den Wandel mitgestalten - und gleichzeitig selber zukunftsfähig werden? Autor: Lukas Grasberger

Credits

Autor: Lukas Grasberger
Es sprachen: Katja Amberger und
Technik: Adrian Talhammer
Regie: Irene Schuck
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Prof. Frank Deppe, em. Politikwissenschaftler, Uni Marburg;
Prof. Klaus Dörre, Arbeitsbereich Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Uni Jena;
Dr. Jürgen Schmidt, Gewerkschaftsforscher und Leiter des Karl-Marx-Hauses Trier;
Carolin Denise Fulda, Ökonomin mit Schwerpunkt Lohn und Tarifpolitik am Institut der Deutschen Wirtschaft Köln

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Paula sucht Paula | Folge 1/3 | Alles Geschichte - History von radioWissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Atmo Streiks

O-Ton 1 Frank Deppe, em Prof. für Politikwissenschaft, Uni Marburg

„Das Jahr 2023 ist ein Jahr, in dem in Europa so viel gestreikt wurde wie seit den 70-er Jahren nicht mehr.“

Atmo Streiks nochmal hoch

O-Ton 2 Deppe

„Und wer streikt da? Das sind: Pflegepersonal, die, die arbeiten im Gesundheitssystem, Lehrer, Polizisten: Die ganzen Berufsgruppen, die da von England bis Portugal hinunter in Streik treten. (…) und sich zusammenschließen! Das ist untypisch. Auch Leute, die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten...“

Sprecherin

…die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten, wie der Politikwissenschaftler Frank Deppe sagt. Ja, früher waren die Gewerkschafter die Fließbandarbeiter, ganz früher die Handwerker – jetzt, knapp 200 Jahre später organisieren sich Arbeitnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Und trotzdem trifft auf sie zu, was der Historiker Dr. Jürgen Schmidt für die Mitglieder der frühen Gewerkschaftsbewegung beschreibt. Damals, im 19. Jahrhundert, entstand die Gewerkschaft dort, wo Beschäftigte sich nicht nur selbst als politisches Subjekt, sondern auch in einer Gemeinschaft wahrnahmen.

O-Ton 3 Dr. Jürgen Schmidt

„...Man wollte als Arbeiter wahrgenommen werden, und dann eben auch verbunden mit Würde, Respekt und ner Arbeiter-Identität. (…) Und so das Wissen: Unsere körperliche Arbeit trägt zum Wohlstand - und auch zum Aufblühen von Wirtschaft, Handwerk und Industrie bei.“

Musik 2

"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'10

Sprecherin

Mitte des 19. Jahrhunderts organisierten sich die ersten Arbeiter.

O-Ton 4 Schmidt

„Es gab einerseits so soziale Bedingungen, könnte man das im weitesten Sinne bezeichnen, um sich zusammenzuschließen. Das waren eben überlange Arbeitszeiten von zwölf, 14 Stunden am Tag. Das waren schlechte Löhne. Es war aber eben auch diese Missachtung als Arbeiter, die Unterordnung unter den Arbeitgeber.“

Musik 3

"Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'28

Sprecherin

Dazu kam ein historisches Momentum: Die Revolution des Jahres 1848.

O-Ton 5 Schmidt

„...und durch die Revolution ergaben sich eben Möglichkeiten der Teilhabe und Partizipation. Die neuen Freiheiten haben dann eben Arbeiter und Handwerker genutzt, um sich zusammenzuschließen.“

Sprecherin

Den Boden für die „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“ – die Keimzelle der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung – hatten Handwerker bereitet. Vor allem Handwerksgesellen sahen ihre Arbeit durch den zunehmenden Einsatz neuer Maschinen wie Dampfmaschine oder mechanischen Webstuhl gefährdet, ihre handwerkliche Qualifikation entwertet.

Gegen die industrielle Herstellung von Waren, gegen die neue Konkurrenz des Marktes und gegen die Gewerbefreiheit hatten Handwerks-Meister und -Gesellen anfangs noch gemeinsam aufbegehrt. Aber sie wurden immer mehr zu Kontrahenten, die Interessen entwickelten sich immer mehr in gegensätzliche Richtungen. Konnten sich die Gesellen früher ziemlich sicher sein, zum selbstständigen Handwerksmeister aufzusteigen, war das nun für die meisten unerreichbar geworden. Sie blieben abhängig beschäftigte Arbeitnehmer – im Gegensatz zu den Meistern, die Unternehmer und Arbeitgeber waren.

Allerdings wussten sich die Handwerker-Gesellen zu organisieren: Jahrhunderte alte Erfahrungen aus den Zünften kamen ihnen dabei zu Gute. Sie waren die treibende Kraft bei einem Zusammenschluss der Beschäftigten, die in den neuen Industrie-Betrieben arbeiteten. Gemeinsam sollten sie nun eine neue Klasse des „Arbeiters“ bilden. Mit der so genannten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“ verschafften sie sich gemeinsam in großem Umfang Gehör.

O-Ton 6 Schmidt

„Die Arbeiter-Verbrüderung hatten eben den Anspruch, nicht mehr einzelne Berufe zu repräsentieren, sondern die Arbeiter an sich. Und das bedeutete eben auch eine Aufwertung des Arbeiterbegriffs.“

Musik 4

"Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'44

ZITATOR

„Wir Arbeiter waren einem großen Teile der deutschen Bürgerklasse fremde, unbekannte Wesen....an welche man die dunklen Begriffe von Rohheit und Feigheit, Unbildung und Demut, Dummheit und wilder Zerstörung knüpfte; konnten wir erwarten, dass man uns in einer geschichtlichen Bewegung sah? Dass man uns als eine Klasse in der Gesellschaft betrachtete, die ihre eigene selbständige Entwicklung durchmacht?“

Sprecherin

...schrieb 1848 Stephan Born, der Gründer der Arbeiterverbrüderung. Und weiter:

ZITATOR

„Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hände - und niemand soll sie uns wieder entreißen!“

Sprecherin

Die Regierenden waren alles andere als angetan von dieser Selbstermächtigung und dem wachsenden Selbst-Bewusstsein der „neuen“ Arbeiter. Ab 1850 reagierten die Machthaber des deutschen Staatenbundes mit Repression. Die Arbeiterverbrüderung wurde verboten. Vor allem die Forderung der Arbeiter nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung galt als unbotmäßig.

O-Ton 7 Schmidt

„Sie forderten ja Demokratie, Republik, politische Teilhabe... und stattdessen wurden sie ausgegrenzt und sogar verfolgt. Und gerade so eine Situation schweißt natürlich zusammen - und markiert eine klare Trennungslinie zwischen denen und uns.“

Sprecherin

Trotz – oder gerade wegen ihrer Verfolgung und Unterdrückung: die Arbeiter ließen sich nicht einschüchtern, sie schlossen sich 1863 zum „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ zusammen, der bald die Gründung einer „Partei der Arbeiter“ beschloss: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Diese neue sozialdemokratische Partei wuchs und wuchs - Hand in Hand mit den Gewerkschaften ¬-, ungeachtet der Durchsuchungen und Verhaftungen, mit denen Kanzler Otto von Bismarck im neu gegründeten Kaiserreich die Arbeiterbewegung zu unterdrücken versuchte. Nach und nach erkannten Unternehmen die Gewerkschaften als Vertragspartner an: Erste Tarifverträge, also Vereinbarungen mit den Arbeitgebern auf bestimmte Löhne und Arbeitsbedingungen schlossen zunächst einige wenige Branchen - wie die Buchdrucker, Maler oder Maurer: Dann folgte der nächste Schritt und mit ihm ein Zuwachs an Macht: die Arbeitnehmerorganisationen gründeten einen Dachverband, die „Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands“. Erster Vorsitzender war Carl Legien – der entscheidende Weichen für die Entwicklung des deutschen Gewerkschaftswesens bis zum heutigen Tag stellen sollte:

Musik 5

"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'32

Sprecherin

Er nutzte die Novemberrevolution 1918 für die Sache der Arbeiter. Unter der Drohung der Enteignung und Verstaatlichung von Industrie und Banken rang er dem Großindustriellen Hugo Stinnes die offizielle Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft ab. Dies bedeutete die flächendeckende Ausbreitung und die allgemeine Verbindlichkeit von Tarifverträgen. Ein Zugeständnis mit Hintergedanken, sagt Frank Deppe.

O-Ton 8 Deppe

„Ziel war die Niederschlagung der Revolution. Das war sozusagen der Kern dieser Vereinbarung, der dann aber Zugeständnisse der Arbeitgeberseite an die Gewerkschaften beinhaltete.“

Sprecherin

Dazu einigte man sich auf die Bildung von Arbeiterausschüssen – dem Vorläufer der heutigen Betriebsräte. Statt revolutionärer Konfrontation schrieb man also ein konstruktives Miteinander von Kapital und Arbeit im Betrieb fest.

Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen war der Grundstein für das deutsche Modell von Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung gelegt. In den frühen Jahren der Bundesrepublik wurde diese Sozialpartnerschaft dann in Gesetzesform gegossen.

O-Ton 9 Deppe

„Betriebsräte und Unternehmen müssen zusammenarbeiten zum Wohle des Unternehmens.“

Sprecherin

Die Gewerkschaften liefen jedoch Sturm gegen das Gesetz: Sozialpartnerschaft ja, aber nur, wenn die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gleichberechtigt vertreten sind. Dies war allerdings nicht vorgesehen. Und so kam es 1952 zum letzten legalen politischen Streik in der Bundesrepublik - und einer doppelten Niederlage für die Gewerkschaften: Denn weder der Ausstand der IG Druck und Papier, noch Massenkundgebungen der Gewerkschaften verhinderten, dass das Betriebsverfassungsgesetz zu ihrem Nachteil beschlossen wurde. Zum anderen verbot das Bundesarbeitsgericht 1954 Streiks aus politischen Gründen - sowie solche, die spontan abgehalten werden. Demnach dürfen bis heute...

O-Ton 10 Deppe

„...in der Bundesrepublik Deutschland nur Streiks durchgeführt werden (...), die sozial adäquat sind, also die sich auf soziale Belange des Betriebes richten oder der auch der Tarifpolitik richten, und die gleichzeitig nur von Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden in der Auseinandersetzung geführt werden können.“

Sprecherin

Und nicht vom Staat, der Regierung.

Damit waren die Weichen für einen deutschen Sonderweg in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Nicht die Fundamentalopposition gegen einen Kapitalismus, nicht die revolutionäre Umgestaltung eines als ausbeuterisch wahrgenommenen Systems prägte fortan die Arbeit der Gewerkschaften – sondern die Kooperation mit den Arbeitgebern: mit Regeln für Tarifverhandlungen und Streiks; mit Posten in Aufsichtsräten, in denen Arbeitnehmer nicht mehr direkt als Gewerkschafter, sondern indirekt als gewählte Betriebsrats-Vertreter neben den Managern ihrer Unternehmen Platz nahmen.

Dennoch: Außerhalb der Konferenzräume und Besprechungszimmer von Unternehmen ließen sich viele Gewerkschafter ihr gesellschaftspolitisches Engagement nicht nehmen. Der linke Flügel verknüpfte die Forderung nach Mitbestimmung -

O-Ton 11 Deppe

„...mit einer Perspektive noch weitergehender gesellschaftlicher Veränderungen.“

Musik 6

"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 1'29

Sprecherin

Dieser Anspruch der Gewerkschaften auch gesellschaftspolitisch Einfluss zu nehmen, sagt Frank Deppe, blitzte in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder auf. Im Engagement gegen die atomare Wiederbewaffnung, später in der Friedensbewegung. Besonders aber in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um das Jahr 1968: Die geplanten Notstandsgesetze berührten die ureigenen Interessen der Gewerkschaften – sahen sie doch anfangs auch Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Beschäftigten und Arbeitnehmervertretern vor. Eine Schutzklausel, die die Anwendung des Notstands bei Arbeitskämpfen ausschloss, brachte die Gewerkschaften schließlich dazu, die Gesetze doch mitzutragen. Intellektuelle und Studierende wandten sich daraufhin enttäuscht von den Gewerkschaften ab: Sie hatten in ihnen einen Bündnispartner für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel oder gar einen Systemsturz gesehen. Die zunehmend radikalen Proteste gegen den Vietnamkrieg oder das Schah-Regime im Iran bestritten die 68er schließlich ohne Unterstützung der großen Gewerkschaften.

Damit schienen die Gewerkschaften ihre Rolle im Gefüge der Bundesrepublik endgültig gefunden zu haben: Als selten widerständiges oder gar blockierendes Rädchen in einem – wie gut geölt laufenden – Kapitalismus funktionierten sie in Zeiten des Wirtschaftswunders – und bis weit darüber hinaus.

Musik 7

"I" - Album: Equilirium - Ausführender: PRSZR - Komponist: Peter Votava - Länge: 0'43

Sprecherin

Aber dann kamen die 1970er – die Ölkrise, Wirtschaftskrise und Inflation. Die Inflation schürte die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen, mit denen die Gewerkschaften trotz massiver Kritik seitens der Wirtschaft Lohnerhöhungen von über zehn Prozent durchsetzen konnten. In dieser Zeit strömten Massen an neuen Mitgliedern in die Gewerkschaften. In den Augen von Klaus Dörre, der sich im wissenschaftlichen Beirat von Attac engagiert, ist Konfliktfähigkeit nicht nur eine Bedingung für die Durchsetzung der Interessen, sondern auch für eine sinnvolle Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer.

O-Ton 12 Klaus Dörre, Professor für Soziologie, Uni Jena

Wenn Sie nicht das Schwert an der Wand haben, also eine große gewerkschaftliche Organisationsmacht mit Bereitschaft zum Konflikt, bekommen Sie keine Sozialpartnerschaft.“

Sprecherin

Diese „große gewerkschaftliche Organisationsmacht“, von der Klaus Dörre spricht, schwindet seit Beginn der 90er-Jahre langsam, aber stetig. Auch der kurzfristige Mitgliederzuwachs aus den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit hat letztlich nichts daran geändert. Mitgliederverluste...

O-Ton 13 Carolin Denise Fulda

„...vor allem natürlich aufgrund des demografischen Wandels.

Sprecherin

...sagt die Ökonomin Carolin Denise Fulda, Autorin der Studie „Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?“

O-Ton 13 Fulda Teil 2

„...das heißt, die Babyboomer-Generation geht in Rente. Es kommen aber nicht entsprechend viele junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach. Und noch dazu sind diese jüngeren Beschäftigten dann auch noch seltener in der Gewerkschaft organisiert.“

Sprecherin

Doch warum lassen diese Beschäftigen Vertreter ihrer ureigenen Interessen lieber links liegen? Ein Grund liege wohl nicht bei der Gewerkschaft selbst – sondern am zunehmenden Individualismus in der Gesellschaft, glaubt Fulda. Sie ist Expertin für Lohn- und Tarifpolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

O-Ton 14 Fulda

„...Also Gewerkschaften sind ja nicht die einzigen Organisationen, die Mitglieder verlieren. Das Gleiche trifft für Sportvereine zu, aber zum Beispiel auch für die Kirche. Und auf dem Arbeitsmarkt? Konkret bedeutet das, dass viele Beschäftigte sich einfach lieber selbst vertreten und ihr Gehalt und ihre Arbeitsbedingungen individuell mit ihrem Arbeitgeber verhandeln.“

Sprecherin

Möglicherweise, sagt die Forscherin, habe das zunehmende Fremdeln von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit der Gewerkschaft auch mit einem Wandel der Arbeitswelt zu tun: Mit neuen Jobs in Büros, die weit weg sind von der klassischen „Malocher“-Arbeit in der industriellen Fertigung – einer traditionellen Domäne der Gewerkschaften.

O-Ton 15 Fulda

„Das könnte zum Beispiel daher kommen, dass Angestellte und Akademiker zum Beispiel sich einfach in einem ganz anderen Arbeitsumfeld bewegen als das traditionelle Gewerkschaftsmitglied, also eine Person mit Ausbildungsberuf, die in der Industrie arbeitet.“

Sprecherin

Auch das Profil „älterer Arbeitnehmer“, „weiß“ und „männlich“ sei in den Gewerkschaften überrepräsentiert. Dagegen gebe es dort anteilsmäßig zu wenige Junge, zu wenige Frauen, zu wenige Akademiker. Nicht allein die Demographie – auch der Strukturwandel hat Klaus Dörre zufolge dazu beigetragen...

O-Ton 16 Dörre

„...dass die Branchen, wo die Gewerkschaften ihre Hochburgen hatten und auch die großem betrieblichen Strukturen, wo sie sie hatten, einfach von der Beschäftigung her geschrumpft sind, und die Beschäftigung expandiert in Bereichen, wo die Gewerkschaften traditionell schwach sind. Also nur,

um ein Beispiel zu nennen: der ganze Bereich prekärer Beschäftigung, der ja im Zuge der Hartz-Reformen eine dramatische, kann man sagen, Expansion erlebt: Niedriglohnsektor, Leiharbeit, Zeitarbeit, ungewollte Teilzeitarbeit, und so weiter… Also ein Leiharbeiter wechselt im Durchschnitt alle drei Monate den Betrieb. Wie wollen Sie den organisieren?“

Sprecherin

Die Gewerkschaften, meint Klaus Dörre, müssten auch dieses schwierige Terrain beackern – sie wären schlecht beraten, sich auf die eingespielte Arbeit in den gut organisierten, „alten“ Industriebetrieben zurückzuziehen.

O-Ton 17 Dörre

„Mit bloßem Besitzstandswahren wird man nicht weit kommen“

Sprecherin

Zumal eine Stagnation oder ein weiterer Mitglieder-Rückgang die Legitimation der Gewerkschaften in Lohnverhandlungen mehr und mehr in Frage stellt.

Die Gefahr, es sich im etablierten Miteinander der Mitbestimmung zu gemütlich zu machen – sie ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Frank Deppe in der strukturellen Ausrichtung der deutschen Gewerkschaften auf die Sozialpartnerschaft hin angelegt. Der Marburger Professor zeichnet das Negativbild, in dem die Gewerkschafter immer wieder mal eher „Genossen der Bosse“ sind, die sich mit Managern gemein machen – statt auf Augenhöhe mit „ihren“ Beschäftigten zu agieren. Wozu das führen kann, zeigt der VW-Skandal:

O-Ton 18 Deppe

„Dass das eine Deformation von Machtpositionen ist, die die Gewerkschaften dort in den Betrieben haben, bis heute! Es ist eine Deformation, wenn die Vertreter, wie bei VW, korrupt sind. Oder sie schaffen es nicht, sich den Zwängen zu entziehen, die ihnen angeboten werden. (…) Wenn Kollegen aus den Gewerkschaften erzählen, dass sie Aufsichtsratsmitglieder sind von großen Unternehmen...und wenn solche Sitzungen sind, dass am Ende der Sitzung gesagt wird: wir gehen jetzt in diese und diese Bar. Dann ist das die primitivste Variante, wie Sozialpartnerschaft dann auch kulturell ausgreift.“

Musik 8

"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'38

Sprecherin

Mit der 2005 aufgeflogenen VW-Affäre stellte sich auch eine alte Frage neu: Was macht das Wesen von Gewerkschaft eigentlich aus? Ist es genug, wenn sich Teilhabe für Arbeitnehmer darauf beschränkt, betrieblichen Anliegen an hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre zu delegieren? Müssen sie weniger als der Sozialpartnerschaft dienen, sondern sich mehr als soziale Bewegung organisieren? Der Jenaer Professor Klaus Dörre glaubt, dass manchen Gewerkschaften gar nichts anderes übrig bleibt, als gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen.

O-Ton 19 Dörre

„Ganz sicher müssen die Gewerkschaften auch mit Blick auf die Gesellschaft aktiv werden. (…) Das eine Beispiel ist sicherlich der ökologische Gesellschaftskonflikt, allem voran der Klimawandel... Da ist es ja so, dass die Gewerkschaften gar nicht anders können als gewissermaßen die klassischen Kämpfe um Verteilungsgerechtigkeit, um Löhne, Arbeitsbedingungen zu verbinden mit der Transformation in Richtung nachhaltige Arbeitsweisen und Produktionssysteme.

Sprecherin

Besonders für die als „Autogewerkschaft“ geltende IG Metall oder die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie würde dies einen langen und schmerzhaften Prozess bedeuten und radikale Veränderungen.

Musik 9

"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'55

Sprecherin

Ein fundamentaler Zielkonflikt, der besonders die Metall-Gewerkschaft vor eine Zerreißprobe stellt. Dem Ausstieg aus der Verbrennertechnologie widersetzt sich die IG Metall zwar nicht mehr. Aber Uneinigkeit herrscht in der Frage: Wie soll der Ausstieg erfolgen? Wie kann die Situation für Arbeitnehmer gut gestaltet und eine sichere Zukunft ermöglicht werden?

Die Auseinandersetzungen um die so genannte Antriebswende, vom Verbrenner zum E-Motor, die Sorgen um Zehntausende zur Disposition stehende Arbeitsplätze, insgesamt die Umstellung auf eine CO2-arme oder -freie Produktion: das alles bedeute einen tiefgreifenden Wandel für Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt – und eine Zunahme von Unsicherheiten insgesamt. Auch wenn es in einzelnen Werken zunächst Beschäftigungsgarantien gibt. Klaus Dörre sieht hier die Gewerkschaften stark in der Pflicht.

O-Ton 20 Dörre

„Die Frage ist ja, was Gesellschaften leisten müssen, um ähnliche Sicherheitsgarantien geben zu können. Und das ist eine offene Frage, die die Gewerkschaften aber beeinflussen müssen.“

Sprecherin

Dabei betrifft die umfassende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft auch die Gewerkschaften selbst. Frank Deppe erinnert sich an eine Begegnung, gemeinsam mit IG-Metall-Funktionären, in Stuttgart.

O-Ton 21 Deppe

„Und wir fuhren durch die Stadt, und fuhren offenbar an einer Kita vorbei, wo ein Transparent ist, und Menschen davorstanden. Und das waren die Pflegefrauen, die haben gestreikt dort. Und da sagt der Kollege von der Bezirksleitung der IG Metall: „Das ist doch gar kein richtiger Streik, was die machen! Die haben doch auch nur einen Organisationsgrad von unter 10 Prozent! Wenn wir beim Daimler sagen: ,Geht raus, Kollegen!´ - Dann stehen da 30.000 vor dem Werkstor! Sehen sie, das ist ein auch kultureller, riesiger Unterschied jetzt in den Gewerkschaften...und dass jetzt praktisch der Neuaufbau von Gewerkschaften in Rahmen von Verdi passiert...“

Sprecherin

An mancher Stelle erschüttert die Transformation also Selbstgewissheiten organisierter Arbeitnehmer – anderswo schafft sie neues Selbstbewusstsein: Da ist die stolze IG Metall, die größte Gewerkschaft der Welt, die sich gezwungenermaßen auf die Umstellung der Produktion auf Elektromobilität einlässt: Werkschließungen, Produktionsverlagerung und Abbau von Arbeitsplätzen inklusive - Ausgang ungewiss. Da ist Verdi, deren Mitglieder nicht Jobverluste fürchten, sondern die – im Gegenteil - an einem Mangel an Personal und permanenter Überlastung leiden. Die die fehlende, auch finanzielle Wert-Schätzung der Care-Arbeit beklagen - und die sich um die Zukunft des Sozialwesens insgesamt sorgen.

Schließlich ist da etwa die Eisenbahnergewerkschaft EVG, die den Schulterschluss mit Verdi und den jungen Klimaaktivisten von Fridays For Future übt: Die nicht nur höhere Löhne für ihre Mitglieder im Blick hat, sondern sich mit Klimastreiks für einen nachhaltigen Aus- und Umbau des Verkehrssystems einsetzt.

Musik 10

"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0`29

Sprecherin

Hat im 18. Jahrhundert die industriellen Revolution die Gewerkschaften erst hervorgebracht - so könnten sich die multiplen Krisen der heutigen Zeit für sie als Chance für eine Erneuerung entpuppen: Gelingt es den Arbeitnehmerorganisationen, an Herausforderungen zu wachsen und zu gestaltenden Kräften zu werden, die die ihren im Fortschritt mitnimmt: So könnten sie wieder zu einer authentischen „Arbeiter-Bewegung“ werden.

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Atmo Streiks

O-Ton 1 Frank Deppe, em Prof. für Politikwissenschaft, Uni Marburg

„Das Jahr 2023 ist ein Jahr, in dem in Europa so viel gestreikt wurde wie seit den 70-er Jahren nicht mehr.“

Atmo Streiks nochmal hoch

O-Ton 2 Deppe

„Und wer streikt da? Das sind: Pflegepersonal, die, die arbeiten im Gesundheitssystem, Lehrer, Polizisten: Die ganzen Berufsgruppen, die da von England bis Portugal hinunter in Streik treten. (…) und sich zusammenschließen! Das ist untypisch. Auch Leute, die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten...“

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…die nie etwas mit Gewerkschaften zu tun hatten, wie der Politikwissenschaftler Frank Deppe sagt. Ja, früher waren die Gewerkschafter die Fließbandarbeiter, ganz früher die Handwerker – jetzt, knapp 200 Jahre später organisieren sich Arbeitnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Und trotzdem trifft auf sie zu, was der Historiker Dr. Jürgen Schmidt für die Mitglieder der frühen Gewerkschaftsbewegung beschreibt. Damals, im 19. Jahrhundert, entstand die Gewerkschaft dort, wo Beschäftigte sich nicht nur selbst als politisches Subjekt, sondern auch in einer Gemeinschaft wahrnahmen.

O-Ton 3 Dr. Jürgen Schmidt

„...Man wollte als Arbeiter wahrgenommen werden, und dann eben auch verbunden mit Würde, Respekt und ner Arbeiter-Identität. (…) Und so das Wissen: Unsere körperliche Arbeit trägt zum Wohlstand - und auch zum Aufblühen von Wirtschaft, Handwerk und Industrie bei.“

Musik 2

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Mitte des 19. Jahrhunderts organisierten sich die ersten Arbeiter.

O-Ton 4 Schmidt

„Es gab einerseits so soziale Bedingungen, könnte man das im weitesten Sinne bezeichnen, um sich zusammenzuschließen. Das waren eben überlange Arbeitszeiten von zwölf, 14 Stunden am Tag. Das waren schlechte Löhne. Es war aber eben auch diese Missachtung als Arbeiter, die Unterordnung unter den Arbeitgeber.“

Musik 3

"Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'28

Sprecherin

Dazu kam ein historisches Momentum: Die Revolution des Jahres 1848.

O-Ton 5 Schmidt

„...und durch die Revolution ergaben sich eben Möglichkeiten der Teilhabe und Partizipation. Die neuen Freiheiten haben dann eben Arbeiter und Handwerker genutzt, um sich zusammenzuschließen.“

Sprecherin

Den Boden für die „Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung“ – die Keimzelle der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung – hatten Handwerker bereitet. Vor allem Handwerksgesellen sahen ihre Arbeit durch den zunehmenden Einsatz neuer Maschinen wie Dampfmaschine oder mechanischen Webstuhl gefährdet, ihre handwerkliche Qualifikation entwertet.

Gegen die industrielle Herstellung von Waren, gegen die neue Konkurrenz des Marktes und gegen die Gewerbefreiheit hatten Handwerks-Meister und -Gesellen anfangs noch gemeinsam aufbegehrt. Aber sie wurden immer mehr zu Kontrahenten, die Interessen entwickelten sich immer mehr in gegensätzliche Richtungen. Konnten sich die Gesellen früher ziemlich sicher sein, zum selbstständigen Handwerksmeister aufzusteigen, war das nun für die meisten unerreichbar geworden. Sie blieben abhängig beschäftigte Arbeitnehmer – im Gegensatz zu den Meistern, die Unternehmer und Arbeitgeber waren.

Allerdings wussten sich die Handwerker-Gesellen zu organisieren: Jahrhunderte alte Erfahrungen aus den Zünften kamen ihnen dabei zu Gute. Sie waren die treibende Kraft bei einem Zusammenschluss der Beschäftigten, die in den neuen Industrie-Betrieben arbeiteten. Gemeinsam sollten sie nun eine neue Klasse des „Arbeiters“ bilden. Mit der so genannten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“ verschafften sie sich gemeinsam in großem Umfang Gehör.

O-Ton 6 Schmidt

„Die Arbeiter-Verbrüderung hatten eben den Anspruch, nicht mehr einzelne Berufe zu repräsentieren, sondern die Arbeiter an sich. Und das bedeutete eben auch eine Aufwertung des Arbeiterbegriffs.“

Musik 4

"Diary" - Album: La marque des anges - Miserere (Bande originale du film) - Ausführender und Komponist: Max Richter - Länge: 0'44

ZITATOR

„Wir Arbeiter waren einem großen Teile der deutschen Bürgerklasse fremde, unbekannte Wesen....an welche man die dunklen Begriffe von Rohheit und Feigheit, Unbildung und Demut, Dummheit und wilder Zerstörung knüpfte; konnten wir erwarten, dass man uns in einer geschichtlichen Bewegung sah? Dass man uns als eine Klasse in der Gesellschaft betrachtete, die ihre eigene selbständige Entwicklung durchmacht?“

Sprecherin

...schrieb 1848 Stephan Born, der Gründer der Arbeiterverbrüderung. Und weiter:

ZITATOR

„Wir nehmen unsere Angelegenheiten selbst in die Hände - und niemand soll sie uns wieder entreißen!“

Sprecherin

Die Regierenden waren alles andere als angetan von dieser Selbstermächtigung und dem wachsenden Selbst-Bewusstsein der „neuen“ Arbeiter. Ab 1850 reagierten die Machthaber des deutschen Staatenbundes mit Repression. Die Arbeiterverbrüderung wurde verboten. Vor allem die Forderung der Arbeiter nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung galt als unbotmäßig.

O-Ton 7 Schmidt

„Sie forderten ja Demokratie, Republik, politische Teilhabe... und stattdessen wurden sie ausgegrenzt und sogar verfolgt. Und gerade so eine Situation schweißt natürlich zusammen - und markiert eine klare Trennungslinie zwischen denen und uns.“

Sprecherin

Trotz – oder gerade wegen ihrer Verfolgung und Unterdrückung: die Arbeiter ließen sich nicht einschüchtern, sie schlossen sich 1863 zum „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ zusammen, der bald die Gründung einer „Partei der Arbeiter“ beschloss: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Diese neue sozialdemokratische Partei wuchs und wuchs - Hand in Hand mit den Gewerkschaften ¬-, ungeachtet der Durchsuchungen und Verhaftungen, mit denen Kanzler Otto von Bismarck im neu gegründeten Kaiserreich die Arbeiterbewegung zu unterdrücken versuchte. Nach und nach erkannten Unternehmen die Gewerkschaften als Vertragspartner an: Erste Tarifverträge, also Vereinbarungen mit den Arbeitgebern auf bestimmte Löhne und Arbeitsbedingungen schlossen zunächst einige wenige Branchen - wie die Buchdrucker, Maler oder Maurer: Dann folgte der nächste Schritt und mit ihm ein Zuwachs an Macht: die Arbeitnehmerorganisationen gründeten einen Dachverband, die „Generalcommission der Gewerkschaften Deutschlands“. Erster Vorsitzender war Carl Legien – der entscheidende Weichen für die Entwicklung des deutschen Gewerkschaftswesens bis zum heutigen Tag stellen sollte:

Musik 5

"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0'32

Sprecherin

Er nutzte die Novemberrevolution 1918 für die Sache der Arbeiter. Unter der Drohung der Enteignung und Verstaatlichung von Industrie und Banken rang er dem Großindustriellen Hugo Stinnes die offizielle Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft ab. Dies bedeutete die flächendeckende Ausbreitung und die allgemeine Verbindlichkeit von Tarifverträgen. Ein Zugeständnis mit Hintergedanken, sagt Frank Deppe.

O-Ton 8 Deppe

„Ziel war die Niederschlagung der Revolution. Das war sozusagen der Kern dieser Vereinbarung, der dann aber Zugeständnisse der Arbeitgeberseite an die Gewerkschaften beinhaltete.“

Sprecherin

Dazu einigte man sich auf die Bildung von Arbeiterausschüssen – dem Vorläufer der heutigen Betriebsräte. Statt revolutionärer Konfrontation schrieb man also ein konstruktives Miteinander von Kapital und Arbeit im Betrieb fest.

Mit dem Stinnes-Legien-Abkommen war der Grundstein für das deutsche Modell von Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung gelegt. In den frühen Jahren der Bundesrepublik wurde diese Sozialpartnerschaft dann in Gesetzesform gegossen.

O-Ton 9 Deppe

„Betriebsräte und Unternehmen müssen zusammenarbeiten zum Wohle des Unternehmens.“

Sprecherin

Die Gewerkschaften liefen jedoch Sturm gegen das Gesetz: Sozialpartnerschaft ja, aber nur, wenn die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat gleichberechtigt vertreten sind. Dies war allerdings nicht vorgesehen. Und so kam es 1952 zum letzten legalen politischen Streik in der Bundesrepublik - und einer doppelten Niederlage für die Gewerkschaften: Denn weder der Ausstand der IG Druck und Papier, noch Massenkundgebungen der Gewerkschaften verhinderten, dass das Betriebsverfassungsgesetz zu ihrem Nachteil beschlossen wurde. Zum anderen verbot das Bundesarbeitsgericht 1954 Streiks aus politischen Gründen - sowie solche, die spontan abgehalten werden. Demnach dürfen bis heute...

O-Ton 10 Deppe

„...in der Bundesrepublik Deutschland nur Streiks durchgeführt werden (...), die sozial adäquat sind, also die sich auf soziale Belange des Betriebes richten oder der auch der Tarifpolitik richten, und die gleichzeitig nur von Gewerkschaften mit Arbeitgeberverbänden in der Auseinandersetzung geführt werden können.“

Sprecherin

Und nicht vom Staat, der Regierung.

Damit waren die Weichen für einen deutschen Sonderweg in der Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Nicht die Fundamentalopposition gegen einen Kapitalismus, nicht die revolutionäre Umgestaltung eines als ausbeuterisch wahrgenommenen Systems prägte fortan die Arbeit der Gewerkschaften – sondern die Kooperation mit den Arbeitgebern: mit Regeln für Tarifverhandlungen und Streiks; mit Posten in Aufsichtsräten, in denen Arbeitnehmer nicht mehr direkt als Gewerkschafter, sondern indirekt als gewählte Betriebsrats-Vertreter neben den Managern ihrer Unternehmen Platz nahmen.

Dennoch: Außerhalb der Konferenzräume und Besprechungszimmer von Unternehmen ließen sich viele Gewerkschafter ihr gesellschaftspolitisches Engagement nicht nehmen. Der linke Flügel verknüpfte die Forderung nach Mitbestimmung -

O-Ton 11 Deppe

„...mit einer Perspektive noch weitergehender gesellschaftlicher Veränderungen.“

Musik 6

"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 1'29

Sprecherin

Dieser Anspruch der Gewerkschaften auch gesellschaftspolitisch Einfluss zu nehmen, sagt Frank Deppe, blitzte in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder auf. Im Engagement gegen die atomare Wiederbewaffnung, später in der Friedensbewegung. Besonders aber in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um das Jahr 1968: Die geplanten Notstandsgesetze berührten die ureigenen Interessen der Gewerkschaften – sahen sie doch anfangs auch Einschränkungen der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Beschäftigten und Arbeitnehmervertretern vor. Eine Schutzklausel, die die Anwendung des Notstands bei Arbeitskämpfen ausschloss, brachte die Gewerkschaften schließlich dazu, die Gesetze doch mitzutragen. Intellektuelle und Studierende wandten sich daraufhin enttäuscht von den Gewerkschaften ab: Sie hatten in ihnen einen Bündnispartner für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel oder gar einen Systemsturz gesehen. Die zunehmend radikalen Proteste gegen den Vietnamkrieg oder das Schah-Regime im Iran bestritten die 68er schließlich ohne Unterstützung der großen Gewerkschaften.

Damit schienen die Gewerkschaften ihre Rolle im Gefüge der Bundesrepublik endgültig gefunden zu haben: Als selten widerständiges oder gar blockierendes Rädchen in einem – wie gut geölt laufenden – Kapitalismus funktionierten sie in Zeiten des Wirtschaftswunders – und bis weit darüber hinaus.

Musik 7

"I" - Album: Equilirium - Ausführender: PRSZR - Komponist: Peter Votava - Länge: 0'43

Sprecherin

Aber dann kamen die 1970er – die Ölkrise, Wirtschaftskrise und Inflation. Die Inflation schürte die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen, mit denen die Gewerkschaften trotz massiver Kritik seitens der Wirtschaft Lohnerhöhungen von über zehn Prozent durchsetzen konnten. In dieser Zeit strömten Massen an neuen Mitgliedern in die Gewerkschaften. In den Augen von Klaus Dörre, der sich im wissenschaftlichen Beirat von Attac engagiert, ist Konfliktfähigkeit nicht nur eine Bedingung für die Durchsetzung der Interessen, sondern auch für eine sinnvolle Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer.

O-Ton 12 Klaus Dörre, Professor für Soziologie, Uni Jena

Wenn Sie nicht das Schwert an der Wand haben, also eine große gewerkschaftliche Organisationsmacht mit Bereitschaft zum Konflikt, bekommen Sie keine Sozialpartnerschaft.“

Sprecherin

Diese „große gewerkschaftliche Organisationsmacht“, von der Klaus Dörre spricht, schwindet seit Beginn der 90er-Jahre langsam, aber stetig. Auch der kurzfristige Mitgliederzuwachs aus den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit hat letztlich nichts daran geändert. Mitgliederverluste...

O-Ton 13 Carolin Denise Fulda

„...vor allem natürlich aufgrund des demografischen Wandels.

Sprecherin

...sagt die Ökonomin Carolin Denise Fulda, Autorin der Studie „Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?“

O-Ton 13 Fulda Teil 2

„...das heißt, die Babyboomer-Generation geht in Rente. Es kommen aber nicht entsprechend viele junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach. Und noch dazu sind diese jüngeren Beschäftigten dann auch noch seltener in der Gewerkschaft organisiert.“

Sprecherin

Doch warum lassen diese Beschäftigen Vertreter ihrer ureigenen Interessen lieber links liegen? Ein Grund liege wohl nicht bei der Gewerkschaft selbst – sondern am zunehmenden Individualismus in der Gesellschaft, glaubt Fulda. Sie ist Expertin für Lohn- und Tarifpolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln.

O-Ton 14 Fulda

„...Also Gewerkschaften sind ja nicht die einzigen Organisationen, die Mitglieder verlieren. Das Gleiche trifft für Sportvereine zu, aber zum Beispiel auch für die Kirche. Und auf dem Arbeitsmarkt? Konkret bedeutet das, dass viele Beschäftigte sich einfach lieber selbst vertreten und ihr Gehalt und ihre Arbeitsbedingungen individuell mit ihrem Arbeitgeber verhandeln.“

Sprecherin

Möglicherweise, sagt die Forscherin, habe das zunehmende Fremdeln von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit der Gewerkschaft auch mit einem Wandel der Arbeitswelt zu tun: Mit neuen Jobs in Büros, die weit weg sind von der klassischen „Malocher“-Arbeit in der industriellen Fertigung – einer traditionellen Domäne der Gewerkschaften.

O-Ton 15 Fulda

„Das könnte zum Beispiel daher kommen, dass Angestellte und Akademiker zum Beispiel sich einfach in einem ganz anderen Arbeitsumfeld bewegen als das traditionelle Gewerkschaftsmitglied, also eine Person mit Ausbildungsberuf, die in der Industrie arbeitet.“

Sprecherin

Auch das Profil „älterer Arbeitnehmer“, „weiß“ und „männlich“ sei in den Gewerkschaften überrepräsentiert. Dagegen gebe es dort anteilsmäßig zu wenige Junge, zu wenige Frauen, zu wenige Akademiker. Nicht allein die Demographie – auch der Strukturwandel hat Klaus Dörre zufolge dazu beigetragen...

O-Ton 16 Dörre

„...dass die Branchen, wo die Gewerkschaften ihre Hochburgen hatten und auch die großem betrieblichen Strukturen, wo sie sie hatten, einfach von der Beschäftigung her geschrumpft sind, und die Beschäftigung expandiert in Bereichen, wo die Gewerkschaften traditionell schwach sind. Also nur,

um ein Beispiel zu nennen: der ganze Bereich prekärer Beschäftigung, der ja im Zuge der Hartz-Reformen eine dramatische, kann man sagen, Expansion erlebt: Niedriglohnsektor, Leiharbeit, Zeitarbeit, ungewollte Teilzeitarbeit, und so weiter… Also ein Leiharbeiter wechselt im Durchschnitt alle drei Monate den Betrieb. Wie wollen Sie den organisieren?“

Sprecherin

Die Gewerkschaften, meint Klaus Dörre, müssten auch dieses schwierige Terrain beackern – sie wären schlecht beraten, sich auf die eingespielte Arbeit in den gut organisierten, „alten“ Industriebetrieben zurückzuziehen.

O-Ton 17 Dörre

„Mit bloßem Besitzstandswahren wird man nicht weit kommen“

Sprecherin

Zumal eine Stagnation oder ein weiterer Mitglieder-Rückgang die Legitimation der Gewerkschaften in Lohnverhandlungen mehr und mehr in Frage stellt.

Die Gefahr, es sich im etablierten Miteinander der Mitbestimmung zu gemütlich zu machen – sie ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Frank Deppe in der strukturellen Ausrichtung der deutschen Gewerkschaften auf die Sozialpartnerschaft hin angelegt. Der Marburger Professor zeichnet das Negativbild, in dem die Gewerkschafter immer wieder mal eher „Genossen der Bosse“ sind, die sich mit Managern gemein machen – statt auf Augenhöhe mit „ihren“ Beschäftigten zu agieren. Wozu das führen kann, zeigt der VW-Skandal:

O-Ton 18 Deppe

„Dass das eine Deformation von Machtpositionen ist, die die Gewerkschaften dort in den Betrieben haben, bis heute! Es ist eine Deformation, wenn die Vertreter, wie bei VW, korrupt sind. Oder sie schaffen es nicht, sich den Zwängen zu entziehen, die ihnen angeboten werden. (…) Wenn Kollegen aus den Gewerkschaften erzählen, dass sie Aufsichtsratsmitglieder sind von großen Unternehmen...und wenn solche Sitzungen sind, dass am Ende der Sitzung gesagt wird: wir gehen jetzt in diese und diese Bar. Dann ist das die primitivste Variante, wie Sozialpartnerschaft dann auch kulturell ausgreift.“

Musik 8

"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'38

Sprecherin

Mit der 2005 aufgeflogenen VW-Affäre stellte sich auch eine alte Frage neu: Was macht das Wesen von Gewerkschaft eigentlich aus? Ist es genug, wenn sich Teilhabe für Arbeitnehmer darauf beschränkt, betrieblichen Anliegen an hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre zu delegieren? Müssen sie weniger als der Sozialpartnerschaft dienen, sondern sich mehr als soziale Bewegung organisieren? Der Jenaer Professor Klaus Dörre glaubt, dass manchen Gewerkschaften gar nichts anderes übrig bleibt, als gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen.

O-Ton 19 Dörre

„Ganz sicher müssen die Gewerkschaften auch mit Blick auf die Gesellschaft aktiv werden. (…) Das eine Beispiel ist sicherlich der ökologische Gesellschaftskonflikt, allem voran der Klimawandel... Da ist es ja so, dass die Gewerkschaften gar nicht anders können als gewissermaßen die klassischen Kämpfe um Verteilungsgerechtigkeit, um Löhne, Arbeitsbedingungen zu verbinden mit der Transformation in Richtung nachhaltige Arbeitsweisen und Produktionssysteme.

Sprecherin

Besonders für die als „Autogewerkschaft“ geltende IG Metall oder die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie würde dies einen langen und schmerzhaften Prozess bedeuten und radikale Veränderungen.

Musik 9

"48 Hours" - Album: Mark Felt: The Man Who Brought Down the White House (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführende: James Horner / Daniel Pemberton - Komponist: Daniel Pemberton - Länge: 0'55

Sprecherin

Ein fundamentaler Zielkonflikt, der besonders die Metall-Gewerkschaft vor eine Zerreißprobe stellt. Dem Ausstieg aus der Verbrennertechnologie widersetzt sich die IG Metall zwar nicht mehr. Aber Uneinigkeit herrscht in der Frage: Wie soll der Ausstieg erfolgen? Wie kann die Situation für Arbeitnehmer gut gestaltet und eine sichere Zukunft ermöglicht werden?

Die Auseinandersetzungen um die so genannte Antriebswende, vom Verbrenner zum E-Motor, die Sorgen um Zehntausende zur Disposition stehende Arbeitsplätze, insgesamt die Umstellung auf eine CO2-arme oder -freie Produktion: das alles bedeute einen tiefgreifenden Wandel für Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt – und eine Zunahme von Unsicherheiten insgesamt. Auch wenn es in einzelnen Werken zunächst Beschäftigungsgarantien gibt. Klaus Dörre sieht hier die Gewerkschaften stark in der Pflicht.

O-Ton 20 Dörre

„Die Frage ist ja, was Gesellschaften leisten müssen, um ähnliche Sicherheitsgarantien geben zu können. Und das ist eine offene Frage, die die Gewerkschaften aber beeinflussen müssen.“

Sprecherin

Dabei betrifft die umfassende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft auch die Gewerkschaften selbst. Frank Deppe erinnert sich an eine Begegnung, gemeinsam mit IG-Metall-Funktionären, in Stuttgart.

O-Ton 21 Deppe

„Und wir fuhren durch die Stadt, und fuhren offenbar an einer Kita vorbei, wo ein Transparent ist, und Menschen davorstanden. Und das waren die Pflegefrauen, die haben gestreikt dort. Und da sagt der Kollege von der Bezirksleitung der IG Metall: „Das ist doch gar kein richtiger Streik, was die machen! Die haben doch auch nur einen Organisationsgrad von unter 10 Prozent! Wenn wir beim Daimler sagen: ,Geht raus, Kollegen!´ - Dann stehen da 30.000 vor dem Werkstor! Sehen sie, das ist ein auch kultureller, riesiger Unterschied jetzt in den Gewerkschaften...und dass jetzt praktisch der Neuaufbau von Gewerkschaften in Rahmen von Verdi passiert...“

Sprecherin

An mancher Stelle erschüttert die Transformation also Selbstgewissheiten organisierter Arbeitnehmer – anderswo schafft sie neues Selbstbewusstsein: Da ist die stolze IG Metall, die größte Gewerkschaft der Welt, die sich gezwungenermaßen auf die Umstellung der Produktion auf Elektromobilität einlässt: Werkschließungen, Produktionsverlagerung und Abbau von Arbeitsplätzen inklusive - Ausgang ungewiss. Da ist Verdi, deren Mitglieder nicht Jobverluste fürchten, sondern die – im Gegenteil - an einem Mangel an Personal und permanenter Überlastung leiden. Die die fehlende, auch finanzielle Wert-Schätzung der Care-Arbeit beklagen - und die sich um die Zukunft des Sozialwesens insgesamt sorgen.

Schließlich ist da etwa die Eisenbahnergewerkschaft EVG, die den Schulterschluss mit Verdi und den jungen Klimaaktivisten von Fridays For Future übt: Die nicht nur höhere Löhne für ihre Mitglieder im Blick hat, sondern sich mit Klimastreiks für einen nachhaltigen Aus- und Umbau des Verkehrssystems einsetzt.

Musik 10

"Cauchemar De Marx" - Album: The Young Karl Marx (Original Motion Picture Soundtrack) - Ausführender und Komponist: Alexei Aigui - Länge: 0`29

Sprecherin

Hat im 18. Jahrhundert die industriellen Revolution die Gewerkschaften erst hervorgebracht - so könnten sich die multiplen Krisen der heutigen Zeit für sie als Chance für eine Erneuerung entpuppen: Gelingt es den Arbeitnehmerorganisationen, an Herausforderungen zu wachsen und zu gestaltenden Kräften zu werden, die die ihren im Fortschritt mitnimmt: So könnten sie wieder zu einer authentischen „Arbeiter-Bewegung“ werden.

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