Artwork

Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.
Player FM - Podcast-App
Gehen Sie mit der App Player FM offline!

Der Traum vom Weltfrieden - Der chinesische Utopist Kang Youwei

23:07
 
Teilen
 

Manage episode 394230103 series 2558490
Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.

Eine Weltgemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit, ohne Diskriminierung und Ausbeutung, ohne Hierarchien und Grenzen. Diese Utopie hat der Philosoph und Reformer Kang Youwei um 1900 in China niedergeschrieben. Seiner Zeit weit voraus schuf er eine Philosophie, die zum Weltfrieden führen sollte. Autor: Thomas Grasberger (BR 2021)

Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Friedrich Schloffer
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Thomas Heberer (Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen)
Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:

Frieden - Persönliche Sehnsucht - Politische Utopie
JETZT ANHÖREN

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Musik: M0007510001 Imperial city 1‘00

Erzähler

Als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Dezember 2018 zum Staatsbesuch in die Volksrepublik China reiste, stand auf dem Programm auch ein Besuch der Sichuan-Universität in Chengdu. In seiner Rede appellierte Steinmeier an die Studierenden:

Zitator

„Nutzen Sie das, wofür Generationen gekämpft haben – eine globale Ordnung, die Frieden und Zusammenarbeit erst möglich macht!“

Erzähler

In einer Zeit, in der nationale Egoismen und Konflikte weltweit auf dem Vormarsch sind, erinnert der deutsche Bundespräsident also an das Gemeinsame. Und zitiert einen chinesischen Gelehrten namens Kang Youwei, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Schrift verfasst hat.

Das „Datongshu“, die Utopie einer „Großen Gemeinschaft“,

Zitator

„die die Grenzen von Nation, Rasse, Geschlecht und Hierarchie überwindet.“

Erzählerin:

Den Studierenden der Sichuan-Universität dürfte der Name Kang Youwei geläufig gewesen sein. Schließlich gilt er als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des modernen China. Manche sehen in ihm gar den „Martin Luther der konfuzianischen Lehre“. Und Chinas Parteichef Xi Jinping lobt Kang immer wieder als einen fortschrittlichen Denker.

ZSP 1 aktuell in China 0,20

In China ist Kang Youwei und sein Begriff des "Datong" Gegenstand der permanenten Auseinandersetzung über ein neues Wertesystem, ein innerchinesisches Wertesystem, aber auch ein globales Wertesystem. Nur bei uns spielt diese Debatte in China keine Rolle, weil sie auch gar nicht bekannt ist.

Erzähler:

Deshalb hat Thomas Heberer, Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen, die Schrift von Kang Youwei neu herausgegeben: „Datongshu“ - „Das Buch von der Großen Gemeinschaft“ sucht Antworten auf höchst aktuelle Fragen.

Erzählerin:

Wie werden wir in Zukunft zusammenleben? In Frieden und Gerechtigkeit? Oder im Chaos?

Musik: CD603340003 Waves 0‘25

Die Menschheit ist zur Schicksalsgemeinschaft geworden. Größere Konflikte könnten schnell unsere letzten sein. Die globalen Probleme gemeinsam zu lösen, ist heute also eine Überlebensfrage.

Erzähler:

Kang Youwei hat das bereits vor mehr als 100 Jahren erkannt. Und seine Anleitung zum Weltfrieden geschrieben. Inspiriert wurde er zu dieser Utopie schon in jungen Jahren. Kang las ein Buch über die „Schlacht bei Sedan“, die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 stattfand. Diese Lektüre erschütterte den jungen Mann sehr; das „große Leid der Welt“ verfolgte ihn bis in seine Träume, sagt Thomas Heberer.

ZSP 2 Sedan 0,16

Diese Brutalität dieser Schlacht, und die vielen Soldaten, die dort gestorben sind, haben in ihm ein bestimmtes Nachdenken hervorgerufen, dass man eigentlich Friede in der Welt braucht und dafür sorgen muss, dass Kriege abgeschafft werden. Das war wohl ein Schlüsselerlebnis.

Musik: CD603340008 Song oft he dragon and phoenix 0‘42

Erzählerin:

Geboren 1858 in einem Dorf in der südchinesischen Provinz Guangdong, wächst Kang Youwei in einer angesehenen Familie von gelehrten Beamten auf. Es versteht sich von selbst, dass auch er eine klassisch-konfuzianische Erziehung genießen und die Beamten-Laufbahn einschlagen soll.

Erzähler:

Doch das enge Korsett des alten Konfuzianismus, mit seinem starren Pauken und auswendigen Herunterbeten von Texten, passt dem jungen Kang gar nicht. Er zieht sich zurück und studiert die großen Philosophien des Ostens, den Taoismus und den Buddhismus.

ZSP 3 Visionär 0,32

Er hat diese verschiedenen religiösen und philosophischen Komponenten Chinas alle studiert, weil er als junger Mann auf der Suche war nach einer Vision. Und um auf der Suche nach einer Vision zu sein, ist es ganz wichtig, dass man sich mit den ganzen Geistesströmungen über die Geschichte hinweg auseinandersetzt. Und auch kritisch. Er hat sich ja selbst als ein Visionär begriffen, der die Mission vom Himmel erhalten habe, praktisch eine Utopie zu verfassen für die Menschheit.

Musik: Z9316499107 Through the bamboo forest 0‘32

Erzähler:

China steckte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer tiefen Krise. Das Land war in einem desaströsen Zustand, rückständig, politisch verkrustet, gedemütigt und schikaniert von ausländischen Mächten. Nach einer Reihe militärischer Niederlagen gegen England, Frankreich, Japan und Russland war klar: China brauchte ein umfassendes gesellschaftlich-politisches Reformprogramm und eine weitreichende Vision.

Erzählerin:

Kang Youwei sollte zu einem Vordenker dieses Reformprojekts werden. Er schlug zum Beispiel vor, den Konfuzianismus als Kirche neu zu organisieren und zur Staatsreligion zu machen.

ZSP 4 Staatsreligion 0,36

Diese Idee kam ihm von Europa: Der Staat in Europa zuständig für Recht und Ordnung, und die Kirche für die Moral. Das war bei uns getrennt. In China gab es keine Kirche, da war der Staat für alles zuständig, für die Moral und für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Und dass er wahrscheinlich gesehen hat, das funktioniert besser in Europa. Und wir brauchen eine Institution, die identitätsstiftend wirkt, Sinn gibt. Und auf der anderen Seite auch diese Moralerziehung wahrnehmen kann. Dass der Staat sich auf die Aufgaben konzentrieren kann, die eigentlich seine Kernaufgaben sind, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung.

Erzähler:

Kangs Idee einer konfuzianischen Staatsreligion wird auch heute wieder ernsthaft diskutiert in China, sagt Ostasienexperte Thomas Heberer. Zu Lebzeiten jedoch wurde Kang Youwei dafür von jungen Intellektuellen kritisiert, dass er die alte Lehre reformieren wollte. Konfuzius war für Kang nämlich keineswegs jener Reaktionär, der für die Rückständigkeit Chinas verantwortlich war. Man müsse ihn halt nur als Reformer lesen und verstehen, meinte Kang Youwei.

Musik: Z9458720002 The eternal vow 0‘35

Erzählerin:

Kangs politischen Reformideen stießen im ausgehenden 19. Jahrhunderts für kurze Zeit auf allerhöchstes Interesse. Der Kaiser selbst begeisterte sich dafür. Aber dieser Kaiser Guangxu war politisch schwach. Und so folgte auf den kurzen Frühling der 100-Tage-Reform bald eine neue Eiszeit. Die konservativen, reform-feindlichen Kräfte am Hof setzten sich durch und schlugen unerbittlich zurück.

ZSP 5 Exil 0,28

Und sie haben diese Reformer verhaftet. Kang Youwei und Liang Qichao ist es gelungen, nach Japan zu fliehen; die meisten anderen sind hingerichtet worden. Darunter ein Bruder Kang Youweis. Er war dann bis zur Revolution 1911/12, Ende der Kaiserdynastie, nicht mehr in China, sondern in Japan und hat auch andere Länder bereist, vor allem Länder, in denen Auslandschinesen gelebt haben, um zu werben für sein Reformprogramm für die Zukunft Chinas.

Erzählerin:

Kang Youwei bereiste fast alle Kontinente, war in über 60 Ländern, allein elf Mal in Deutschland. Als er in München sein erstes Bier trank, war er nachhaltig begeistert - vom Geschmack, den Trinksitten und von den großen Gläsern.

Erzähler:

Erstaunlicher mag erscheinen, dass Kang auch das damalige politische System Deutschlands gut fand. Das konstitutionelle Kaiserreich erschien ihm offenbar fortschrittlich, verglichen mit dem damaligen China. Für die Zukunft jedoch waren Parlamentarismus und Demokratie für Kang die erstrebenswerten politischen Ziele. Weltweit.

Musik: Z8030896105 Genetics (reduced) 0‘38

Erzählerin:

Denn Kang dachte nie nur an China, sondern immer an die ganze Menschheit. Vor diesem Hintergrund schrieb er 1902 einen ersten Entwurf von „Datongshu“. Intellektuell beeinflusst war seine Utopie nicht nur von alten östlichen Traditionen, sondern auch von modernen westlichen Denkern wie Immanuel Kant oder Karl Marx. Dazu kommen noch Gedanken des Darwinismus und vieler japanischer Wissenschaftler, sagt Thomas Heberer.

Kangs Kosmos ist ein Sammelsurium von Ideen unterschiedlicher Epochen und Weltgegenden.

ZSP 6 Einflüsse 0,15

Und auf diese Weise hat er eine Utopie für die Menschheit entwickelt. Und das finde ich doch etwas Besonderes, weil Chinesen auch heute sich in der Regel primär befassen mit der Entwicklung Chinas, und relativ selten mit der Entwicklung der Menschheit. Wo soll die Menschheit hin?

Erzähler:

Für Kang steht das Ziel fest: Zum Datong soll die Menschheit eines fernen Tages gelangen. Dieses Datong, sagt Thomas Heberer, könne man übersetzen mit „Große Gemeinschaft“ oder „Große Harmonie“. Im Grunde ist es eine uralte Idee vom paradiesischen Zustand des Friedens, die die ganze philosophische und politische Geschichte Chinas durchzieht. Bis heute.

Musik: CD603340015 Wang Ji 0‘43

Erzähler:

Kang Youwei beschreibt seinen Fahrplan zum Weltfrieden in zehn Einzelschritten. Er beginnt mit dem Leiden der Welt und der Fähigkeit des Menschen zum Mitleiden.

Erzählerin:

“Ren“ - das chinesische Wort für (Mit-)Menschlichkeit - ist ein zentraler Begriff in Kangs konfuzianisch geprägter Utopie.

In einem ersten Schritt seien die großen und kleinen Egoismen zu überwinden, zugunsten einer staatsbürgerlichen Gesinnung. Aber dabei darf es nicht bleiben. Deshalb erklärt Kang im zweiten Teil des Buches:

Zitator:

Wie man die nationalen Grenzen abschafft und die Welt zur Einheit bringt

Erzählerin:

So etwas geht natürlich nicht von heute auf morgen. Kang Youwei denkt in langen Zeiträumen. Und bedient sich dabei der alten konfuzianischen Vorstellung von den drei Zeitaltern. Sie sind die Generallinie auf dem Weg zur „Großen Gemeinschaft“.

Erzähler:

Im ersten „Zeitalter der Unordnung“ gibt es noch Einzelstaaten, die ihre nationalen Egoismen durchboxen. Chaos und Krieg herrschen auf der Welt, aber es kommt zu ersten Bündnissen und internationalen Konferenzen. Voraussetzung für den künftigen Frieden ist eine konsequente weltweite Abrüstung.

Erzählerin:

Im zweiten „Zeitalter der Festigung des Friedens und der Gleichheit“ entwickelt sich die Weltgemeinschaft dann weiter. Neue Gemeinschaftsstaaten, Gemeinschaftsregierungen und Parlamente werden gegründet. Erste Territorien werden einer Gemeinschaftsregierung unterstellt.

Erzähler:

Im dritten „Zeitalter des ständigen Friedens und der völligen Gleichheit“ wird die "Großen Gemeinschaft dann vollendet. Staaten und Grenzen sind abgeschafft, es gibt nur noch den Weltstaat. Und die Erde wird von einer Gemeinschaftsregierung verwaltet. Keine Monarchen mehr, keine Präsidenten oder Geschäftsführer. Nur noch Gesetze, die von Parlamentariern erlassen werden; die Exekutive erledigen dann Verwaltungsbeauftragte. Und alle wichtigen Angelegenheiten werden durch Mehrheitsbeschluss entschieden.

Musik: CD603340018 Azalea 0‘9

Zitator:

Wie man die Klassenschranken abschafft und alle Menschen gleichstellt.

Erzähler:

Auf dem Weg zum irdischen Paradies müssen auch Stände, Privilegien und Hierarchien abgeschafft werden. Mit dieser rechtlichen Gleichheit aller Menschen geht er weit über den traditionellen Konfuzianismus hinaus. Dessen streng hierarchisches Denken ersetzt Kang Youwei durch seine Reformidee einer konfuzianischen Staatskirche, meint Thomas Heberer. In dieser sind grundsätzlich alle gleich. Herausgehoben werden nur diejenigen, die sich durch ihr Verhalten Meriten verdienen. Ein Prinzip, das die heutige chinesische Führung mit dem sozialen Kreditsystem bereits wieder aufgegriffen hat.

Musik: Z8024906103 Without you 0‘28

Erzähler:

Das problematischste Kapitel in Kang Youweis „Datongshu“ behandelt die Abschaffung der Rassenschranken. Kang ist hier ganz ein Kind des 19. Jahrhunderts, in dem Darwinismus und biologisches Denken weit verbreitet sind. Kang ist zwar alles andere als ein Rassist. Doch in Kategorien der Rasse zu denken, ist damals ganz normal gewesen.

Erzählerin:

Nach reiflicher Überlegung hat Herausgeber Thomas Heberer entschieden, dieses Kapitel nicht ganz herauszunehmen. Auch wenn manches in heutigen Ohren seltsam klingt, etwa, wenn Kang zur Überwindung des Rassismus vorschlägt, die Weltbevölkerung durch Vermischung praktisch zu Weißen zu machen.

ZSP 7 Rassen 0,32

Und dass man vielleicht nachdenken kann, ob man nicht durch ständige Vermischung die Rassen soweit angleicht, dass es keine Diskriminierung mehr gibt. Das ist ein gewagtes Vorhaben, weil das kann auch sehr leicht in Totalitarismus umschlagen. Heute würde man sagen, ja warum kann man das nicht, indem man die ganze Diskriminierung beseitigt und die Menschen aufklärt, dass Schwarze, Weiße, Gelbe, Braune gleichberechtigt sind. Und dass es keine Unterschiede, Rassenunterschiede gibt, sondern nur im Kopf, und nicht in der Realität.

Musik: C1454340013 Mandarin 0‘15

Zitator:

Das Recht des Menschen auf Unabhängigkeit ist ihm vom Himmel übertragen worden, und auch den Frauen stehen gleiche Rechte zu.

Erzählerin:

Man beachte das Jahr, in dem Kang Youwei das postuliert hat. 1902 war die völlige Gleichstellung der Frau durchaus noch eine revolutionäre Idee, nicht nur in China. Und auch heute ist diese Forderung nur in den allerwenigsten Weltgegenden tatsächlich verwirklicht. Die Schranken zwischen den Geschlechtern müssen abgeschafft werden, schreibt Kang. Ebenso die traditionelle Form der Ehe. Der Gelehrte fordert stattdessen eine Art Versuchs-Ehe auf Zeit. Wenn einer der Partner nach einem Jahr erkenne, dass man nicht zusammenpasst, könne man sich wieder trennen. Ohne Scheidung und großes Trara!

Erzähler

Noch moderner erscheint Kangs Haltung zu sexuellen Beziehungen. Auch da war er seiner Zeit weit voraus. Die Akzeptanz von Homosexualität etwa erschien ihm als eine natürliche Selbstverständlichkeit.

Zitator:

„Was hat es für einen Sinn, Gebote und Verbote auf geschlechtlichem Gebiet zu erlassen? Wälle und Deiche werden doch durchbrochen, wenn sich die Natur ihr Recht verschafft und die Flut hereinbricht.”

Erzähler:

Ist erst einmal das Zeitalter der Großen Gemeinschaft angebrochen, schreibt Kang, brauche die Gesellschaft ohnehin keine Strafen und Gerichte mehr. In jenem Zeitalter werde dann auch sexuelle Freizügigkeit herrschen. Zumindest für Erwachsene ab dem 20. Lebensjahr.

Musik: Faces of Asia 2 C1454340030 0‘10

Zitator:

Wie man familiäre Schranken abschafft und wie die Menschheit ein „Volk des Himmels“ wird

Erzähler:

Auch das ein revolutionärer Gedanke! Denn in China war das Korsett der traditionellen Familie zu Kangs Zeiten noch besonders eng. Ganz oben thronte der Patriarch, der Älteste der Sippe, der alles bestimmte. Männer, die es sich leisten konnten, durften sogar mehrere Ehefrauen haben. Ganz am unteren Ende der Hierarchie standen die Schwiegertöchter. Absoluter Gehorsam gegenüber den Höheren und Älteren war gefordert. Ein starres System also, zu dessen entschiedenen Kritikern Kang Youwei zählte.

Musik: C1454340031 Faces of Asia 3 0‘11

Zitator:

Wie man durch eine gemeinschaftliche Regelung der Erwerbsverhältnisse einen einheitlichen Lebensstandard schafft

Erzähler:

Kang Youweis Vision der weltweiten „Großen Gemeinschaft“ basiert auf konkreten ökonomischen Vorstellungen. Wobei im Wirtschaftsteil seiner Utopie ganz deutlich Ideen von Karl Marx durchscheinen. Die Industrieproduktion vergesellschaften, das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen – und stattdessen Planwirtschaft! Dass diese im 20. Jahrhundert im Systemvergleich krachend scheitern würde, konnte Kang noch nicht wissen.

Erzählerin:

Eines aber war ihm klar: Herrschen weiterhin Ungleichheit und Unterernährung, wird ein friedliches Zusammenleben der Menschen langfristig nicht möglich sein. Daher Kangs Forderung nach gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft und gemeinsamen Bodenbesitz. Eine Idee, die in China in den vergangenen 2.500 Jahren immer wieder auftauchte, sagt Thomas Heberer:

ZSP 8 Bodenreform 0,24

Weil man gesehen hat, immer wenn der Boden wieder in Privateigentum übergeht, dann verarmt ein großer Teil der Landbevölkerung, es gibt Aufstände, Rebellion. Und jede neue Dynastie hat den Boden neu an die Bauern verteilt, gleichmäßig. Und diese Idee wollte Kang auch in China wieder realisieren: Gemeineigentum an Boden und jeder kriegt eben sein eigenes Stück Land, das er bewirtschaften kann, für die Verbesserung der Lebensbedingungen.

Erzähler:

Wie aber wird ein Weltstaat eines Tages aussehen, der nach den Prinzipien Frieden und Gleichheit regiert wird? Es muss in jedem Fall eine einheitliche Weltsprache geben, schreibt Kang Youwei. Und ein einheitliches und gerechtes Verwaltungssystem. Dazu wird die Welt in Planquadrate eingeteilt.

Zitator:

„Jedes Planquadrat wird ein gemeinschaftliches Selbstverwaltungsgebiet; es richtet Gemeinschaftsinstitutionen ein und verwaltet die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel in öffentlicher Regie."

Erzähler

Die alltäglichen Probleme werden also nicht von oben, von der Weltregierung gelöst, sondern von den Menschen vor Ort.

ZSP 9 unten nach oben 0,28

Das kann nur auf der lokalen Ebene entschieden werden und deswegen war die Idee grundsätzlich erstmal im Allgemeinen gut zu sagen: Unten gibt es starke Autonomie, Selbstverwaltung. Aber es gibt eine Weltregierung, die eben die globalen Probleme lösen muss. Und die sollen sich auch nicht ins Gehege kommen, dafür gibt es Parlamente, die stufenweise nach oben gehen, und wo immer Vertreter der einzelnen Planquadrate dann der Großregion und so weiter sitzen, die mitentscheiden, wie die Weltregierung agieren soll.

Erzähler:

Ein föderaler, demokratischer Weltstaat, der dauerhaft Frieden und Gleichheit bringt. Diese menschenfreundliche Vision ist vermutlich ein Projekt für die fernere Zukunft! Aber der Utopist Kang Youwei geht sogar noch weiter. Er fordert eine Ausdehnung der allumfassenden Güte und Liebe - auf alle Lebewesen. Tiere zu schlachten und zu essen? Für Kang ist das ein Zeichen von ethischer Rückständigkeit. Und in Zukunft nicht mehr denkbar.

Zitator:

"Die Menschen werden einmal den Fleischgenuss verabscheuen, wie sie auch das Schlachten von Haustieren abgeschafft haben. Die Haustiere werden dann als Dienerschaft betrachtet; man wird sie nutzbringend einsetzen, aber auch pflegen und Zuneigung zu ihnen gewinnen."

Musik: C1454340013 Mandarin 0‘30

Erzähler:

Die Fesseln des Leidens abzustreifen, und den Menschen materiell und sozial zu einer höheren Glücksstufe zu verhelfen, im Einklang mit allen Lebewesen!

Erzählerin:

Es ist ein großes Projekt, das Kang Youwei da skizziert. Trotz vieler Details ist seine Utopie aber keine konkrete Handlungsanweisung, meint Herausgeber Thomas Heberer. Das „Datongshu“ ist mehr als Impuls gedacht – als Denkanstoß.

ZSP 10 Anregung 0,30

Ihm war auch klar, dass man das nicht eins zu eins umsetzen kann. Und dass es zu seinen Lebzeiten sowieso nicht mehr geht, sondern dass es einen Diskurs mit dem Westen auslösen sollte, dass man überhaupt die Fragen mal diskutiert. Dass er vielleicht Anregungen geben wollte. Man legt ein Programm vor und sagt: So, jetzt sagt mal bitte, was ihr dazu meint. Und ihr könnt andere Ideen einbringen. So entwickeln wir das weiter. Ich glaube, als Anregung gedacht und nicht als ein Ziel, das alle jetzt gemeinsam Schritt für Schritt erreichen müssen.

Erzähler

Als Kang Youwei 1927 im ostchinesischen Qingdao stirbt, hat er das Manuskript seines Buches längst fertiggestellt, aber nicht veröffentlicht. Erst 1935 wird das Datongshu der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Erzählerin:

Zur Zeit der Kulturrevolution in den 1960er und 70er Jahre war Kang als reaktionärer Konfuzianer verpönt. Sein Grab wurde zerstört, seine Schriften verboten. Erst seit den 1980er Jahren sind Texte wie das „Datongshu“ in Chinas Buchläden wieder erhältlich.

Erzähler

Heute gibt es nicht nur ein Kang-Youwei-Museum in Qingdao, sondern vor allem eine höchst lebendige Diskussion der Ideen des großen Reformers und Philosophen. Bis hinauf in die obersten Etagen der Partei- und Staatsführung.

Erzählerin:

Was aber kann der Rest der Welt von Kang-Youwei und seiner Utopie heute lernen? Zum einen, meint Thomas Heberer, sind viele Forderungen Kangs immer noch unerfüllt. Etwa die Gleichberechtigung der Frau, die Abschaffung von Hunger und Krieg. Und zum anderen zeige das Beispiel Kang Youweis, dass nicht nur der Westen aufgeklärte Geister hervorbringt.

ZSP 11 chinesische Aufklärung 0,19

Es entsteht immer der Eindruck, die Chinesen sind ein homogenes Konglomerat, oben entscheidet der Führer. Und sonst sind sie keine Querdenker, keine Freidenker, sondern machen, was der Staat sagt. Und das ist so nicht richtig. Denn es gibt eine lebhafte Diskussion in China und es gab die schon immer in der chinesischen Geschichte.

Musik: CD433040112 Desert Cappriccio 0‘56

Erzähler:

Diese Ideen-Geschichte und ihre Denker gilt es zu entdecken. Für einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe.

Damit wir künftig nicht nur über machtpolitische Gegensätze und ökonomische Bedrohungen sprechen, sondern über gemeinsame Werte und Ziele der gesamten Menschheit.

Erzählerin:

Höchstwahrscheinlich hatte Bundespräsident Steinmeier dieses globale Miteinander im Sinn, als er im Dezember 2018 den großen Philosophen Kang Youwei zitierte und an die Studierenden der Sichuan-Universität appellierte:

Zitator:

„Die Zukunft, die vor Ihnen liegt, wird kein Einzelner, kein Volk, keine Nation für sich allein gewinnen. Die Zukunft wird nicht im Kampf Jeder gegen Jeden liegen.“

  continue reading

2268 Episoden

Artwork
iconTeilen
 
Manage episode 394230103 series 2558490
Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.

Eine Weltgemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit, ohne Diskriminierung und Ausbeutung, ohne Hierarchien und Grenzen. Diese Utopie hat der Philosoph und Reformer Kang Youwei um 1900 in China niedergeschrieben. Seiner Zeit weit voraus schuf er eine Philosophie, die zum Weltfrieden führen sollte. Autor: Thomas Grasberger (BR 2021)

Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Friedrich Schloffer
Technik: Regine Elbers
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Thomas Heberer (Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen)
Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:

Frieden - Persönliche Sehnsucht - Politische Utopie
JETZT ANHÖREN

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

Musik: M0007510001 Imperial city 1‘00

Erzähler

Als der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Dezember 2018 zum Staatsbesuch in die Volksrepublik China reiste, stand auf dem Programm auch ein Besuch der Sichuan-Universität in Chengdu. In seiner Rede appellierte Steinmeier an die Studierenden:

Zitator

„Nutzen Sie das, wofür Generationen gekämpft haben – eine globale Ordnung, die Frieden und Zusammenarbeit erst möglich macht!“

Erzähler

In einer Zeit, in der nationale Egoismen und Konflikte weltweit auf dem Vormarsch sind, erinnert der deutsche Bundespräsident also an das Gemeinsame. Und zitiert einen chinesischen Gelehrten namens Kang Youwei, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Schrift verfasst hat.

Das „Datongshu“, die Utopie einer „Großen Gemeinschaft“,

Zitator

„die die Grenzen von Nation, Rasse, Geschlecht und Hierarchie überwindet.“

Erzählerin:

Den Studierenden der Sichuan-Universität dürfte der Name Kang Youwei geläufig gewesen sein. Schließlich gilt er als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des modernen China. Manche sehen in ihm gar den „Martin Luther der konfuzianischen Lehre“. Und Chinas Parteichef Xi Jinping lobt Kang immer wieder als einen fortschrittlichen Denker.

ZSP 1 aktuell in China 0,20

In China ist Kang Youwei und sein Begriff des "Datong" Gegenstand der permanenten Auseinandersetzung über ein neues Wertesystem, ein innerchinesisches Wertesystem, aber auch ein globales Wertesystem. Nur bei uns spielt diese Debatte in China keine Rolle, weil sie auch gar nicht bekannt ist.

Erzähler:

Deshalb hat Thomas Heberer, Professor für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg-Essen, die Schrift von Kang Youwei neu herausgegeben: „Datongshu“ - „Das Buch von der Großen Gemeinschaft“ sucht Antworten auf höchst aktuelle Fragen.

Erzählerin:

Wie werden wir in Zukunft zusammenleben? In Frieden und Gerechtigkeit? Oder im Chaos?

Musik: CD603340003 Waves 0‘25

Die Menschheit ist zur Schicksalsgemeinschaft geworden. Größere Konflikte könnten schnell unsere letzten sein. Die globalen Probleme gemeinsam zu lösen, ist heute also eine Überlebensfrage.

Erzähler:

Kang Youwei hat das bereits vor mehr als 100 Jahren erkannt. Und seine Anleitung zum Weltfrieden geschrieben. Inspiriert wurde er zu dieser Utopie schon in jungen Jahren. Kang las ein Buch über die „Schlacht bei Sedan“, die im deutsch-französischen Krieg 1870/71 stattfand. Diese Lektüre erschütterte den jungen Mann sehr; das „große Leid der Welt“ verfolgte ihn bis in seine Träume, sagt Thomas Heberer.

ZSP 2 Sedan 0,16

Diese Brutalität dieser Schlacht, und die vielen Soldaten, die dort gestorben sind, haben in ihm ein bestimmtes Nachdenken hervorgerufen, dass man eigentlich Friede in der Welt braucht und dafür sorgen muss, dass Kriege abgeschafft werden. Das war wohl ein Schlüsselerlebnis.

Musik: CD603340008 Song oft he dragon and phoenix 0‘42

Erzählerin:

Geboren 1858 in einem Dorf in der südchinesischen Provinz Guangdong, wächst Kang Youwei in einer angesehenen Familie von gelehrten Beamten auf. Es versteht sich von selbst, dass auch er eine klassisch-konfuzianische Erziehung genießen und die Beamten-Laufbahn einschlagen soll.

Erzähler:

Doch das enge Korsett des alten Konfuzianismus, mit seinem starren Pauken und auswendigen Herunterbeten von Texten, passt dem jungen Kang gar nicht. Er zieht sich zurück und studiert die großen Philosophien des Ostens, den Taoismus und den Buddhismus.

ZSP 3 Visionär 0,32

Er hat diese verschiedenen religiösen und philosophischen Komponenten Chinas alle studiert, weil er als junger Mann auf der Suche war nach einer Vision. Und um auf der Suche nach einer Vision zu sein, ist es ganz wichtig, dass man sich mit den ganzen Geistesströmungen über die Geschichte hinweg auseinandersetzt. Und auch kritisch. Er hat sich ja selbst als ein Visionär begriffen, der die Mission vom Himmel erhalten habe, praktisch eine Utopie zu verfassen für die Menschheit.

Musik: Z9316499107 Through the bamboo forest 0‘32

Erzähler:

China steckte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer tiefen Krise. Das Land war in einem desaströsen Zustand, rückständig, politisch verkrustet, gedemütigt und schikaniert von ausländischen Mächten. Nach einer Reihe militärischer Niederlagen gegen England, Frankreich, Japan und Russland war klar: China brauchte ein umfassendes gesellschaftlich-politisches Reformprogramm und eine weitreichende Vision.

Erzählerin:

Kang Youwei sollte zu einem Vordenker dieses Reformprojekts werden. Er schlug zum Beispiel vor, den Konfuzianismus als Kirche neu zu organisieren und zur Staatsreligion zu machen.

ZSP 4 Staatsreligion 0,36

Diese Idee kam ihm von Europa: Der Staat in Europa zuständig für Recht und Ordnung, und die Kirche für die Moral. Das war bei uns getrennt. In China gab es keine Kirche, da war der Staat für alles zuständig, für die Moral und für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung. Und dass er wahrscheinlich gesehen hat, das funktioniert besser in Europa. Und wir brauchen eine Institution, die identitätsstiftend wirkt, Sinn gibt. Und auf der anderen Seite auch diese Moralerziehung wahrnehmen kann. Dass der Staat sich auf die Aufgaben konzentrieren kann, die eigentlich seine Kernaufgaben sind, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung.

Erzähler:

Kangs Idee einer konfuzianischen Staatsreligion wird auch heute wieder ernsthaft diskutiert in China, sagt Ostasienexperte Thomas Heberer. Zu Lebzeiten jedoch wurde Kang Youwei dafür von jungen Intellektuellen kritisiert, dass er die alte Lehre reformieren wollte. Konfuzius war für Kang nämlich keineswegs jener Reaktionär, der für die Rückständigkeit Chinas verantwortlich war. Man müsse ihn halt nur als Reformer lesen und verstehen, meinte Kang Youwei.

Musik: Z9458720002 The eternal vow 0‘35

Erzählerin:

Kangs politischen Reformideen stießen im ausgehenden 19. Jahrhunderts für kurze Zeit auf allerhöchstes Interesse. Der Kaiser selbst begeisterte sich dafür. Aber dieser Kaiser Guangxu war politisch schwach. Und so folgte auf den kurzen Frühling der 100-Tage-Reform bald eine neue Eiszeit. Die konservativen, reform-feindlichen Kräfte am Hof setzten sich durch und schlugen unerbittlich zurück.

ZSP 5 Exil 0,28

Und sie haben diese Reformer verhaftet. Kang Youwei und Liang Qichao ist es gelungen, nach Japan zu fliehen; die meisten anderen sind hingerichtet worden. Darunter ein Bruder Kang Youweis. Er war dann bis zur Revolution 1911/12, Ende der Kaiserdynastie, nicht mehr in China, sondern in Japan und hat auch andere Länder bereist, vor allem Länder, in denen Auslandschinesen gelebt haben, um zu werben für sein Reformprogramm für die Zukunft Chinas.

Erzählerin:

Kang Youwei bereiste fast alle Kontinente, war in über 60 Ländern, allein elf Mal in Deutschland. Als er in München sein erstes Bier trank, war er nachhaltig begeistert - vom Geschmack, den Trinksitten und von den großen Gläsern.

Erzähler:

Erstaunlicher mag erscheinen, dass Kang auch das damalige politische System Deutschlands gut fand. Das konstitutionelle Kaiserreich erschien ihm offenbar fortschrittlich, verglichen mit dem damaligen China. Für die Zukunft jedoch waren Parlamentarismus und Demokratie für Kang die erstrebenswerten politischen Ziele. Weltweit.

Musik: Z8030896105 Genetics (reduced) 0‘38

Erzählerin:

Denn Kang dachte nie nur an China, sondern immer an die ganze Menschheit. Vor diesem Hintergrund schrieb er 1902 einen ersten Entwurf von „Datongshu“. Intellektuell beeinflusst war seine Utopie nicht nur von alten östlichen Traditionen, sondern auch von modernen westlichen Denkern wie Immanuel Kant oder Karl Marx. Dazu kommen noch Gedanken des Darwinismus und vieler japanischer Wissenschaftler, sagt Thomas Heberer.

Kangs Kosmos ist ein Sammelsurium von Ideen unterschiedlicher Epochen und Weltgegenden.

ZSP 6 Einflüsse 0,15

Und auf diese Weise hat er eine Utopie für die Menschheit entwickelt. Und das finde ich doch etwas Besonderes, weil Chinesen auch heute sich in der Regel primär befassen mit der Entwicklung Chinas, und relativ selten mit der Entwicklung der Menschheit. Wo soll die Menschheit hin?

Erzähler:

Für Kang steht das Ziel fest: Zum Datong soll die Menschheit eines fernen Tages gelangen. Dieses Datong, sagt Thomas Heberer, könne man übersetzen mit „Große Gemeinschaft“ oder „Große Harmonie“. Im Grunde ist es eine uralte Idee vom paradiesischen Zustand des Friedens, die die ganze philosophische und politische Geschichte Chinas durchzieht. Bis heute.

Musik: CD603340015 Wang Ji 0‘43

Erzähler:

Kang Youwei beschreibt seinen Fahrplan zum Weltfrieden in zehn Einzelschritten. Er beginnt mit dem Leiden der Welt und der Fähigkeit des Menschen zum Mitleiden.

Erzählerin:

“Ren“ - das chinesische Wort für (Mit-)Menschlichkeit - ist ein zentraler Begriff in Kangs konfuzianisch geprägter Utopie.

In einem ersten Schritt seien die großen und kleinen Egoismen zu überwinden, zugunsten einer staatsbürgerlichen Gesinnung. Aber dabei darf es nicht bleiben. Deshalb erklärt Kang im zweiten Teil des Buches:

Zitator:

Wie man die nationalen Grenzen abschafft und die Welt zur Einheit bringt

Erzählerin:

So etwas geht natürlich nicht von heute auf morgen. Kang Youwei denkt in langen Zeiträumen. Und bedient sich dabei der alten konfuzianischen Vorstellung von den drei Zeitaltern. Sie sind die Generallinie auf dem Weg zur „Großen Gemeinschaft“.

Erzähler:

Im ersten „Zeitalter der Unordnung“ gibt es noch Einzelstaaten, die ihre nationalen Egoismen durchboxen. Chaos und Krieg herrschen auf der Welt, aber es kommt zu ersten Bündnissen und internationalen Konferenzen. Voraussetzung für den künftigen Frieden ist eine konsequente weltweite Abrüstung.

Erzählerin:

Im zweiten „Zeitalter der Festigung des Friedens und der Gleichheit“ entwickelt sich die Weltgemeinschaft dann weiter. Neue Gemeinschaftsstaaten, Gemeinschaftsregierungen und Parlamente werden gegründet. Erste Territorien werden einer Gemeinschaftsregierung unterstellt.

Erzähler:

Im dritten „Zeitalter des ständigen Friedens und der völligen Gleichheit“ wird die "Großen Gemeinschaft dann vollendet. Staaten und Grenzen sind abgeschafft, es gibt nur noch den Weltstaat. Und die Erde wird von einer Gemeinschaftsregierung verwaltet. Keine Monarchen mehr, keine Präsidenten oder Geschäftsführer. Nur noch Gesetze, die von Parlamentariern erlassen werden; die Exekutive erledigen dann Verwaltungsbeauftragte. Und alle wichtigen Angelegenheiten werden durch Mehrheitsbeschluss entschieden.

Musik: CD603340018 Azalea 0‘9

Zitator:

Wie man die Klassenschranken abschafft und alle Menschen gleichstellt.

Erzähler:

Auf dem Weg zum irdischen Paradies müssen auch Stände, Privilegien und Hierarchien abgeschafft werden. Mit dieser rechtlichen Gleichheit aller Menschen geht er weit über den traditionellen Konfuzianismus hinaus. Dessen streng hierarchisches Denken ersetzt Kang Youwei durch seine Reformidee einer konfuzianischen Staatskirche, meint Thomas Heberer. In dieser sind grundsätzlich alle gleich. Herausgehoben werden nur diejenigen, die sich durch ihr Verhalten Meriten verdienen. Ein Prinzip, das die heutige chinesische Führung mit dem sozialen Kreditsystem bereits wieder aufgegriffen hat.

Musik: Z8024906103 Without you 0‘28

Erzähler:

Das problematischste Kapitel in Kang Youweis „Datongshu“ behandelt die Abschaffung der Rassenschranken. Kang ist hier ganz ein Kind des 19. Jahrhunderts, in dem Darwinismus und biologisches Denken weit verbreitet sind. Kang ist zwar alles andere als ein Rassist. Doch in Kategorien der Rasse zu denken, ist damals ganz normal gewesen.

Erzählerin:

Nach reiflicher Überlegung hat Herausgeber Thomas Heberer entschieden, dieses Kapitel nicht ganz herauszunehmen. Auch wenn manches in heutigen Ohren seltsam klingt, etwa, wenn Kang zur Überwindung des Rassismus vorschlägt, die Weltbevölkerung durch Vermischung praktisch zu Weißen zu machen.

ZSP 7 Rassen 0,32

Und dass man vielleicht nachdenken kann, ob man nicht durch ständige Vermischung die Rassen soweit angleicht, dass es keine Diskriminierung mehr gibt. Das ist ein gewagtes Vorhaben, weil das kann auch sehr leicht in Totalitarismus umschlagen. Heute würde man sagen, ja warum kann man das nicht, indem man die ganze Diskriminierung beseitigt und die Menschen aufklärt, dass Schwarze, Weiße, Gelbe, Braune gleichberechtigt sind. Und dass es keine Unterschiede, Rassenunterschiede gibt, sondern nur im Kopf, und nicht in der Realität.

Musik: C1454340013 Mandarin 0‘15

Zitator:

Das Recht des Menschen auf Unabhängigkeit ist ihm vom Himmel übertragen worden, und auch den Frauen stehen gleiche Rechte zu.

Erzählerin:

Man beachte das Jahr, in dem Kang Youwei das postuliert hat. 1902 war die völlige Gleichstellung der Frau durchaus noch eine revolutionäre Idee, nicht nur in China. Und auch heute ist diese Forderung nur in den allerwenigsten Weltgegenden tatsächlich verwirklicht. Die Schranken zwischen den Geschlechtern müssen abgeschafft werden, schreibt Kang. Ebenso die traditionelle Form der Ehe. Der Gelehrte fordert stattdessen eine Art Versuchs-Ehe auf Zeit. Wenn einer der Partner nach einem Jahr erkenne, dass man nicht zusammenpasst, könne man sich wieder trennen. Ohne Scheidung und großes Trara!

Erzähler

Noch moderner erscheint Kangs Haltung zu sexuellen Beziehungen. Auch da war er seiner Zeit weit voraus. Die Akzeptanz von Homosexualität etwa erschien ihm als eine natürliche Selbstverständlichkeit.

Zitator:

„Was hat es für einen Sinn, Gebote und Verbote auf geschlechtlichem Gebiet zu erlassen? Wälle und Deiche werden doch durchbrochen, wenn sich die Natur ihr Recht verschafft und die Flut hereinbricht.”

Erzähler:

Ist erst einmal das Zeitalter der Großen Gemeinschaft angebrochen, schreibt Kang, brauche die Gesellschaft ohnehin keine Strafen und Gerichte mehr. In jenem Zeitalter werde dann auch sexuelle Freizügigkeit herrschen. Zumindest für Erwachsene ab dem 20. Lebensjahr.

Musik: Faces of Asia 2 C1454340030 0‘10

Zitator:

Wie man familiäre Schranken abschafft und wie die Menschheit ein „Volk des Himmels“ wird

Erzähler:

Auch das ein revolutionärer Gedanke! Denn in China war das Korsett der traditionellen Familie zu Kangs Zeiten noch besonders eng. Ganz oben thronte der Patriarch, der Älteste der Sippe, der alles bestimmte. Männer, die es sich leisten konnten, durften sogar mehrere Ehefrauen haben. Ganz am unteren Ende der Hierarchie standen die Schwiegertöchter. Absoluter Gehorsam gegenüber den Höheren und Älteren war gefordert. Ein starres System also, zu dessen entschiedenen Kritikern Kang Youwei zählte.

Musik: C1454340031 Faces of Asia 3 0‘11

Zitator:

Wie man durch eine gemeinschaftliche Regelung der Erwerbsverhältnisse einen einheitlichen Lebensstandard schafft

Erzähler:

Kang Youweis Vision der weltweiten „Großen Gemeinschaft“ basiert auf konkreten ökonomischen Vorstellungen. Wobei im Wirtschaftsteil seiner Utopie ganz deutlich Ideen von Karl Marx durchscheinen. Die Industrieproduktion vergesellschaften, das Privateigentum an Produktionsmitteln abschaffen – und stattdessen Planwirtschaft! Dass diese im 20. Jahrhundert im Systemvergleich krachend scheitern würde, konnte Kang noch nicht wissen.

Erzählerin:

Eines aber war ihm klar: Herrschen weiterhin Ungleichheit und Unterernährung, wird ein friedliches Zusammenleben der Menschen langfristig nicht möglich sein. Daher Kangs Forderung nach gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft und gemeinsamen Bodenbesitz. Eine Idee, die in China in den vergangenen 2.500 Jahren immer wieder auftauchte, sagt Thomas Heberer:

ZSP 8 Bodenreform 0,24

Weil man gesehen hat, immer wenn der Boden wieder in Privateigentum übergeht, dann verarmt ein großer Teil der Landbevölkerung, es gibt Aufstände, Rebellion. Und jede neue Dynastie hat den Boden neu an die Bauern verteilt, gleichmäßig. Und diese Idee wollte Kang auch in China wieder realisieren: Gemeineigentum an Boden und jeder kriegt eben sein eigenes Stück Land, das er bewirtschaften kann, für die Verbesserung der Lebensbedingungen.

Erzähler:

Wie aber wird ein Weltstaat eines Tages aussehen, der nach den Prinzipien Frieden und Gleichheit regiert wird? Es muss in jedem Fall eine einheitliche Weltsprache geben, schreibt Kang Youwei. Und ein einheitliches und gerechtes Verwaltungssystem. Dazu wird die Welt in Planquadrate eingeteilt.

Zitator:

„Jedes Planquadrat wird ein gemeinschaftliches Selbstverwaltungsgebiet; es richtet Gemeinschaftsinstitutionen ein und verwaltet die Landwirtschaft, die Industrie und den Handel in öffentlicher Regie."

Erzähler

Die alltäglichen Probleme werden also nicht von oben, von der Weltregierung gelöst, sondern von den Menschen vor Ort.

ZSP 9 unten nach oben 0,28

Das kann nur auf der lokalen Ebene entschieden werden und deswegen war die Idee grundsätzlich erstmal im Allgemeinen gut zu sagen: Unten gibt es starke Autonomie, Selbstverwaltung. Aber es gibt eine Weltregierung, die eben die globalen Probleme lösen muss. Und die sollen sich auch nicht ins Gehege kommen, dafür gibt es Parlamente, die stufenweise nach oben gehen, und wo immer Vertreter der einzelnen Planquadrate dann der Großregion und so weiter sitzen, die mitentscheiden, wie die Weltregierung agieren soll.

Erzähler:

Ein föderaler, demokratischer Weltstaat, der dauerhaft Frieden und Gleichheit bringt. Diese menschenfreundliche Vision ist vermutlich ein Projekt für die fernere Zukunft! Aber der Utopist Kang Youwei geht sogar noch weiter. Er fordert eine Ausdehnung der allumfassenden Güte und Liebe - auf alle Lebewesen. Tiere zu schlachten und zu essen? Für Kang ist das ein Zeichen von ethischer Rückständigkeit. Und in Zukunft nicht mehr denkbar.

Zitator:

"Die Menschen werden einmal den Fleischgenuss verabscheuen, wie sie auch das Schlachten von Haustieren abgeschafft haben. Die Haustiere werden dann als Dienerschaft betrachtet; man wird sie nutzbringend einsetzen, aber auch pflegen und Zuneigung zu ihnen gewinnen."

Musik: C1454340013 Mandarin 0‘30

Erzähler:

Die Fesseln des Leidens abzustreifen, und den Menschen materiell und sozial zu einer höheren Glücksstufe zu verhelfen, im Einklang mit allen Lebewesen!

Erzählerin:

Es ist ein großes Projekt, das Kang Youwei da skizziert. Trotz vieler Details ist seine Utopie aber keine konkrete Handlungsanweisung, meint Herausgeber Thomas Heberer. Das „Datongshu“ ist mehr als Impuls gedacht – als Denkanstoß.

ZSP 10 Anregung 0,30

Ihm war auch klar, dass man das nicht eins zu eins umsetzen kann. Und dass es zu seinen Lebzeiten sowieso nicht mehr geht, sondern dass es einen Diskurs mit dem Westen auslösen sollte, dass man überhaupt die Fragen mal diskutiert. Dass er vielleicht Anregungen geben wollte. Man legt ein Programm vor und sagt: So, jetzt sagt mal bitte, was ihr dazu meint. Und ihr könnt andere Ideen einbringen. So entwickeln wir das weiter. Ich glaube, als Anregung gedacht und nicht als ein Ziel, das alle jetzt gemeinsam Schritt für Schritt erreichen müssen.

Erzähler

Als Kang Youwei 1927 im ostchinesischen Qingdao stirbt, hat er das Manuskript seines Buches längst fertiggestellt, aber nicht veröffentlicht. Erst 1935 wird das Datongshu der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Erzählerin:

Zur Zeit der Kulturrevolution in den 1960er und 70er Jahre war Kang als reaktionärer Konfuzianer verpönt. Sein Grab wurde zerstört, seine Schriften verboten. Erst seit den 1980er Jahren sind Texte wie das „Datongshu“ in Chinas Buchläden wieder erhältlich.

Erzähler

Heute gibt es nicht nur ein Kang-Youwei-Museum in Qingdao, sondern vor allem eine höchst lebendige Diskussion der Ideen des großen Reformers und Philosophen. Bis hinauf in die obersten Etagen der Partei- und Staatsführung.

Erzählerin:

Was aber kann der Rest der Welt von Kang-Youwei und seiner Utopie heute lernen? Zum einen, meint Thomas Heberer, sind viele Forderungen Kangs immer noch unerfüllt. Etwa die Gleichberechtigung der Frau, die Abschaffung von Hunger und Krieg. Und zum anderen zeige das Beispiel Kang Youweis, dass nicht nur der Westen aufgeklärte Geister hervorbringt.

ZSP 11 chinesische Aufklärung 0,19

Es entsteht immer der Eindruck, die Chinesen sind ein homogenes Konglomerat, oben entscheidet der Führer. Und sonst sind sie keine Querdenker, keine Freidenker, sondern machen, was der Staat sagt. Und das ist so nicht richtig. Denn es gibt eine lebhafte Diskussion in China und es gab die schon immer in der chinesischen Geschichte.

Musik: CD433040112 Desert Cappriccio 0‘56

Erzähler:

Diese Ideen-Geschichte und ihre Denker gilt es zu entdecken. Für einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe.

Damit wir künftig nicht nur über machtpolitische Gegensätze und ökonomische Bedrohungen sprechen, sondern über gemeinsame Werte und Ziele der gesamten Menschheit.

Erzählerin:

Höchstwahrscheinlich hatte Bundespräsident Steinmeier dieses globale Miteinander im Sinn, als er im Dezember 2018 den großen Philosophen Kang Youwei zitierte und an die Studierenden der Sichuan-Universität appellierte:

Zitator:

„Die Zukunft, die vor Ihnen liegt, wird kein Einzelner, kein Volk, keine Nation für sich allein gewinnen. Die Zukunft wird nicht im Kampf Jeder gegen Jeden liegen.“

  continue reading

2268 Episoden

All episodes

×
 
Loading …

Willkommen auf Player FM!

Player FM scannt gerade das Web nach Podcasts mit hoher Qualität, die du genießen kannst. Es ist die beste Podcast-App und funktioniert auf Android, iPhone und im Web. Melde dich an, um Abos geräteübergreifend zu synchronisieren.

 

Kurzanleitung