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Mircea Cărtărescu – Melancolia

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Melancholie ist etwas anderes als Trauer. Sie kennt keinen Anlass, ähnelt mehr einer bleiernen Schwermut, wird befeuert von lebensmüder Selbstbeschau und erzeugt einen immer präsenten Schmerz, dessen Ursache sich nicht benennen lässt. Zugleich ist sie sanft, hat fast etwas von einer Droge, die fortdauernd wirkt und die Aufmerksamkeit nicht auf das Glück, sondern auf die Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit lenkt. Melancholie entsteht zuweilen, wenn wir von etwas Abschied genommen haben – und der Vergangenheit sehnsüchtig nachhängen. „Seit Mutter zum Einkaufen gegangen war, hatten die Jahreszeiten sich schon mehrfach wiederholt. Wie kleine oder große Zahnräder griffen die Augenblicke des Tages und die Augenblicke des Jahres, allesamt im gleichen Mechanismus von Farbigkeit und Schatten, Klarheit und Eintrübung, ineinander und führten dem Kind die abenteuerlichsten Kombinationen des Lichts vor Augen, die man sich vorstellen konnte.“ Das Kind in Mircea Cărtărescus Erzählung „Stege“ ist nur wenige Jahre alt. Die Mutter geht wie üblich morgens aus dem Haus eines Wohnblocks, nur kehrt sie diesmal nicht zurück. Wochen, Monate, Jahre vergehen. Das Kind lernt die Einsamkeit kennen, erfährt zum ersten Mal das Verlassensein als Rausch von Angst und Aufbruch. Eines Nachts tauchen Stege wie aus „fahl-goldenem Licht“ auf, die von den weit geöffneten Fenstern und Türen der Wohnung über die Häuser hinweg zu anderen Gebäuden führen, zur Kautschukfabrik und zu einem alten Kaufhaus. Der Junge wagt sich hinaus, überwindet sein Unbehagen, sieht in den Maschinen der Fabrik „melancholische Monster“, schlüpft in einen riesigen Schokoladenleib, in dem er seine Mutter erkennt. „Dann stieg er eine nach der anderen die Korallenstufen des Schlafs hinab und hielt immer wieder kurz inne, wie es die Taucher tun, wenn sie sich in die abgründigen Meerestiefen hinabgleiten lassen.“ Bis die Mutter schließlich mit ihren Einkaufstaschen doch wieder in der Tür steht. Und der Spuk – vorläufig – ein Ende findet. „Die Mutter legt ihre geröteten Hände auf die kleinen Schultern, und so verharren sie beide dort, auf der letzten Stufe des Schlafs, wie sie es stets getan haben, wie sie es immerzu halten werden.“ In phantasmagorischen Bildwelten, in Traumgespinsten lässt Mircea Cărtărescu seine kindlichen Helden sprachgewaltig versinken. Drei lange Erzählungen sowie Pro- und Epilog versammelt der rumänische Wortmagier in dem Band „Melancolia“. Dieser Zyklus steht seinem letzten großen Roman „Solenoid“ nahe. Aber er ähnelt auch früheren Werken, sowohl in der Wahl von Motiven, Requisiten wie auch von Schauplätzen in jenem grauen sozialistischen Bukarest der 70er Jahre mit Plattenbausiedlungen und den verfallenden bürgerlichen Fassaden. Aber man muss diese früheren Bücher nicht gelesen haben, um in die fein gewebten Traum- und Albtraumsphären, die Visionen und Unterwelten von „Melancolia“ einzudringen. Es werden darin symbolisch aufgeladene Bilder für jenen schwebenden Zustand des Übergangs gefunden, in dem sich Kinder befinden. Diese Bilder sind selten ganz entzifferbar, aber immer sind sie sinnlich und von einer aufdringlichen körperlichen Präsenz, atmend und unwiderstehlich und bedrohlich, wie die Sexualität, die Ivan und das Mädchen Dora in der Erzählung „Häute“ förmlich auf der abgestreiften Haut ertasten. „Dora studierte die zwischen ihnen liegende Haut, sie entzifferte die Karte der Muttermale und der Haarfädchen, die Schrammen an den Knien, die Abdrücke von Erhebungen und Kurven der ehemaligen Gliedmaßen, Schultern und Hüftknochen. Sie las dies wie eine Blinde, fuhr mit den Fingerspitzen über alle Unebenheiten, ermittelte die Dicke und die Geschmeidigkeit jenes Pergaments, keuchte vor Lust erregt, während ihr Streicheln immer beherzter wurde.“ Der pubertierende Ivan versucht, dem Geheimnis seiner wie Kleider abgelegten Häute auf die Spur zu kommen, und dem Geheimnis der Frauen, die anscheinend auf andere Weise, schambehafteter und ursprünglicher, aus sich herausschlüpfen, sich entpuppen: Es ist ein Kosmos aus schokoladenen Insekten, düsteren Wohnungen, angstbesetzten Initiationen, schaurig-verlockenden Erkundungsgängen ins Unbewusste, abgründigen Reisen zum Mittelpunkt der Poesie, Subtexten des Begehrens, mit dem die aus ihrer Kinderhaut schlüpfenden Teenager konfrontiert sind, hilflos und fast ohne elterliche Aufsicht und gefangen in einer „gnadenlosen Einsamkeit“ Um Abschied, Trennung, Verlust und die Melancholie der verlorenen Kindheit geht es auch in der Erzählung „Die Füchse“. Die Geschwister Marcel und Isabel sehen ihre trostreichen nächtlichen Spiele in ein Spiel auf Leben und Tod verwandelt: Unter der Bettdecke erschaffen sie sich eine Höhle, die sie gegen räuberische Füchse verteidigen müssen. Aber dann geschieht etwas Unbegreifliches: Isabel erkrankt, und Marcel führt mutterseelenallein einen Kampf gegen das Unheimliche, um die Schwester zu retten. Das magische Spiel der Kinder wird zu einem Albtraum und der Feind zu einem nicht fassbareren „Fremden“ „Wieder standen sie sich gegenüber, wie in der Nacht, als der Fuchs ihm die Schwester geraubt hatte. An der Stelle seiner Augen befanden sich wieder diese unmenschlichen, über das halbe Gesicht reichenden Augen, die nichts als gigantische Pupillen waren. Und wieder musste er jenes finstere Lächeln ertragen, das grausame Siegel der Melancholie.“ „Melancolia“ ist ein in jeglicher Hinsicht phantastischer Band, irgendwo zwischen Kafka und Jorge Luis Borges: Er umfasst eine ins Surreale getauchte Zwischenwelt, die Beschreibung von Metamorphosen, die uns allen bekannt sind, von denen wir aber so noch nie gelesen haben, von Nächten der Adoleszenz… „… die du dann mit einer äußerst beständigen Melancholie behaftet durch sämtliche Jahreszeiten und Landschaften deines Lebens mit dir mitträgst.“ Was die Kindheit in unterschiedlichen Stadien mit uns anstellt, wie die Schwermut unser Gemüt erobert, das erzählt Cărtărescu in einer überbordenden Sprache, die von Ernest Wichner grandios ins Deutsche gebracht wurde.
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Melancholie ist etwas anderes als Trauer. Sie kennt keinen Anlass, ähnelt mehr einer bleiernen Schwermut, wird befeuert von lebensmüder Selbstbeschau und erzeugt einen immer präsenten Schmerz, dessen Ursache sich nicht benennen lässt. Zugleich ist sie sanft, hat fast etwas von einer Droge, die fortdauernd wirkt und die Aufmerksamkeit nicht auf das Glück, sondern auf die Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit lenkt. Melancholie entsteht zuweilen, wenn wir von etwas Abschied genommen haben – und der Vergangenheit sehnsüchtig nachhängen. „Seit Mutter zum Einkaufen gegangen war, hatten die Jahreszeiten sich schon mehrfach wiederholt. Wie kleine oder große Zahnräder griffen die Augenblicke des Tages und die Augenblicke des Jahres, allesamt im gleichen Mechanismus von Farbigkeit und Schatten, Klarheit und Eintrübung, ineinander und führten dem Kind die abenteuerlichsten Kombinationen des Lichts vor Augen, die man sich vorstellen konnte.“ Das Kind in Mircea Cărtărescus Erzählung „Stege“ ist nur wenige Jahre alt. Die Mutter geht wie üblich morgens aus dem Haus eines Wohnblocks, nur kehrt sie diesmal nicht zurück. Wochen, Monate, Jahre vergehen. Das Kind lernt die Einsamkeit kennen, erfährt zum ersten Mal das Verlassensein als Rausch von Angst und Aufbruch. Eines Nachts tauchen Stege wie aus „fahl-goldenem Licht“ auf, die von den weit geöffneten Fenstern und Türen der Wohnung über die Häuser hinweg zu anderen Gebäuden führen, zur Kautschukfabrik und zu einem alten Kaufhaus. Der Junge wagt sich hinaus, überwindet sein Unbehagen, sieht in den Maschinen der Fabrik „melancholische Monster“, schlüpft in einen riesigen Schokoladenleib, in dem er seine Mutter erkennt. „Dann stieg er eine nach der anderen die Korallenstufen des Schlafs hinab und hielt immer wieder kurz inne, wie es die Taucher tun, wenn sie sich in die abgründigen Meerestiefen hinabgleiten lassen.“ Bis die Mutter schließlich mit ihren Einkaufstaschen doch wieder in der Tür steht. Und der Spuk – vorläufig – ein Ende findet. „Die Mutter legt ihre geröteten Hände auf die kleinen Schultern, und so verharren sie beide dort, auf der letzten Stufe des Schlafs, wie sie es stets getan haben, wie sie es immerzu halten werden.“ In phantasmagorischen Bildwelten, in Traumgespinsten lässt Mircea Cărtărescu seine kindlichen Helden sprachgewaltig versinken. Drei lange Erzählungen sowie Pro- und Epilog versammelt der rumänische Wortmagier in dem Band „Melancolia“. Dieser Zyklus steht seinem letzten großen Roman „Solenoid“ nahe. Aber er ähnelt auch früheren Werken, sowohl in der Wahl von Motiven, Requisiten wie auch von Schauplätzen in jenem grauen sozialistischen Bukarest der 70er Jahre mit Plattenbausiedlungen und den verfallenden bürgerlichen Fassaden. Aber man muss diese früheren Bücher nicht gelesen haben, um in die fein gewebten Traum- und Albtraumsphären, die Visionen und Unterwelten von „Melancolia“ einzudringen. Es werden darin symbolisch aufgeladene Bilder für jenen schwebenden Zustand des Übergangs gefunden, in dem sich Kinder befinden. Diese Bilder sind selten ganz entzifferbar, aber immer sind sie sinnlich und von einer aufdringlichen körperlichen Präsenz, atmend und unwiderstehlich und bedrohlich, wie die Sexualität, die Ivan und das Mädchen Dora in der Erzählung „Häute“ förmlich auf der abgestreiften Haut ertasten. „Dora studierte die zwischen ihnen liegende Haut, sie entzifferte die Karte der Muttermale und der Haarfädchen, die Schrammen an den Knien, die Abdrücke von Erhebungen und Kurven der ehemaligen Gliedmaßen, Schultern und Hüftknochen. Sie las dies wie eine Blinde, fuhr mit den Fingerspitzen über alle Unebenheiten, ermittelte die Dicke und die Geschmeidigkeit jenes Pergaments, keuchte vor Lust erregt, während ihr Streicheln immer beherzter wurde.“ Der pubertierende Ivan versucht, dem Geheimnis seiner wie Kleider abgelegten Häute auf die Spur zu kommen, und dem Geheimnis der Frauen, die anscheinend auf andere Weise, schambehafteter und ursprünglicher, aus sich herausschlüpfen, sich entpuppen: Es ist ein Kosmos aus schokoladenen Insekten, düsteren Wohnungen, angstbesetzten Initiationen, schaurig-verlockenden Erkundungsgängen ins Unbewusste, abgründigen Reisen zum Mittelpunkt der Poesie, Subtexten des Begehrens, mit dem die aus ihrer Kinderhaut schlüpfenden Teenager konfrontiert sind, hilflos und fast ohne elterliche Aufsicht und gefangen in einer „gnadenlosen Einsamkeit“ Um Abschied, Trennung, Verlust und die Melancholie der verlorenen Kindheit geht es auch in der Erzählung „Die Füchse“. Die Geschwister Marcel und Isabel sehen ihre trostreichen nächtlichen Spiele in ein Spiel auf Leben und Tod verwandelt: Unter der Bettdecke erschaffen sie sich eine Höhle, die sie gegen räuberische Füchse verteidigen müssen. Aber dann geschieht etwas Unbegreifliches: Isabel erkrankt, und Marcel führt mutterseelenallein einen Kampf gegen das Unheimliche, um die Schwester zu retten. Das magische Spiel der Kinder wird zu einem Albtraum und der Feind zu einem nicht fassbareren „Fremden“ „Wieder standen sie sich gegenüber, wie in der Nacht, als der Fuchs ihm die Schwester geraubt hatte. An der Stelle seiner Augen befanden sich wieder diese unmenschlichen, über das halbe Gesicht reichenden Augen, die nichts als gigantische Pupillen waren. Und wieder musste er jenes finstere Lächeln ertragen, das grausame Siegel der Melancholie.“ „Melancolia“ ist ein in jeglicher Hinsicht phantastischer Band, irgendwo zwischen Kafka und Jorge Luis Borges: Er umfasst eine ins Surreale getauchte Zwischenwelt, die Beschreibung von Metamorphosen, die uns allen bekannt sind, von denen wir aber so noch nie gelesen haben, von Nächten der Adoleszenz… „… die du dann mit einer äußerst beständigen Melancholie behaftet durch sämtliche Jahreszeiten und Landschaften deines Lebens mit dir mitträgst.“ Was die Kindheit in unterschiedlichen Stadien mit uns anstellt, wie die Schwermut unser Gemüt erobert, das erzählt Cărtărescu in einer überbordenden Sprache, die von Ernest Wichner grandios ins Deutsche gebracht wurde.
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