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Bayerische Staatsbibliothek - Die Geschichte einer steilen Karriere

23:32
 
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Wie bringt sie ihre Werke auch zum entferntesten Leser? Wie findet das eine bestellte Exemplar aus mehr als elf Millionen Bänden seinen Weg in die Ausleihe? Wie klingt ein Bücheresel? Und warum schlägt man auch heute noch Bücher auf? Ein Gang durch die Bestände und die Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek. Autorin: Leo Hoffmann (BR 2023)

Credits
Autorin dieser Folge: Leo Hoffmann
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel
Technik: Ruth-Maria Ostermann
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Peter Schnitzlein, Leitung Presse Bayerische Staatsbibliothek;
Prof. Dr. Stefan Wimmer, Hebraica&Bestand Widmanstetter, BSB;
Dr. Claudia Bubenik / Alte und Seltene Drucke, BSB;
Dr. Wolfgang-Valentin Ikas / Handschriften, BSB:
Dr. Martin Hermann / Münchener Digitalisierungszentrum, BSB

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Stabi_01_Atmo_Tür (läuft unter dem Text weiter)

SPRECHERIN:

Es sind riesige Holztüren, die so ins Schloss fallen.

Musik: Z8019017133 Nocturnal research 0‘37

Sie führen in eine Institution mit bald 500-jähriger Geschichte: die Bayerische Staatsbibliothek! Mit mehr als 37 Millionen Medien, darunter 19 Millionen Fotos und Bilder, mit der viertgrößten Handschriftensammlung der Welt, mit Wiegendrucken, Künstlerbüchern, mit Landkarten und Globen, Bildbeständen und Fotosammlungen ist sie eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Universalbibliotheken Europas. Doch beinahe wäre ihre Karriere im Sande verlaufen!

Stabi_01_Atmo_Tür (lauter Akzent, dann Ende)

Musik: ZE001630101 Toccata del sesto tono 0‘36

SPRECHERIN:

Man schreibt das Jahr 1558: Die drei Töchter eines Johann Albrecht Widmanstetter bieten den Nachlass ihres im Vorjahr verstorbenen Vaters feil. Wer war denn dieser ...

Stabi_02_ Widmanstadii

„Johannes Albertus Widmanstadii“

SPRECHERIN:

... fragen wir Prof. Stefan Wimmer, Experte für den Gründungsbestand der „BSB“ oder „Stabi“, wie die Bibliothek zungenfertig abgekürzt wird:

Stabi_03_Vita

„Er kam aus einem Dorf, Nellingen bei Ulm, aus einfachen Verhältnissen, sehr viel weiß man dazu nicht, aber man weiß, dass sein Dorfpfarrer sein Talent für Sprachen entdeckt hat, und ihm Latein und Griechisch beigebracht hat, er konnte dann an verschiedenen Universitäten, Tübingen, Heidelberg und anderen studieren, und ist zu einem Sprachgenie geworden, hat sich vor allem auf orientalische Sprachen spezialisiert, ist deshalb auch ein Wegbereiter der Wissenschaft geworden, die wir Orientalistik nennen, das Studium der Sprachen des nahen und mittleren Ostens, und war ein typischer Renaissancegelehrter, der sich mit allen Zweigen des Gelehrtentums befasst hat, mit Jura, er war von Beruf ja auch Rechtsgelehrter, er war Diplomat in verschiedensten Diensten, bis hinauf zum König Ferdinand, der dann Kaiser wurde, bei zwei Päpsten war er in diplomatischen Diensten, bei Herzog Ludwig X. von Bayern, in Landshut, und war also ein sehr viel beschäftigter Mann.“

Musik: ZR003960111 Vinci für Orgel 1‘00

SPRECHERIN:

In diesem Leben zwischen Tübingen und dem Vatikan, zwischen Basel, Neapel und Wien sammelt sich einiges in Truhen, Kästen und Kisten, denn die Forscher der Renaissance pflegen ihre akademischen Beziehungen länderübergreifend: Widmanstetter korrespondiert beispielsweise nach Rom mit dem Kardinal Egidio da Viterbo, dem Generaloberen des Augustinerordens. Über Viterbo hat Widmanstetter auch Kontakt mit Elias Levita, einem jüdischen Gelehrten aus Neustadt an der Aisch, der den Kardinal in Aramäisch und Hebräisch unterrichtet, damit der den Talmud und das Alte Testament erforschen kann. Religiöse Animositäten? Mitnichten, wie ein Brief von Levita aus dem Jahr 1538 beweist.

Stabi_04_Brief 37:60

„Da steht als Adresse – es beginnt in aramäischer Sprache und geht dann Hebräisch weiter, .... (hier im Original der Brief) Das heißt ‚zu Händen des großen und teuren Herrn, bei dem die Erleuchtung wohnt“ ... (hier weiter im Original) „das ist mein teurer Herr Jochanan, also Johannes Widmannstetter ist gemeint. Drunter steht me Venezia ... (hier weiter im Original bis „ve shalom“) „Aus Venedig der großen Stadt nach Rom, Fürstin der Länder, und Shalom – Frieden!“

Musik: ZE001630114 Canzon prima für Cembalo 0‘53

SPRECHERIN:

Der Wittelsbacher Herzog Albrecht V., genannt der Prächtige, ist ein Sammler: Antike Skulpturen und Münzen, Gemälde, edle Rosse, venezianisches Glas, Preziosen für seine Wunderkammer UND Bücher! Wie alle Renaissancefürsten stellt er durch die Präsentation kostbarer Objekte seinen Anspruch auf Königs- und Kaiserwürden klar. Folgerichtig bieten ihm Widmanstetters Töchter den Nachlass ihres Vaters an. Dessen Einzigartigkeit aber erschließt sich Albrecht nicht: Er lehnt den Kauf ab!

Erst als der bibliophile Gelehrte Johann Jakob Fugger ihm klar macht, dass Widmanstetter einen einmaligen Bestand an orientalischen Handschriften und Drucken hortete, besinnt er sich: Die Karriere der Stabi beginnt.

Stabi_05_Kauf:

Der Herzog hat dann 1000 Gulden gezahlt, nicht auf einmal, sondern über mehrere Jahre und verzinst, und diese Bibliothek dann zum Grundbestand seiner neuen herzoglichen Bibliothek gemacht, der Hofbibliothek, aus der die Bayerische Staatsbibliothek geworden ist.“

SPRECHERIN:

Bibliotheken neigen zum Wachstum. So auch die von Widmanstetter, die Herzog Albrecht ins ‚alte Gewölb’, das Archiv im Kanzleigebäude des Alten Hofs in München, bringen lässt. Der „Prächtige“ ergattert bald die nächste Sammlung: Sie gehört ausgerechnet seinem künstlerischen Berater Johann Jakob Fugger. Der muss Bankrott anmelden, da die spanische Krone die Tilgung ihrer hohen Kredite aus Augsburg schuldig bleibt. Bayern profitiert von dem Fiasko: Fuggers Sammlung, 10'000 Bände etwa, ist epochal, so Claudia Bubenik, die das Referat „Alte und Seltene Drucke“ leitet:

Stabi 07_Fuggersammlung

In seiner Sammlung verbergen sich seltenste Drucke auch des 16. Jahrhunderts, wie eine Ausgabe von Gilles Corrozet, die Hecatomgraphie, ein 1543 in Paris gedrucktes Werk, das also auch noch die alte Signatur der Hofbibliothek trägt ‚statio 7, die Nummer 31’.

Musik: ZE013680108 Ricercar für Cembalo 0‘52

SPRECHERIN:

Neben alten Handschriften hat Fugger alles gesammelt, was damals aktuell auf den Markt kam, die Neuerscheinungen quasi: Pierre Belons Vogelkunde, 1557 in Paris gedruckt, oder Juan di Isíars Anleitung zur Kalligraphie, Saragossa 1548, die „Carta Marina“ des Bischofs Olaus Magnus, gedruckt in Rom 1539 ... Last but not least gehört Fugger die nachgelassene Bibliothek des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel, inklusive seines Hand-Exemplars der „Weltchronik“.

Natürlich zieht der exquisite Erwerb eine ganze Reihe Folgekosten für Albrecht V. nach sich:

Stabi_08_Buchbinden

„Die Bände waren ja damals nicht gebunden auf dem Markt erhältlich, sondern in Lagen und das heißt, je nach Geldbeutel des neuen Besitzers, ließ dieser sich die Bände in prächtigen Einbänden binden oder eben in einfachen Pergamenteinbänden oder einem Coperteinband und es liegen zum Teil auch noch Unterlagen vor im Archiv, aus denen hervorgeht, welcher Buchbinder für wie viel Geld wie viele Bände bekam zum Einbindenlassen.“

SPRECHERIN:

Längst reicht ein Archivar wie Erasmus Fendt zur Betreuung der Sammlung nicht mehr aus: Ein Bibliothekar muss engagiert werden.

Stabi_09_ Örtel

Der erste Bibliothekar von dem es auch eine offizielle Bestallungsurkunde gab, war Egidius Örtel, der 1561 angestellt wurde, und die sogenannte ‚liberey’ zu verwalten hatte. Von ihm liegt auch der erste oder älteste Katalog der Hofbibliothek vor, zu den dialecticae ed grammaticae, leider nur als Fragment ...

Stabi_10_Prommer

Prägend für die Hofbibliothek war aber Wolfgang Prommer. Prommer kam aus Landsberg am Lech und wurde 1562 von Johann Jakob Fugger für seine Bibliothek eingestellt und kam, als Fugger seine Sammlung 1571 an Albrecht V. veräußern musste, mit der Bibliothek in die Hofbibliothek und hat dort sofort begonnen, diese Masse an 10'000 Bänden, die da plötzlich hereinschwappten, zu ordnen, aufzustellen und zu katalogisieren.

Musik: ZE001630110 Amarilli mi abella 0‘37

SPRECHERIN:

Von „seinen“ Büchern untrennbar wechselt Prommer Ort und Auftraggeber! Auch sein Katalog ist in Teilen erhalten und zeigt seine penible Arbeitsweise.

Die höchsten Folgekosten von Albrechts Ankauf sind räumlicher Natur: Das Kanzleigebäude im Alten Hof fasst Fuggers Büchermengen nicht! Die „liberej“ zieht um: in das von dem Kunstagenten Jacopo Strada entworfene und vom Augsburger Stadtbaumeister Simon Zwitzel errichtete „Antiquarium“. Im oberen Stock dieses ersten Museumsbaus nördlich der Alpen werden ihre Bände als Saalbibliothek entlang der Wände in Regalen aufgestellt und ergänzen so die Antikensammlung im Erdgeschoss: Eine ideale Umsetzung des Bildungsideals der Renaissance und für Albrecht zugleich die Chance, mit kostbaren Einbänden zu glänzen.

Zugänglich aber ist diese Bibliothek nur der Oberschicht: dem Hof und seinen adeligen Eliten. Später sind auch Jesuitenobere, Verwaltungsbeamte und Gelehrte zugelassen.

Nicht alles, was Albrecht angekauft hat, dürfen sie lesen. Sein Sohn, Wilhelm V., ordnet eine Revision an: Prommer muss anstößige, vor allem aber anti-katholische Werke aussortieren. Ziel jeglichen Bücherstudiums soll die Stärkung und Verteidigung des katholischen Glaubens gegen Luthers Lehre sein. Nicht umsonst trägt dieser Wittelsbacher den Beinamen „der Fromme“.

Musik: ZE001630110 Amarilli mi abella 0‘39

SPRECHERIN:

Werke von Melanchton, Calvin, Osiander usw. gelten als häretisch. Doch werden sie nur ab- und nicht ausgeschieden und zwar in einen Raum, zu dem Wilhelm V. den Schlüssel hat. Rund 600 geistliche Werke mit 1500 Schriften fallen darunter.

SPRECHERIN:

Man erkennt sie daran, dass Prommer KEINE neue Signatur in roter Tinte im Vorderdeckel anbringt. Wer sie erforscht, braucht auch heute eine Sondergenehmigung: Nicht, weil sie auf dem Index stehen, sondern weil sie unersetzliches Kulturgut sind.

Musik: Z8026958106 Nature existence 0‘33

Das studiert man im ersten Stock des Südflügels. Hinter einem gut bewachten Drehkreuz liegt der Handschriftenlesesaal. Mit Blei gefüllte Samtschlagen hängen zur Beschwerung der Seiten über hölzernen Buchwiegen. Weiße Handschuhe liegen bereit. Am „Tresortisch“ in der Nordostecke des Saals liest man die wertvollsten Werke unter den strengen, in Öl gemalten Augen von Johann Andreas Schmeller:

Stabi_11_größterBiblio

„der mit Fug und Recht als größter Bibliothekar des 19. Jahrhunderts der Hof- und Staatsbibliothek bezeichnet werden kann“...

SPRECHERIN:

... so Wolfgang Ikas, Leiter des Referats „Handschriften und Benutzung“. Neben Schmellers Porträt sitzt der Benediktinermönch Bruder Willibaldus, alias Martin Schrettinger, im Goldrahmen. Bevor sein Kloster Weißenohe der Säkularisierung zum Opfer fällt, geht er als Hofbibliothekar nach München, wo er heute als Begründer der Wissenschaft vom Bibliothekswesen gilt. Kritisch beäugt von diesen verdienten Vorläufern öffnet Wolfgang Ikas ein grünes Kästchen. Passgenau eingebettet liegen zwei Tontäfelchen und vier Ton-Kegel darin. Im Jahr 2034 v. Chr. drückte ein Schreiber die waagrechten, senkrechten und schrägen Dreiecke in den frischen Ton:

Stabi_12_Tontafel

„Da handelt es sich um eine Abrechnung über 183 Tonnen Getreide, die geerntet und zu Mehl verarbeitet worden sind.“

SPRECHERIN:

Vor über 4050 Jahren! Uralt auch der Kegel, den Herr Ikas zwischen seinen behandschuhten Fingern hält.

Stabi_13_Tonkegel

„Da handelt es sich um Schafe, die für einen Götterkult am Tempel abgegeben wurden, und entsprechend weiterverarbeitet wurden. Das stammt aus dem Jahr 2046 vor Christi Geburt.“

Musik: ZR005190101 Tempus transit 0‘47

SPRECHERIN:

Viel jünger als diese Keilschriften, weitaus poetischer, ja geradezu identitätsstiftend für Bayern sind die „Carmina Burana“, die die Stabi hütet, das „Wessobrunner Gebet“ oder der „Tegernseer Liebesgruß“, den ein Benediktiner Ende des 12. Jahrhunderts zwischen die lateinischen Seiten einer Handschrift aus dem Tegernseer Kloster schreibt. Dieses Einsprengsel ist wohl das älteste Liebesgedicht in deutscher Sprache – ein Sprachdenkmal.

Stabi_14_Liebesgruß

Du bist min, ich bin din,

Du bist mein, ich bin dein, dessen sollst du gewiss sein, du bist eingeschlossen in meinem Herzen, verloren ist das Schlüsselchen, du musst auf immer darin sein.

SPRECHERIN:

Auch Weltdokumentenerbe der UNESCO birgt die Stabi, nämlich die „Leithandschrift A“ des Nibelungenliedes, die früher als die älteste Abschrift dieser Dichtung angesehen wurde, außerdem die Handschrift „D“, die Wiguläus Hundt, Kanzler von Albrecht V., im 16. Jahrhundert auf Burg Prunn im Altmühltal entdeckt.

Stabi_15_Leithandschriften

„Sie ist zwar textlich nicht so bedeutend, wie die drei Leithandschriften, aber sie ist wunderschön illuminiert ...“

SPRECHERIN:

Wie ihre Paarreime klingen, weiß Herr Ikas natürlich auch:

Stabi_16_Nibelungenlied

„Uns ist in alten mæren wunders vil geseit /

von helden lobebæren, von grôzer arebeit,

von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen,

von küener recken strîten muget ir nun wunder hœren sagen.“

Musik: Z8034319124 Cans and computers (c) 0‘58

SPRECHERIN:

Wer diese Handschrift mit ihren verspielten Initialen in Rot, Blau, Grün und Gold durchblättern will, braucht weder Handschuhe, noch eine Genehmigung. Selbst die Sigle „CGM 31“ muss er nicht wissen. Es reicht, „digitale-sammlungen.de“ in eine Suchmaschine einzugeben und „Prunner Codex“ in das Feld mit der Lupe, das dann aufleuchtet: Schwupp, erscheint der abblätternde Ledereinband aus dem 14. Jahrhundert auf dem Bildschirm. Komplett. Samt den Messingschließen, die seine 350 Seiten eng zusammenhalten, damit kein Staub zwischen die Blätter dringt und kein Papierfischchen! Um die Schließen zu öffnen, muss man nicht mit der Faust auf den Buchdeckel schlagen, wie beim Original: Der Cursor erledigt das mit einem Mausklick. Er kann das, weil im Erdgeschoss des Südflügels das „Münchener Digitalisierungszentrum“, kurz MDZ, wirkt. Es löst 1997 die „Fotostelle“ ab, in der Bücher seitenweise „abgeknipst“ wurden, um sie den Lesern zu erhalten. Inzwischen hat die Stabi drei Einheiten zur Digitalisierung, so Martin Hermann, der das Referat Digitale Bibliothek leitet.

Stabi_17_Digital

„Das beschäftigt sich vor allem mit der Digitalisierung der hochwertigen, seltenen, unikalen Stücke, die auch einer besonderen Behandlung bedürfen“...

SPRECHERIN:

Dafür tasten in abgedunkelten Räumen Handauflagescanner die Seiten ab. Das klingt so:

Stabi_18_Atmo_Scanner

SPRECHERIN:

Oder so, wenn es sich um ein älteres Scanner-Modell handelt:

Stabi_19_Atmo_Scanner-laut (unter Text durchlaufen lassen)

SPRECHERIN:

Dabei kommt oft eine Erfindung des MDZ zur Anwendung: Die „Münchner Finger“, flach zulaufende Stäbe aus Plexiglas, beschweren die Papiere.

Das jüngste Großobjekt des MDZ war die „Tabula Palatinorum“ von Johannes Herold aus dem Jahr 1556: Ein Stammbaum der Pfälzer Linie der Wittelsbacher, der vom sagenhaften König Chlodwig bis zu Kurfürsten Friedrich II. von der Pfalz reicht, vom 6. bis ins 16. Jahrhundert. Eine Hängetafel aus auf Leinwand fixierten Blättern mit gut 4 m Länge und 1,26 m Breite. Durch Mehrfachdigitalisierung und Bildbearbeitung sorgte das Team des MDZ dafür, dass die Leser das Objekt im Ganzen abrufen können. Der Mehrwert dabei? Die hochaufgelösten Dateien lassen tiefer blicken als das Original und das menschliche Auge: Wer sich diese „Tabula Palatinorum“ auf den Bildschirm holt, kann auch noch die dünnste Schraffur in den wuchernden Ästen des Baumes erkennen. Er entdeckt unbekannte Wittelsbacher, z.B. „Dodo, Dux Bavariae“, bayerischer Herzog im Jahr 666, aber auch winzige Fehl- und Knickstellen. Das „Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung“, das im Untergeschoss der Stabi sein hochmodernes Labor hat, sorgt dafür, dass die Knicke nicht aufbrechen.

Einzelstücke wie dieser Stammbaum sind Scan-Sonderprojekte im MDZ, denn Digitalisierung muss vor allem eines können: Masse. Deshalb arbeitete das MDZ an der Entwicklung von Robotern, die das Umblättern der Seiten übernehmen.

Stabi_20_Atmo_Staubsaugerscanner (unter Text laufen lassen)

SPRECHERIN:

Was wie ein aggressiver Staubsauger klingt, war ein technischer Quantensprung: Die Bände liegen auf etwa 30° geöffnet in der Buchwiege. Ein dreieckiges Prisma fährt von oben in sie hinein und scannt beim Hochfahren beide Seiten gleichzeitig. Ein Luftstoss bläst die rechte Buchseite nach links. Das Prisma fährt wieder nach unten. Auf der Homepage der Stabi zeigt ein Zähler, dass die Bücher im Internet-Regal so täglich mehr werden: Über 3,7 Mio sind es inzwischen. Das ist ein Segen für die Originale, deren Papier wegen Säure- oder Tintenfraß zerfällt. Licht, Staub, Feuchtigkeit sind elementare Bedrohungen für jeden Band – und es ist ein Segen für die Leser! Nicht zu vergessen: Die Digitalisierung ermöglicht den Zugriff von jedem Schreibtisch der Welt aus, egal ob er in Wien steht, in Johannesburg oder in Tokio.

Stabi_20_Atmo_Staubsaugerscanner (ausfaden)

Musik: MR010690W04 Konzert für Klarinette und Orchester C-Dur, 1. Satz Allegro 1‘15

SPRECHERIN:

Doch, Moment?! Bevor man in der Staatsbibliothek scannen kann, muss die ja erst einmal gebaut werden. Wie kommt es dazu?

Aus dem Antiquarium war die Hofbibliothek nach mehreren Zwischenstationen in das „Wilhelminum“ gezogen, heute „Alte Akademie“ genannt. Der ungeliebte Pfälzer Kurfürst Karl Theodor hatte ihr dort einen ganz in Weiß gehaltenen Bibliothekssaal mit Galerie errichten lassen, mit verglasten Buchschränken unter klassizistischen Stuckaturen. Ein Schau-Objekt? Nicht nur: Diese Bibliothek hat drei Lesezimmer und zwar für alle, ohne Unterschied des Standes, wie das Münchner Intelligenzblatt im Juli 1789 verkündet. Diese Öffnung muss man vor dem Hintergrund der Französischen Revolution lesen: Wer keinen Volksaufstand riskieren will, muss an Exklusivität dreingeben. Doch warum verlassen die nun rund 71'000 Bücher und 2000 Handschriften diesen idealen Platz an der Neuhauser Gasse? Weil die Bibliothek 1802/1803 von Büchern geradezu überschwemmt wird. Man geht, so Peter Schnitzlein ...

Stabi_21_Säkularisation

„davon aus, dass circa 500'000 Bände und 20'000 Handschriften ins Haus gekommen sind, aus den Klosterbibliotheken, nachdem eben Klöster aufgelöst wurden im Zuge der Säkularisation, und die Bibliothek war nicht benutzbar.“

SPRECHERIN:

Ein Großteil der Schätze, die heute den Ruf der Bayerischen Staatsbibliothek ausmachen, fallen ihr durch Enteignung in den Schoß! Alle diese Werke müssen gesichtet, katalogisiert und aufgestellt werden, bevor man sie lesen kann! Diese Sisyphusarbeit leisten vor allem Johann Andreas Schmeller und Martin Schrettinger. Und für die Aufstellung? Muss ein Neubau her!

Musik: R0092400010 Allegro non troppo O‘31

Eigentlich schwebt König Ludwig I. dafür der Platz vis-à-vis der Glyptothek vor. So würden antike Skulpturen und Bücherschätze wieder eine Einheit, wie schon im Antiquarium. Doch dann fällt seine Wahl auf „seine“ Prachtmeile, die Ludwigstraße. Realisieren soll den Bau sein Architekt Friedrich von Gärtner, dem er ständig in die Pläne pfuscht: Er will eine glatte Fassade, keine Säulen, keinen Portikus... Resigniert präsentiert ihm Gärtner 1831 schließlich eine „langweilige Bücherkaserne“. Der König schwelgt:

Stabi_22_Ludwig_Zitat

„’Gärtner, das kann das großartigste Gebäude in München werden!’ In seinem Tagebuch hat er dann sogar noch vermerkt, zu diesem Fassadenentwurf, ‚einfach schönes Äußeres, würdevoll’.“

Musik: C1589890113 Consistent method 0‘36

SPRECHERIN:

150 Jahre später ist auch dieser riesige Blankziegelbau schon wieder zu klein! Widmanstetters 800 Bände sind angewachsen auf heute über 11 Millionen. Aber die sind jetzt allen zugänglich, weltweit! Damit verwirklicht die Stabi ein Ideal, das Widmanstetter vorgelebt hat: den von Ländergrenzen, Religionen und Ideologien ungehinderten Zugang von Forschenden und Wissenschaftlern!

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Man schreibt das Jahr 1558: Die drei Töchter eines Johann Albrecht Widmanstetter bieten den Nachlass ihres im Vorjahr verstorbenen Vaters feil. Wer war denn dieser ...

Stabi_02_ Widmanstadii

„Johannes Albertus Widmanstadii“

SPRECHERIN:

... fragen wir Prof. Stefan Wimmer, Experte für den Gründungsbestand der „BSB“ oder „Stabi“, wie die Bibliothek zungenfertig abgekürzt wird:

Stabi_03_Vita

„Er kam aus einem Dorf, Nellingen bei Ulm, aus einfachen Verhältnissen, sehr viel weiß man dazu nicht, aber man weiß, dass sein Dorfpfarrer sein Talent für Sprachen entdeckt hat, und ihm Latein und Griechisch beigebracht hat, er konnte dann an verschiedenen Universitäten, Tübingen, Heidelberg und anderen studieren, und ist zu einem Sprachgenie geworden, hat sich vor allem auf orientalische Sprachen spezialisiert, ist deshalb auch ein Wegbereiter der Wissenschaft geworden, die wir Orientalistik nennen, das Studium der Sprachen des nahen und mittleren Ostens, und war ein typischer Renaissancegelehrter, der sich mit allen Zweigen des Gelehrtentums befasst hat, mit Jura, er war von Beruf ja auch Rechtsgelehrter, er war Diplomat in verschiedensten Diensten, bis hinauf zum König Ferdinand, der dann Kaiser wurde, bei zwei Päpsten war er in diplomatischen Diensten, bei Herzog Ludwig X. von Bayern, in Landshut, und war also ein sehr viel beschäftigter Mann.“

Musik: ZR003960111 Vinci für Orgel 1‘00

SPRECHERIN:

In diesem Leben zwischen Tübingen und dem Vatikan, zwischen Basel, Neapel und Wien sammelt sich einiges in Truhen, Kästen und Kisten, denn die Forscher der Renaissance pflegen ihre akademischen Beziehungen länderübergreifend: Widmanstetter korrespondiert beispielsweise nach Rom mit dem Kardinal Egidio da Viterbo, dem Generaloberen des Augustinerordens. Über Viterbo hat Widmanstetter auch Kontakt mit Elias Levita, einem jüdischen Gelehrten aus Neustadt an der Aisch, der den Kardinal in Aramäisch und Hebräisch unterrichtet, damit der den Talmud und das Alte Testament erforschen kann. Religiöse Animositäten? Mitnichten, wie ein Brief von Levita aus dem Jahr 1538 beweist.

Stabi_04_Brief 37:60

„Da steht als Adresse – es beginnt in aramäischer Sprache und geht dann Hebräisch weiter, .... (hier im Original der Brief) Das heißt ‚zu Händen des großen und teuren Herrn, bei dem die Erleuchtung wohnt“ ... (hier weiter im Original) „das ist mein teurer Herr Jochanan, also Johannes Widmannstetter ist gemeint. Drunter steht me Venezia ... (hier weiter im Original bis „ve shalom“) „Aus Venedig der großen Stadt nach Rom, Fürstin der Länder, und Shalom – Frieden!“

Musik: ZE001630114 Canzon prima für Cembalo 0‘53

SPRECHERIN:

Der Wittelsbacher Herzog Albrecht V., genannt der Prächtige, ist ein Sammler: Antike Skulpturen und Münzen, Gemälde, edle Rosse, venezianisches Glas, Preziosen für seine Wunderkammer UND Bücher! Wie alle Renaissancefürsten stellt er durch die Präsentation kostbarer Objekte seinen Anspruch auf Königs- und Kaiserwürden klar. Folgerichtig bieten ihm Widmanstetters Töchter den Nachlass ihres Vaters an. Dessen Einzigartigkeit aber erschließt sich Albrecht nicht: Er lehnt den Kauf ab!

Erst als der bibliophile Gelehrte Johann Jakob Fugger ihm klar macht, dass Widmanstetter einen einmaligen Bestand an orientalischen Handschriften und Drucken hortete, besinnt er sich: Die Karriere der Stabi beginnt.

Stabi_05_Kauf:

Der Herzog hat dann 1000 Gulden gezahlt, nicht auf einmal, sondern über mehrere Jahre und verzinst, und diese Bibliothek dann zum Grundbestand seiner neuen herzoglichen Bibliothek gemacht, der Hofbibliothek, aus der die Bayerische Staatsbibliothek geworden ist.“

SPRECHERIN:

Bibliotheken neigen zum Wachstum. So auch die von Widmanstetter, die Herzog Albrecht ins ‚alte Gewölb’, das Archiv im Kanzleigebäude des Alten Hofs in München, bringen lässt. Der „Prächtige“ ergattert bald die nächste Sammlung: Sie gehört ausgerechnet seinem künstlerischen Berater Johann Jakob Fugger. Der muss Bankrott anmelden, da die spanische Krone die Tilgung ihrer hohen Kredite aus Augsburg schuldig bleibt. Bayern profitiert von dem Fiasko: Fuggers Sammlung, 10'000 Bände etwa, ist epochal, so Claudia Bubenik, die das Referat „Alte und Seltene Drucke“ leitet:

Stabi 07_Fuggersammlung

In seiner Sammlung verbergen sich seltenste Drucke auch des 16. Jahrhunderts, wie eine Ausgabe von Gilles Corrozet, die Hecatomgraphie, ein 1543 in Paris gedrucktes Werk, das also auch noch die alte Signatur der Hofbibliothek trägt ‚statio 7, die Nummer 31’.

Musik: ZE013680108 Ricercar für Cembalo 0‘52

SPRECHERIN:

Neben alten Handschriften hat Fugger alles gesammelt, was damals aktuell auf den Markt kam, die Neuerscheinungen quasi: Pierre Belons Vogelkunde, 1557 in Paris gedruckt, oder Juan di Isíars Anleitung zur Kalligraphie, Saragossa 1548, die „Carta Marina“ des Bischofs Olaus Magnus, gedruckt in Rom 1539 ... Last but not least gehört Fugger die nachgelassene Bibliothek des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel, inklusive seines Hand-Exemplars der „Weltchronik“.

Natürlich zieht der exquisite Erwerb eine ganze Reihe Folgekosten für Albrecht V. nach sich:

Stabi_08_Buchbinden

„Die Bände waren ja damals nicht gebunden auf dem Markt erhältlich, sondern in Lagen und das heißt, je nach Geldbeutel des neuen Besitzers, ließ dieser sich die Bände in prächtigen Einbänden binden oder eben in einfachen Pergamenteinbänden oder einem Coperteinband und es liegen zum Teil auch noch Unterlagen vor im Archiv, aus denen hervorgeht, welcher Buchbinder für wie viel Geld wie viele Bände bekam zum Einbindenlassen.“

SPRECHERIN:

Längst reicht ein Archivar wie Erasmus Fendt zur Betreuung der Sammlung nicht mehr aus: Ein Bibliothekar muss engagiert werden.

Stabi_09_ Örtel

Der erste Bibliothekar von dem es auch eine offizielle Bestallungsurkunde gab, war Egidius Örtel, der 1561 angestellt wurde, und die sogenannte ‚liberey’ zu verwalten hatte. Von ihm liegt auch der erste oder älteste Katalog der Hofbibliothek vor, zu den dialecticae ed grammaticae, leider nur als Fragment ...

Stabi_10_Prommer

Prägend für die Hofbibliothek war aber Wolfgang Prommer. Prommer kam aus Landsberg am Lech und wurde 1562 von Johann Jakob Fugger für seine Bibliothek eingestellt und kam, als Fugger seine Sammlung 1571 an Albrecht V. veräußern musste, mit der Bibliothek in die Hofbibliothek und hat dort sofort begonnen, diese Masse an 10'000 Bänden, die da plötzlich hereinschwappten, zu ordnen, aufzustellen und zu katalogisieren.

Musik: ZE001630110 Amarilli mi abella 0‘37

SPRECHERIN:

Von „seinen“ Büchern untrennbar wechselt Prommer Ort und Auftraggeber! Auch sein Katalog ist in Teilen erhalten und zeigt seine penible Arbeitsweise.

Die höchsten Folgekosten von Albrechts Ankauf sind räumlicher Natur: Das Kanzleigebäude im Alten Hof fasst Fuggers Büchermengen nicht! Die „liberej“ zieht um: in das von dem Kunstagenten Jacopo Strada entworfene und vom Augsburger Stadtbaumeister Simon Zwitzel errichtete „Antiquarium“. Im oberen Stock dieses ersten Museumsbaus nördlich der Alpen werden ihre Bände als Saalbibliothek entlang der Wände in Regalen aufgestellt und ergänzen so die Antikensammlung im Erdgeschoss: Eine ideale Umsetzung des Bildungsideals der Renaissance und für Albrecht zugleich die Chance, mit kostbaren Einbänden zu glänzen.

Zugänglich aber ist diese Bibliothek nur der Oberschicht: dem Hof und seinen adeligen Eliten. Später sind auch Jesuitenobere, Verwaltungsbeamte und Gelehrte zugelassen.

Nicht alles, was Albrecht angekauft hat, dürfen sie lesen. Sein Sohn, Wilhelm V., ordnet eine Revision an: Prommer muss anstößige, vor allem aber anti-katholische Werke aussortieren. Ziel jeglichen Bücherstudiums soll die Stärkung und Verteidigung des katholischen Glaubens gegen Luthers Lehre sein. Nicht umsonst trägt dieser Wittelsbacher den Beinamen „der Fromme“.

Musik: ZE001630110 Amarilli mi abella 0‘39

SPRECHERIN:

Werke von Melanchton, Calvin, Osiander usw. gelten als häretisch. Doch werden sie nur ab- und nicht ausgeschieden und zwar in einen Raum, zu dem Wilhelm V. den Schlüssel hat. Rund 600 geistliche Werke mit 1500 Schriften fallen darunter.

SPRECHERIN:

Man erkennt sie daran, dass Prommer KEINE neue Signatur in roter Tinte im Vorderdeckel anbringt. Wer sie erforscht, braucht auch heute eine Sondergenehmigung: Nicht, weil sie auf dem Index stehen, sondern weil sie unersetzliches Kulturgut sind.

Musik: Z8026958106 Nature existence 0‘33

Das studiert man im ersten Stock des Südflügels. Hinter einem gut bewachten Drehkreuz liegt der Handschriftenlesesaal. Mit Blei gefüllte Samtschlagen hängen zur Beschwerung der Seiten über hölzernen Buchwiegen. Weiße Handschuhe liegen bereit. Am „Tresortisch“ in der Nordostecke des Saals liest man die wertvollsten Werke unter den strengen, in Öl gemalten Augen von Johann Andreas Schmeller:

Stabi_11_größterBiblio

„der mit Fug und Recht als größter Bibliothekar des 19. Jahrhunderts der Hof- und Staatsbibliothek bezeichnet werden kann“...

SPRECHERIN:

... so Wolfgang Ikas, Leiter des Referats „Handschriften und Benutzung“. Neben Schmellers Porträt sitzt der Benediktinermönch Bruder Willibaldus, alias Martin Schrettinger, im Goldrahmen. Bevor sein Kloster Weißenohe der Säkularisierung zum Opfer fällt, geht er als Hofbibliothekar nach München, wo er heute als Begründer der Wissenschaft vom Bibliothekswesen gilt. Kritisch beäugt von diesen verdienten Vorläufern öffnet Wolfgang Ikas ein grünes Kästchen. Passgenau eingebettet liegen zwei Tontäfelchen und vier Ton-Kegel darin. Im Jahr 2034 v. Chr. drückte ein Schreiber die waagrechten, senkrechten und schrägen Dreiecke in den frischen Ton:

Stabi_12_Tontafel

„Da handelt es sich um eine Abrechnung über 183 Tonnen Getreide, die geerntet und zu Mehl verarbeitet worden sind.“

SPRECHERIN:

Vor über 4050 Jahren! Uralt auch der Kegel, den Herr Ikas zwischen seinen behandschuhten Fingern hält.

Stabi_13_Tonkegel

„Da handelt es sich um Schafe, die für einen Götterkult am Tempel abgegeben wurden, und entsprechend weiterverarbeitet wurden. Das stammt aus dem Jahr 2046 vor Christi Geburt.“

Musik: ZR005190101 Tempus transit 0‘47

SPRECHERIN:

Viel jünger als diese Keilschriften, weitaus poetischer, ja geradezu identitätsstiftend für Bayern sind die „Carmina Burana“, die die Stabi hütet, das „Wessobrunner Gebet“ oder der „Tegernseer Liebesgruß“, den ein Benediktiner Ende des 12. Jahrhunderts zwischen die lateinischen Seiten einer Handschrift aus dem Tegernseer Kloster schreibt. Dieses Einsprengsel ist wohl das älteste Liebesgedicht in deutscher Sprache – ein Sprachdenkmal.

Stabi_14_Liebesgruß

Du bist min, ich bin din,

Du bist mein, ich bin dein, dessen sollst du gewiss sein, du bist eingeschlossen in meinem Herzen, verloren ist das Schlüsselchen, du musst auf immer darin sein.

SPRECHERIN:

Auch Weltdokumentenerbe der UNESCO birgt die Stabi, nämlich die „Leithandschrift A“ des Nibelungenliedes, die früher als die älteste Abschrift dieser Dichtung angesehen wurde, außerdem die Handschrift „D“, die Wiguläus Hundt, Kanzler von Albrecht V., im 16. Jahrhundert auf Burg Prunn im Altmühltal entdeckt.

Stabi_15_Leithandschriften

„Sie ist zwar textlich nicht so bedeutend, wie die drei Leithandschriften, aber sie ist wunderschön illuminiert ...“

SPRECHERIN:

Wie ihre Paarreime klingen, weiß Herr Ikas natürlich auch:

Stabi_16_Nibelungenlied

„Uns ist in alten mæren wunders vil geseit /

von helden lobebæren, von grôzer arebeit,

von fröuden hôchgezîten, von weinen und von klagen,

von küener recken strîten muget ir nun wunder hœren sagen.“

Musik: Z8034319124 Cans and computers (c) 0‘58

SPRECHERIN:

Wer diese Handschrift mit ihren verspielten Initialen in Rot, Blau, Grün und Gold durchblättern will, braucht weder Handschuhe, noch eine Genehmigung. Selbst die Sigle „CGM 31“ muss er nicht wissen. Es reicht, „digitale-sammlungen.de“ in eine Suchmaschine einzugeben und „Prunner Codex“ in das Feld mit der Lupe, das dann aufleuchtet: Schwupp, erscheint der abblätternde Ledereinband aus dem 14. Jahrhundert auf dem Bildschirm. Komplett. Samt den Messingschließen, die seine 350 Seiten eng zusammenhalten, damit kein Staub zwischen die Blätter dringt und kein Papierfischchen! Um die Schließen zu öffnen, muss man nicht mit der Faust auf den Buchdeckel schlagen, wie beim Original: Der Cursor erledigt das mit einem Mausklick. Er kann das, weil im Erdgeschoss des Südflügels das „Münchener Digitalisierungszentrum“, kurz MDZ, wirkt. Es löst 1997 die „Fotostelle“ ab, in der Bücher seitenweise „abgeknipst“ wurden, um sie den Lesern zu erhalten. Inzwischen hat die Stabi drei Einheiten zur Digitalisierung, so Martin Hermann, der das Referat Digitale Bibliothek leitet.

Stabi_17_Digital

„Das beschäftigt sich vor allem mit der Digitalisierung der hochwertigen, seltenen, unikalen Stücke, die auch einer besonderen Behandlung bedürfen“...

SPRECHERIN:

Dafür tasten in abgedunkelten Räumen Handauflagescanner die Seiten ab. Das klingt so:

Stabi_18_Atmo_Scanner

SPRECHERIN:

Oder so, wenn es sich um ein älteres Scanner-Modell handelt:

Stabi_19_Atmo_Scanner-laut (unter Text durchlaufen lassen)

SPRECHERIN:

Dabei kommt oft eine Erfindung des MDZ zur Anwendung: Die „Münchner Finger“, flach zulaufende Stäbe aus Plexiglas, beschweren die Papiere.

Das jüngste Großobjekt des MDZ war die „Tabula Palatinorum“ von Johannes Herold aus dem Jahr 1556: Ein Stammbaum der Pfälzer Linie der Wittelsbacher, der vom sagenhaften König Chlodwig bis zu Kurfürsten Friedrich II. von der Pfalz reicht, vom 6. bis ins 16. Jahrhundert. Eine Hängetafel aus auf Leinwand fixierten Blättern mit gut 4 m Länge und 1,26 m Breite. Durch Mehrfachdigitalisierung und Bildbearbeitung sorgte das Team des MDZ dafür, dass die Leser das Objekt im Ganzen abrufen können. Der Mehrwert dabei? Die hochaufgelösten Dateien lassen tiefer blicken als das Original und das menschliche Auge: Wer sich diese „Tabula Palatinorum“ auf den Bildschirm holt, kann auch noch die dünnste Schraffur in den wuchernden Ästen des Baumes erkennen. Er entdeckt unbekannte Wittelsbacher, z.B. „Dodo, Dux Bavariae“, bayerischer Herzog im Jahr 666, aber auch winzige Fehl- und Knickstellen. Das „Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung“, das im Untergeschoss der Stabi sein hochmodernes Labor hat, sorgt dafür, dass die Knicke nicht aufbrechen.

Einzelstücke wie dieser Stammbaum sind Scan-Sonderprojekte im MDZ, denn Digitalisierung muss vor allem eines können: Masse. Deshalb arbeitete das MDZ an der Entwicklung von Robotern, die das Umblättern der Seiten übernehmen.

Stabi_20_Atmo_Staubsaugerscanner (unter Text laufen lassen)

SPRECHERIN:

Was wie ein aggressiver Staubsauger klingt, war ein technischer Quantensprung: Die Bände liegen auf etwa 30° geöffnet in der Buchwiege. Ein dreieckiges Prisma fährt von oben in sie hinein und scannt beim Hochfahren beide Seiten gleichzeitig. Ein Luftstoss bläst die rechte Buchseite nach links. Das Prisma fährt wieder nach unten. Auf der Homepage der Stabi zeigt ein Zähler, dass die Bücher im Internet-Regal so täglich mehr werden: Über 3,7 Mio sind es inzwischen. Das ist ein Segen für die Originale, deren Papier wegen Säure- oder Tintenfraß zerfällt. Licht, Staub, Feuchtigkeit sind elementare Bedrohungen für jeden Band – und es ist ein Segen für die Leser! Nicht zu vergessen: Die Digitalisierung ermöglicht den Zugriff von jedem Schreibtisch der Welt aus, egal ob er in Wien steht, in Johannesburg oder in Tokio.

Stabi_20_Atmo_Staubsaugerscanner (ausfaden)

Musik: MR010690W04 Konzert für Klarinette und Orchester C-Dur, 1. Satz Allegro 1‘15

SPRECHERIN:

Doch, Moment?! Bevor man in der Staatsbibliothek scannen kann, muss die ja erst einmal gebaut werden. Wie kommt es dazu?

Aus dem Antiquarium war die Hofbibliothek nach mehreren Zwischenstationen in das „Wilhelminum“ gezogen, heute „Alte Akademie“ genannt. Der ungeliebte Pfälzer Kurfürst Karl Theodor hatte ihr dort einen ganz in Weiß gehaltenen Bibliothekssaal mit Galerie errichten lassen, mit verglasten Buchschränken unter klassizistischen Stuckaturen. Ein Schau-Objekt? Nicht nur: Diese Bibliothek hat drei Lesezimmer und zwar für alle, ohne Unterschied des Standes, wie das Münchner Intelligenzblatt im Juli 1789 verkündet. Diese Öffnung muss man vor dem Hintergrund der Französischen Revolution lesen: Wer keinen Volksaufstand riskieren will, muss an Exklusivität dreingeben. Doch warum verlassen die nun rund 71'000 Bücher und 2000 Handschriften diesen idealen Platz an der Neuhauser Gasse? Weil die Bibliothek 1802/1803 von Büchern geradezu überschwemmt wird. Man geht, so Peter Schnitzlein ...

Stabi_21_Säkularisation

„davon aus, dass circa 500'000 Bände und 20'000 Handschriften ins Haus gekommen sind, aus den Klosterbibliotheken, nachdem eben Klöster aufgelöst wurden im Zuge der Säkularisation, und die Bibliothek war nicht benutzbar.“

SPRECHERIN:

Ein Großteil der Schätze, die heute den Ruf der Bayerischen Staatsbibliothek ausmachen, fallen ihr durch Enteignung in den Schoß! Alle diese Werke müssen gesichtet, katalogisiert und aufgestellt werden, bevor man sie lesen kann! Diese Sisyphusarbeit leisten vor allem Johann Andreas Schmeller und Martin Schrettinger. Und für die Aufstellung? Muss ein Neubau her!

Musik: R0092400010 Allegro non troppo O‘31

Eigentlich schwebt König Ludwig I. dafür der Platz vis-à-vis der Glyptothek vor. So würden antike Skulpturen und Bücherschätze wieder eine Einheit, wie schon im Antiquarium. Doch dann fällt seine Wahl auf „seine“ Prachtmeile, die Ludwigstraße. Realisieren soll den Bau sein Architekt Friedrich von Gärtner, dem er ständig in die Pläne pfuscht: Er will eine glatte Fassade, keine Säulen, keinen Portikus... Resigniert präsentiert ihm Gärtner 1831 schließlich eine „langweilige Bücherkaserne“. Der König schwelgt:

Stabi_22_Ludwig_Zitat

„’Gärtner, das kann das großartigste Gebäude in München werden!’ In seinem Tagebuch hat er dann sogar noch vermerkt, zu diesem Fassadenentwurf, ‚einfach schönes Äußeres, würdevoll’.“

Musik: C1589890113 Consistent method 0‘36

SPRECHERIN:

150 Jahre später ist auch dieser riesige Blankziegelbau schon wieder zu klein! Widmanstetters 800 Bände sind angewachsen auf heute über 11 Millionen. Aber die sind jetzt allen zugänglich, weltweit! Damit verwirklicht die Stabi ein Ideal, das Widmanstetter vorgelebt hat: den von Ländergrenzen, Religionen und Ideologien ungehinderten Zugang von Forschenden und Wissenschaftlern!

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