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Die Geschichte der Wanderarbeiter - Suche nach einer Perspektive

22:01
 
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Die Globalisierung hat dem Phänomen der Wanderarbeiter neuen Schwung verliehen. Aber die Wanderarbeiter sind kein neues Phänomen. Schon die Arbeiter, die im Alten Ägypten die Pyramiden bauten, kamen aus dem ganzen Land und lebten nur zeitweilig nahe der Baustelle. (BR 2021) Autorin: Susanne Hofmann

Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Bürkle, Christian Schuler
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Willi Kulke, Historiker und Museumsleiter im LWL-Industriemuseum Ziegelei Lage;
Lars Petersen, Archäologe, Ägyptologe und Kurator im Badischen Landesmuseum

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLER

Nach der sengenden Hitze des Tages legt sich die kühlende Nacht über das Land, diesen südlichsten Teil der ägyptischen Wüste. Beinahe lautlos gleitet das Boot des deutschen Ägyptologen Johannes Dümichen den Nil entlang, der Mond erhellt die zerklüfteten Felsen am Ufer in dieser Sommernacht des Jahres 1869. Fasziniert lässt der Reisende seinen Blick schweifen – und traut seinen Augen nicht:

ZITATOR

„War es Täuschung oder Wirklichkeit? … Wir kamen näher und ich konnte nun die Erscheinung in ihrer ganzen Grossartigkeit, konnte die riesenhafte Gestalt, wie die der anderen, ganz ebenso gebildeten neben ihr, deutlich übersehen, wie sie, mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, die Hand auf das Knie gestützt, in imposanter Ruhe dasassen und auf den Strom zu ihren Füssen herniederschauten.“

ERZÄHLERIN

Vier gigantische Statuen. Sie sitzen vor dem Felsentempel Ramses des Zweiten in Abu Simbel. Gut 20 Meter ragen sie in die Höhe. Ein Monument, das vom Selbstbewusstsein des Pharaos zeugt, der sich vor mehr als 3.000 Jahren in diesen Statuen verewigen ließ: Ramses der Große.

M Middle East Sunrise weg

Seine größte Errungenschaft ist jedoch nicht die Vielzahl imposanter Bauwerke, die er hinterlässt. Die Ägypter verdanken ihm eine nie dagewesene Blütezeit, ein halbes Jahrhundert in Wohlstand und Frieden.

ERZÄHLER

Denn Ramses gelingt die Aussöhnung mit den Erzfeinden Ägyptens, den Hethitern. Die Herrscher beider Länder schließen den ersten erhaltenen schriftlichen Friedensvertrag der Geschichte, und beide Höfe nehmen einen regen Austausch auf, schildert der Ägyptologe Lars Petersen. Er arbeitet am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.

1. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)

„Man will dann ja auch sich weiterhin gut vertragen. Und dazu gehörten dann natürlich Prestigeobjekte und wertvolle Geschenke, die dann von beiden Seiten ausgetauscht worden sind.“

ERZÄHLERIN

Bei diesen diplomatischen Beziehungen spielt eine Personengruppe eine besondere Rolle: ägyptische Ärzte, die die damalige Welt in Erstaunen versetzen. Für Lars Petersen sind diese ägyptischen Ärzte die ersten Wanderarbeiter der Antike, von denen man sicher weiß. Wanderarbeiter - also Menschen, die, so die Definition des Duden, ihren „Arbeitsplatz weit entfernt von ihrem Wohnort aufsuchen“ müssen. Der Ägyptologe Lars Petersen:

2. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)

„Weil diese ägyptischen Ärzte so bedeutend waren, hat dann der hethitische Herrscher darum gebeten, dass für eine Zeit die Ärzte zu ihm kommen, um da auch die Bevölkerung medizinisch zu versorgen - also die ganze Bevölkerung wahrscheinlich nicht – das ist dann der Königshof gewesen. Also die ägyptische Medizin war in der Zeit sehr, sehr fortschrittlich, man hatte erste chirurgische Eingriffe, die für die damalige Zeit, das ist ja 3.300 Jahre her, so bedeutend waren, dass sich die gesamte damalige Welt die Hände nach ihnen geleckt hat, um auch die an ihren Hof zu bekommen.“

ERZÄHLER

Allerdings dürfte die zeitweilige Betätigung am hethitischen Hof nicht wie bei den späteren und heutigen Wanderarbeitern aus ökonomischer Notwendigkeit erfolgt sein, so Petersen, sondern im Rahmen eines Austausches im Dienste der Diplomatie.

ERZÄHLERIN

Die ägyptischen Ärzte waren hoch spezialisiert, davon zeugen Papyrus-Quellen. Sie praktizierten beispielsweise als Augen-, Zahn- oder Ohrenärzte. Und Untersuchungen der erhaltenen Mumien mit den Mitteln der Endoskopie und der Computertomographie haben ergeben: Die ägyptischen Chirurgen konnten sogar Amputationen vornehmen und Prothesen einsetzen – eine Kunst, die in anderen Kulturen damals wahrscheinlich unbekannt war. Der Ägyptologe Petersen ist überzeugt, dass diese frühen Wanderarbeiter,

3. ZUSPIELUNG Petersen 12:04

„die Fachkräfte der damaligen Zeit dann natürlich ihre Techniken und ihr Wissen auch weitergegeben haben. Und so hat sich natürlich auch die gesamte antike Welt immer auch weiterentwickelt. … Für einen Ägypter war es sehr, sehr wichtig, von seiner Religion her, dass er wieder zurück kehrt nach Ägypten, … dass er, wenn er verstirbt, in der Erde Ägyptens nahe beim Nil bestattet wird … Deshalb wissen wir auch, dass diese ägyptischen Ärzte auch wieder zurück nach Ägypten kamen.“

M Moresca da gamba (a) C1601420112 Länge 0´31´´ unter:

ERZÄHLER

Ebenfalls im antiken Ägypten finden sich erste Spuren einer weiteren Gruppe historisch bedeutsamer Wanderarbeiter: Als Anfang des 19. Jahrhunderts europäische Abenteuerreisende die monumentalen Ramses-Statuen im ägyptischen Abu Simbel wiederentdecken, machen sie an den Figuren eine spannende Beobachtung. Lars Petersen:

4. ZUSPIELUNG Petersen 21:00

„Die waren ganz erstaunt, dass sie neben den ägyptischen Hieroglyphen auch griechische Inschriften gefunden haben, also keine offiziellen Inschriften, die wirklich gezielt in Stein gemeißelt waren, sondern wie heute, so Graffiti, also „I was here“.

ERZÄHLERIN

Die griechischen „Graffiti“ geben den Archäologen zunächst Rätsel auf. Wie haben sich Griechen nach Ägypten verirrt, mehrere Tausend Kilometer südlich ihrer Heimat?

5. ZUSPIELUNG Petersen 21:00

„Da haben sich griechische Söldner, die unter einem bestimmten Pharao tätig waren, nämlich dem Pharao Psammetich dem Zweiten im sechsten Jahrhundert, die haben sich da verewigt, und die haben dann quasi so aufgeschrieben ihren Namen und ihre Kompagnie und unter wem sie gedient haben. Die müssen da irgendwie eine Rast gehalten haben.“

ERZÄHLER

Griechische Söldner sind ab 600 vor Christus im östlichen Mittelmeerraum überaus gefragt – nicht nur bei den ägyptischen Herrschern. In der Region kommt es immer wieder zu militärischen Konflikten, gute Kämpfer sind gefragt. In den Quellen werden die griechischen Söldner „eherne Männer“ genannt, in Anspielung auf ihre Rüstung und ihre Waffen, die aus Eisen geschmiedet sind, so Lars Petersen:

6. ZUSPIELUNG Petersen 24:47

„Die waren sehr gut ausgebildet, aber auch ausgerüstet, und das war vor allem das, was man schätzte. Die kamen mit Sack und Pack, also die hatten ihre Rüstung, ihre selbstgeschmiedeten oder die sie sich haben fertigen lassen, die sie natürlich gut schützten. Sie hatten präzise, gute Waffen, die sie selbst verwendeten, und die einfach dann den Gegnern überlegen waren. … also das muss wohl so eine richtige Eliteeinheit gewesen sein, … vielleicht so etwas wie die französische Fremdenlegion, die bestimmte Aufgaben dann im Militärdienst in Ägypten übernommen haben.“

M Moresca da gamba (a) C1601420112 Länge 0´47´´ unter:

ERZÄHLERIN

Für ihre Dienste unter fremden Herrschern und in fremden Regionen werden diese frühen militärischen Wanderarbeiter fürstlich entlohnt. In Ägypten erhalten sie pures Gold. Dafür müssen sie allerdings auch fern der Heimat kämpfen, und manch einer muss in der Fremde auch sein Leben lassen.

ERZÄHLER

Daheim ist das Ansehen von Söldnern eher gering, sie gelten als Außenseiter, leben meist abseits der Polis. Aber oft sehen Männer keinen anderen Ausweg: Die Bevölkerung Griechenlands wächst und im gebirgigen Land werden die Lebensmittel knapp. Viele Männer müssen sich anderswo nach einer Lebensgrundlage umschauen und entscheiden sich oft für ein Leben als Söldner auf fremden Territorien.

M weg

M Arabesk C1601420116 Länge 0´31´´ unter:

ERZÄHLERIN

Im gleichen Zeitraum, um 500 vor Christus, sind andere frühe Wanderarbeiter dokumentiert: Im antiken Persien entsteht die heutige Weltkulturerbe-Stätte Persepolis, die Stadt der Perser. Eine riesige, prachtvolle Palast- und Tempel-Anlage. Erbauen ließen sie die persischen Großkönige, so Lars Petersen:

M weg

7. ZUSPIELUNG Petersen

„Die haben wirklich gezielt aus ihren neuen Provinzen oder Satrapien, so hieß es bei den Persern, haben die sich dann die interessanten Leute geholt. Also da gibt es …Quellen aus Persepolis, die dann sagen: Auf unserer Baustelle des Königspalastes haben 200 Ägypter und 200 Syrer gearbeitet… teilweise Namen und die Gehaltsforderungen und was die bekommen haben und was die auch gemacht haben - also das waren Steinmetze, das waren Holzhandwerker, also Schreiner, die auf diesen Baustellen dann auch gearbeitet haben, und dann wahrscheinlich auch wieder in die Regionen zurückgegangen sind, wo sie ursprünglich herkamen.“

ERZÄHLER

Auch für das römische Reich ist der Einsatz diverser Wanderarbeiter verbürgt. Insbesondere in der Landwirtschaft waren sie gang und gäbe. Zu Erntezeiten waren Kolonnen von Erntehelfern aus anderen Regionen für Großgrundbesitzer tätig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

ERZÄHLERIN

Schon die frühen Wanderarbeiter kommen bei Tätigkeiten zum Einsatz, die besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern – und, wenn die heimische Bevölkerung nicht damit dienen kann oder will. Der Historiker Willi Kulke, der das Industriemuseum in Lage leitet, hat dem Phänomen der Wanderarbeit in Geschichte und Gegenwart eine Ausstellung gewidmet. Er ist davon überzeugt: Wanderarbeiter gab es schon immer.

8. ZUSPIELUNG Kulke 1:39

„Es gab immer schon Gegenden, in denen Mehrbedarf war an Arbeit, und wo weniger Bedarf war und Wanderarbeit ist ganz häufig auch davon bestimmt, dass die Arbeit nur saisonal anliegt. … in der Landwirtschaft gibt‘s ganz viele Bereiche, die nie existieren würden, … ohne dass Menschen aus Gegenden kommen, in der sie noch weniger verdienen und die deswegen ein Interesse daran haben, für einen bestimmten Zeitraum auch in der Fremde zu arbeiten.“

M En seumeillant NC079510114 Länge 0´49´´ unter:

ERZÄHLER

Gerade im Mittelalter gab es viele Handwerker, die davon lebten, mit ihrem Leiterwagen über Land von Ort zu Ort zu ziehen, um den Menschen ihre Dienste und Waren anzubieten. Viele waren gezwungen, längere Zeit auf der Straße zu leben, sie schliefen in Schuppen oder Unterständen. Liefen die Geschäfte schlecht, waren sie auf Almosen angewiesen. Kesselflicker, Bürstenbinder, Scherenschleifer, genauso wie etwa auch Hausierer – alle zählen zum fahrenden Volk. Viele von ihnen sind Juden, Sinti und Roma, die sich nicht in den Städten niederlassen dürfen und von den Zünften ausgeschlossen sind. Der Historiker Willi Kulke:

M weg

9. ZUSPIELUNG Kulke 12:12

„Das waren vor allen Dingen Berufe, die in der Menge in der Stadt nicht gebraucht wurden – so ein Kesselschmied, der konnte ein ganzes Jahr nicht davon in einer Stadt leben. Genauso wenig ein Scherenschleifer, … der zog durch ein bestimmtes Gebiet und war halt eins, zwei, vielleicht auch viermal im Jahr in den entsprechenden Dörfern für einen Tag oder zwei, verrichtete seine Arbeit, aber dann war das auch erledigt mit der Menge der Scheren und Messer, die entsprechend nachzuschleifen waren, und er zog weiter in den nächsten Ort nach. Also bei diesen Berufen ist es vor allen Dingen ein Gewerbe, bei dem die Nachfrage in den einzelnen Orten nicht so groß war, zum anderen aber auch eine gewisse Fachkenntnis notwendig war, um Messer, Scheren entsprechend richtig zu schleifen oder einen Kupferkessel also wirklich wieder dicht zu bekommen, der unter Umständen durchgescheuert war oder aus anderen Gründen Löcher bekommen hatte.“

M En seumeillant NC079510114 Länge 0´28´´ unter:

ERZÄHLERIN

Diese Wanderhandwerker und-kaufleute decken Nischen ab, die die ansässigen Handwerker und Kaufleute nicht bedienen. So bieten die Hausierer ein buntes Sortiment an Kurzwaren, Tüchern, Bändern, Kerzen, aber auch Tee, Kaffee oder Schmuck an. Die niedergelassenen Krämer betrachten sie oft als lästige Konkurrenz, sie werden als arbeitsscheu und sittlich verdorben verunglimpft. So heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 1769:

M weg

ZITATOR

„Sie betrügen den geringen Mann nicht nur mit schlechten Waren und übersetzen ihn im Preise, sondern bestehlen ihn auch noch manchmal dazu. Sie verführen die Weiber zu unnützer Pracht und Üppigkeit; sie schleppen ihnen heimlich Kaffee und starke Getränke zu, und verleiten sie gar oftmals zu andern Ausschweifungen.“

ERZÄHLER

Die Dienste der umherziehenden Hausierer und Handwerker werden zwar benötigt, dennoch müssen sie eher am Rande der Gesellschaft leben, so der Historiker Willi Kulke. Man beäugt sie mit Argwohn. Fehlt irgendwo ein Silberlöffel, fällt der Verdacht schnell auf diese wandernden Arbeiter.

10. ZUSPIELUNG Kulke 13:31

„Es waren halt Menschen, von denen man nicht so genau wusste, wo sie herkamen, wo sie lebten, wie sie lebten. … Das war dieser Makel der unehrenhaften Handwerker, Gewerke oder Gewerbe, die halt eben nicht wie ein Kaufmann oder ein Tischler oder ein Schumacher fest am Ort etabliert waren und entsprechend anerkannt. So waren halt eben Scherenschleifer, Kesselflicker oder andere halt schon eher ein unehrbares Handwerk.“

11. ZUSPIELUNG Museum (mit Musik)

ERZÄHLERIN

Das Ziegelei-Museum Lage. Eine eigene Ausstellung ist hier einer besonderen Gruppe von Wanderarbeitern aus dem westfälischen Lippe gewidmet. Die lippischen Wanderziegler haben vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur ihre Heimat-Region geprägt, sagt der Leiter des Ziegeleimuseums, Willi Kulke.

12. ZUSPIELUNG Kulke

„Ich würde einfach mal so vereinfacht sagen: Die Lipper haben Berlin aufgebaut. Die saßen in Glindow, Zehdenick rund um Berlin und haben Millionen von Ziegeln produziert, mit denen dann später diese riesen Mietskasernen mit drei, vier bis zu sieben Hinterhäusern entstanden, mit denen große Fabriken entstanden – und ohne die Lipper wäre diese Industrialisierung so nicht möglich gewesen, weil sie den Baustoff lieferten eben dafür.“

ERZÄHLER

Am Anfang ist die Not. Im damaligen Fürstentum Lippe leben die meisten Menschen von der Handspinnerei und -weberei in Heimarbeit. Mit dem Aufkommen der Textilfabriken ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlieren sie ihr Einkommen. Die Landwirtschaft wirft zu wenig ab, um die ganze Bevölkerung davon zu ernähren. Da bietet der Bauboom in Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen den arbeitssuchenden Lippern eine Chance. Der Historiker Willi Kulke:

13. ZUSPIELUNG Kulke 7:56

„Die schaffen einen Baustein, einen von vielen, um Industrialisierung in Deutschland überhaupt möglich zu machen. … Und da konnte man aber auch nur Wanderarbeiter gebrauchen, weil Ziegel kann man nur von März bis Oktober herstellen, danach es zu kalt und friert dieser Lehm. Und es ist nicht möglich, also Steine zu formen, die nicht wieder auseinanderbröseln. Dafür braucht man dann Wanderarbeiter, die bereit sind, genau das tun, in einer bestimmten Saison zu arbeiten und dann das Land aber auch wieder zu verlassen oder die Gegend wieder zu verlassen, weil man sie nicht haben wollte, wenn sie keine Arbeit hatten.“

ERZÄHLERIN

In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beschreibt Theodor Fontane 1873 das arbeitsame Leben der lippischen Wanderarbeiter vor den Toren Berlins:

ZITATOR

„Die Lipper, nur Männer, kommen im April und bleiben bis Mitte Oktober. Die Leute sind von einem besonderen Fleiß. Sie arbeiten von drei Uhr früh bis acht oder selbst neun Uhr abends, also nach Abzug einer Eßstunde immer noch nah an siebzehn Stunden. Sie verpflegen sich nach Lipper Landessitte, das heißt im wesentlichen westfälisch. Man darf sagen, sie leben von Erbsen und Speck, die beide […] aus der lippeschen Heimat bezogen werden, wo sie diese Artikel besser und billiger erhalten. Mitte Oktober treten sie, jeder mit einer Überschußsumme von nahezu 100 Talern, den Rückweg an […].“

M Lights Z8033153109 Länge 2´31´´ unter:

ERZÄHLER

In geschlossenen Gruppen fahren die Wanderziegler mit der Bahn jedes Frühjahr in die Fremde, um dort auf den Ziegeleien in Akkordarbeit ihr Geld zu verdienen. Vor allem die Familienväter schicken den Großteil ihres kargen Lohns sofort zurück in die Heimat, behalten nur ein kleines Taschengeld für sich. Die finanzielle Lage der Ziegler bessert sich erst in den 1920er Jahren – da können sich einige den Luxus eines eigenen Fahrrads oder Radios leisten, allerdings nur, wenn sie dafür monatelang eisern sparen.

ERZÄHLERIN

Die Männer werden in der Fabrik angelernt und eingearbeitet, jeder spezialisiert sich auf eine bestimmte Tätigkeit in der Produktion – sei es als Tongräber, Former oder Brenner. Bei schlechtem Lehm, Krankheit oder Unfällen müssen alle den Verlust tragen.

ERZÄHLER

Meist leben zwei Dutzend Arbeiter zusammen in einem Wohnhaus, manchmal auch nur in einer einfachen, spartanisch eingerichteten Bretterbude, immer jedoch in unmittelbarer Nähe zur Fabrik mit dem Ziegelofen. Immer wieder kommt es deshalb zu Bränden. Die Männer teilen sich einen Schlafsaal, jeder hat eine einfache Bettstatt, als Unterlage dient ein mit Stroh gefüllter Leinensack. Oft werden die Jüngsten, vielfach erst 14-Jährigen, abstellt zum Kochen, später leisten sich viele Mannschaften eine Haushälterin. Die Mahlzeiten nehmen sie gemeinsam ein. Man bildet eine Ersatzfamilie, hat kaum Kontakt zur Außenwelt -das schweißt zusammen.

ERZÄHLERIN

Die Familie bleibt während dieser Monate zuhause. Die meisten Frauen bewirtschaften einen kleinen Hof, halten Hühner und vielleicht ein Schwein, bauen Gemüse an, ziehen die Kinder groß und müssen zum Teil für die Pacht ihres Hofes beim Großbauern arbeiten. Ein richtiges Familienleben, einen Alltag, den Frau und Mann teilen, findet nur im Winter statt. Kontakt halten sie während der Monate der Trennung über Briefe, immer wieder bekommen die Wanderziegler auch ein Stück Schinken oder Speck aus der Heimat geschickt. Der Lohn für die Zieglerarbeit soll schließlich am Ende der Saison möglichst vollständig in den gemeinsamen Haushalt fließen.

ERZÄHLER

Die Hochphase der Wanderarbeit der lippischen Ziegler endet nach dem Ersten Weltkrieg. In Lippe entwickelt sich eine eigene Industrie und die Ziegler werden zunehmen durch Maschinen ersetzt.

M weg

ERZÄHLERIN

Und heute? Heute sind weltweit ganze Wirtschaftszweige auf Wanderarbeiter angewiesen – Menschen, die ihrer Heimat vorübergehend oder regelmäßig für etliche Monate oder Jahre den Rücken kehren, um dorthin zu ziehen, wo es Arbeit und ein Auskommen für sie gibt. Viele von ihnen werden ausgebeutet und wie Sklaven behandelt.

China: Abermillionen von Chinesen ziehen durch das riesige Land und ermöglichen dort unter härtesten Arbeitsbedingungen den gigantischen Bauboom. Indien: Rund 40 Millionen Wanderarbeiter kommen vom Land in die Städte, um dort meist als Tagelöhner in Fabriken, auf dem Bau oder für Transportunternehmen zu schuften. Unzählige leben in den Slums buchstäblich von der Hand in den Mund, etliche schlafen auf der Straße.

ERZÄHLER

Deutschland: Altenpflegerinnen aus Osteuropa stemmen ein Gros der häuslichen Pflege hierzulande; sie leben im Haushalt mit den Pflegebedürftigen, um die sich für einen kargen Lohn kümmern, fern der eigenen Familie in der Heimat. Spanien: Ein Heer an Saisonarbeitern schwärmt alljährlich auf die Felder, um Salat zu pflanzen, Melonen und Tomaten zu ernten oder Spargel zu stechen.

ERZÄHLERIN

In Europa arbeiten die Saisonarbeitskräfte zum Mindestlohn – zumindest auf dem Papier. Doch immer wieder ziehen die Arbeitgeber einen großen Anteil ab und behalten ihn ein -– für die Verpflegung, Arbeitsgeräte und die Unterbringung; eine Unterbringung, oft in einfachen Containern oder überfüllten Sammelunterkünften. Gewerkschaften kritisieren die Arbeitsbedingungen als Sklaverei: Oftmals muss ohne Ruhetage durchgearbeitet werden, Zehn-Stunden-Tage sind bei der körperlichen schweren Arbeit keine Ausnahme. Die Betriebe müssen für die Arbeiter während eines Zeitraums von drei Monaten keine Sozialabgaben zahlen.

M Jour Triste Z8028908106 Länge 0´55´´ unter:

ERZÄHLER

Auch wenn der Auszug in die Fremde quer durch die Geschichte sicherlich abenteuerliche Aspekte hat - als schiere Wanderslust ist das Massenphänomen der Wanderarbeit nicht zu erklären. Freiwillig lassen die wenigsten ihr Zuhause und ihre Familie zurück, um der Arbeit nachzuwandern. Davon ist Willi Kulke überzeugt. Der Arbeit wegen zeitweise oder langfristig seiner Heimat den Rücken zu kehren, bedeutet für die Menschen schließlich den Sprung ins kalte Wasser, das Kappen von gewachsenen Beziehungen und den Verlust der Heimat. Für viele eröffnet Wanderarbeit aber auch eine Perspektive, oftmals die einzige. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geändert.

M weg

14. ZUSPIELUNG Kulke 10:32

„Solange, wie Menschen arm sind irgendwo und Arbeit suchen, wird es immer Wanderarbeit geben. Und genauso wird es immer das Bedürfnis geben, für einen bestimmten Zeitraum möglichst billige Arbeitskräfte anzuwerben, die Dinge tun, die die heimische Gesellschaft selber so nicht tun will, so wie sie heute fast niemanden mehr finden, der bereit ist, für diese Löhne Erdbeeren zu pflücken oder Spargel zu stechen. … Solange wie keine gerechten, also wirklich auskömmliche Löhne dafür gezahlt werden für eine wirklich sehr, sehr schwere körperliche Arbeit, solange wird man immer andere Arbeitskräfte anwerben, die oft aus eigener Not halt eben bereit sind, jetzt zum Beispiel aus der Ukraine zu kommen, um hier Spargel zu stechen.“

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Die Globalisierung hat dem Phänomen der Wanderarbeiter neuen Schwung verliehen. Aber die Wanderarbeiter sind kein neues Phänomen. Schon die Arbeiter, die im Alten Ägypten die Pyramiden bauten, kamen aus dem ganzen Land und lebten nur zeitweilig nahe der Baustelle. (BR 2021) Autorin: Susanne Hofmann

Credits
Autor/in dieser Folge: Susanne Hofmann
Regie: Anja Scheifinger
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Bürkle, Christian Schuler
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Nicole Ruchlak

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Willi Kulke, Historiker und Museumsleiter im LWL-Industriemuseum Ziegelei Lage;
Lars Petersen, Archäologe, Ägyptologe und Kurator im Badischen Landesmuseum

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ERZÄHLER

Nach der sengenden Hitze des Tages legt sich die kühlende Nacht über das Land, diesen südlichsten Teil der ägyptischen Wüste. Beinahe lautlos gleitet das Boot des deutschen Ägyptologen Johannes Dümichen den Nil entlang, der Mond erhellt die zerklüfteten Felsen am Ufer in dieser Sommernacht des Jahres 1869. Fasziniert lässt der Reisende seinen Blick schweifen – und traut seinen Augen nicht:

ZITATOR

„War es Täuschung oder Wirklichkeit? … Wir kamen näher und ich konnte nun die Erscheinung in ihrer ganzen Grossartigkeit, konnte die riesenhafte Gestalt, wie die der anderen, ganz ebenso gebildeten neben ihr, deutlich übersehen, wie sie, mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, die Hand auf das Knie gestützt, in imposanter Ruhe dasassen und auf den Strom zu ihren Füssen herniederschauten.“

ERZÄHLERIN

Vier gigantische Statuen. Sie sitzen vor dem Felsentempel Ramses des Zweiten in Abu Simbel. Gut 20 Meter ragen sie in die Höhe. Ein Monument, das vom Selbstbewusstsein des Pharaos zeugt, der sich vor mehr als 3.000 Jahren in diesen Statuen verewigen ließ: Ramses der Große.

M Middle East Sunrise weg

Seine größte Errungenschaft ist jedoch nicht die Vielzahl imposanter Bauwerke, die er hinterlässt. Die Ägypter verdanken ihm eine nie dagewesene Blütezeit, ein halbes Jahrhundert in Wohlstand und Frieden.

ERZÄHLER

Denn Ramses gelingt die Aussöhnung mit den Erzfeinden Ägyptens, den Hethitern. Die Herrscher beider Länder schließen den ersten erhaltenen schriftlichen Friedensvertrag der Geschichte, und beide Höfe nehmen einen regen Austausch auf, schildert der Ägyptologe Lars Petersen. Er arbeitet am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe.

1. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)

„Man will dann ja auch sich weiterhin gut vertragen. Und dazu gehörten dann natürlich Prestigeobjekte und wertvolle Geschenke, die dann von beiden Seiten ausgetauscht worden sind.“

ERZÄHLERIN

Bei diesen diplomatischen Beziehungen spielt eine Personengruppe eine besondere Rolle: ägyptische Ärzte, die die damalige Welt in Erstaunen versetzen. Für Lars Petersen sind diese ägyptischen Ärzte die ersten Wanderarbeiter der Antike, von denen man sicher weiß. Wanderarbeiter - also Menschen, die, so die Definition des Duden, ihren „Arbeitsplatz weit entfernt von ihrem Wohnort aufsuchen“ müssen. Der Ägyptologe Lars Petersen:

2. ZUSPIELUNG Petersen (09:20)

„Weil diese ägyptischen Ärzte so bedeutend waren, hat dann der hethitische Herrscher darum gebeten, dass für eine Zeit die Ärzte zu ihm kommen, um da auch die Bevölkerung medizinisch zu versorgen - also die ganze Bevölkerung wahrscheinlich nicht – das ist dann der Königshof gewesen. Also die ägyptische Medizin war in der Zeit sehr, sehr fortschrittlich, man hatte erste chirurgische Eingriffe, die für die damalige Zeit, das ist ja 3.300 Jahre her, so bedeutend waren, dass sich die gesamte damalige Welt die Hände nach ihnen geleckt hat, um auch die an ihren Hof zu bekommen.“

ERZÄHLER

Allerdings dürfte die zeitweilige Betätigung am hethitischen Hof nicht wie bei den späteren und heutigen Wanderarbeitern aus ökonomischer Notwendigkeit erfolgt sein, so Petersen, sondern im Rahmen eines Austausches im Dienste der Diplomatie.

ERZÄHLERIN

Die ägyptischen Ärzte waren hoch spezialisiert, davon zeugen Papyrus-Quellen. Sie praktizierten beispielsweise als Augen-, Zahn- oder Ohrenärzte. Und Untersuchungen der erhaltenen Mumien mit den Mitteln der Endoskopie und der Computertomographie haben ergeben: Die ägyptischen Chirurgen konnten sogar Amputationen vornehmen und Prothesen einsetzen – eine Kunst, die in anderen Kulturen damals wahrscheinlich unbekannt war. Der Ägyptologe Petersen ist überzeugt, dass diese frühen Wanderarbeiter,

3. ZUSPIELUNG Petersen 12:04

„die Fachkräfte der damaligen Zeit dann natürlich ihre Techniken und ihr Wissen auch weitergegeben haben. Und so hat sich natürlich auch die gesamte antike Welt immer auch weiterentwickelt. … Für einen Ägypter war es sehr, sehr wichtig, von seiner Religion her, dass er wieder zurück kehrt nach Ägypten, … dass er, wenn er verstirbt, in der Erde Ägyptens nahe beim Nil bestattet wird … Deshalb wissen wir auch, dass diese ägyptischen Ärzte auch wieder zurück nach Ägypten kamen.“

M Moresca da gamba (a) C1601420112 Länge 0´31´´ unter:

ERZÄHLER

Ebenfalls im antiken Ägypten finden sich erste Spuren einer weiteren Gruppe historisch bedeutsamer Wanderarbeiter: Als Anfang des 19. Jahrhunderts europäische Abenteuerreisende die monumentalen Ramses-Statuen im ägyptischen Abu Simbel wiederentdecken, machen sie an den Figuren eine spannende Beobachtung. Lars Petersen:

4. ZUSPIELUNG Petersen 21:00

„Die waren ganz erstaunt, dass sie neben den ägyptischen Hieroglyphen auch griechische Inschriften gefunden haben, also keine offiziellen Inschriften, die wirklich gezielt in Stein gemeißelt waren, sondern wie heute, so Graffiti, also „I was here“.

ERZÄHLERIN

Die griechischen „Graffiti“ geben den Archäologen zunächst Rätsel auf. Wie haben sich Griechen nach Ägypten verirrt, mehrere Tausend Kilometer südlich ihrer Heimat?

5. ZUSPIELUNG Petersen 21:00

„Da haben sich griechische Söldner, die unter einem bestimmten Pharao tätig waren, nämlich dem Pharao Psammetich dem Zweiten im sechsten Jahrhundert, die haben sich da verewigt, und die haben dann quasi so aufgeschrieben ihren Namen und ihre Kompagnie und unter wem sie gedient haben. Die müssen da irgendwie eine Rast gehalten haben.“

ERZÄHLER

Griechische Söldner sind ab 600 vor Christus im östlichen Mittelmeerraum überaus gefragt – nicht nur bei den ägyptischen Herrschern. In der Region kommt es immer wieder zu militärischen Konflikten, gute Kämpfer sind gefragt. In den Quellen werden die griechischen Söldner „eherne Männer“ genannt, in Anspielung auf ihre Rüstung und ihre Waffen, die aus Eisen geschmiedet sind, so Lars Petersen:

6. ZUSPIELUNG Petersen 24:47

„Die waren sehr gut ausgebildet, aber auch ausgerüstet, und das war vor allem das, was man schätzte. Die kamen mit Sack und Pack, also die hatten ihre Rüstung, ihre selbstgeschmiedeten oder die sie sich haben fertigen lassen, die sie natürlich gut schützten. Sie hatten präzise, gute Waffen, die sie selbst verwendeten, und die einfach dann den Gegnern überlegen waren. … also das muss wohl so eine richtige Eliteeinheit gewesen sein, … vielleicht so etwas wie die französische Fremdenlegion, die bestimmte Aufgaben dann im Militärdienst in Ägypten übernommen haben.“

M Moresca da gamba (a) C1601420112 Länge 0´47´´ unter:

ERZÄHLERIN

Für ihre Dienste unter fremden Herrschern und in fremden Regionen werden diese frühen militärischen Wanderarbeiter fürstlich entlohnt. In Ägypten erhalten sie pures Gold. Dafür müssen sie allerdings auch fern der Heimat kämpfen, und manch einer muss in der Fremde auch sein Leben lassen.

ERZÄHLER

Daheim ist das Ansehen von Söldnern eher gering, sie gelten als Außenseiter, leben meist abseits der Polis. Aber oft sehen Männer keinen anderen Ausweg: Die Bevölkerung Griechenlands wächst und im gebirgigen Land werden die Lebensmittel knapp. Viele Männer müssen sich anderswo nach einer Lebensgrundlage umschauen und entscheiden sich oft für ein Leben als Söldner auf fremden Territorien.

M weg

M Arabesk C1601420116 Länge 0´31´´ unter:

ERZÄHLERIN

Im gleichen Zeitraum, um 500 vor Christus, sind andere frühe Wanderarbeiter dokumentiert: Im antiken Persien entsteht die heutige Weltkulturerbe-Stätte Persepolis, die Stadt der Perser. Eine riesige, prachtvolle Palast- und Tempel-Anlage. Erbauen ließen sie die persischen Großkönige, so Lars Petersen:

M weg

7. ZUSPIELUNG Petersen

„Die haben wirklich gezielt aus ihren neuen Provinzen oder Satrapien, so hieß es bei den Persern, haben die sich dann die interessanten Leute geholt. Also da gibt es …Quellen aus Persepolis, die dann sagen: Auf unserer Baustelle des Königspalastes haben 200 Ägypter und 200 Syrer gearbeitet… teilweise Namen und die Gehaltsforderungen und was die bekommen haben und was die auch gemacht haben - also das waren Steinmetze, das waren Holzhandwerker, also Schreiner, die auf diesen Baustellen dann auch gearbeitet haben, und dann wahrscheinlich auch wieder in die Regionen zurückgegangen sind, wo sie ursprünglich herkamen.“

ERZÄHLER

Auch für das römische Reich ist der Einsatz diverser Wanderarbeiter verbürgt. Insbesondere in der Landwirtschaft waren sie gang und gäbe. Zu Erntezeiten waren Kolonnen von Erntehelfern aus anderen Regionen für Großgrundbesitzer tätig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

ERZÄHLERIN

Schon die frühen Wanderarbeiter kommen bei Tätigkeiten zum Einsatz, die besondere Kenntnisse und Fähigkeiten erfordern – und, wenn die heimische Bevölkerung nicht damit dienen kann oder will. Der Historiker Willi Kulke, der das Industriemuseum in Lage leitet, hat dem Phänomen der Wanderarbeit in Geschichte und Gegenwart eine Ausstellung gewidmet. Er ist davon überzeugt: Wanderarbeiter gab es schon immer.

8. ZUSPIELUNG Kulke 1:39

„Es gab immer schon Gegenden, in denen Mehrbedarf war an Arbeit, und wo weniger Bedarf war und Wanderarbeit ist ganz häufig auch davon bestimmt, dass die Arbeit nur saisonal anliegt. … in der Landwirtschaft gibt‘s ganz viele Bereiche, die nie existieren würden, … ohne dass Menschen aus Gegenden kommen, in der sie noch weniger verdienen und die deswegen ein Interesse daran haben, für einen bestimmten Zeitraum auch in der Fremde zu arbeiten.“

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ERZÄHLER

Gerade im Mittelalter gab es viele Handwerker, die davon lebten, mit ihrem Leiterwagen über Land von Ort zu Ort zu ziehen, um den Menschen ihre Dienste und Waren anzubieten. Viele waren gezwungen, längere Zeit auf der Straße zu leben, sie schliefen in Schuppen oder Unterständen. Liefen die Geschäfte schlecht, waren sie auf Almosen angewiesen. Kesselflicker, Bürstenbinder, Scherenschleifer, genauso wie etwa auch Hausierer – alle zählen zum fahrenden Volk. Viele von ihnen sind Juden, Sinti und Roma, die sich nicht in den Städten niederlassen dürfen und von den Zünften ausgeschlossen sind. Der Historiker Willi Kulke:

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9. ZUSPIELUNG Kulke 12:12

„Das waren vor allen Dingen Berufe, die in der Menge in der Stadt nicht gebraucht wurden – so ein Kesselschmied, der konnte ein ganzes Jahr nicht davon in einer Stadt leben. Genauso wenig ein Scherenschleifer, … der zog durch ein bestimmtes Gebiet und war halt eins, zwei, vielleicht auch viermal im Jahr in den entsprechenden Dörfern für einen Tag oder zwei, verrichtete seine Arbeit, aber dann war das auch erledigt mit der Menge der Scheren und Messer, die entsprechend nachzuschleifen waren, und er zog weiter in den nächsten Ort nach. Also bei diesen Berufen ist es vor allen Dingen ein Gewerbe, bei dem die Nachfrage in den einzelnen Orten nicht so groß war, zum anderen aber auch eine gewisse Fachkenntnis notwendig war, um Messer, Scheren entsprechend richtig zu schleifen oder einen Kupferkessel also wirklich wieder dicht zu bekommen, der unter Umständen durchgescheuert war oder aus anderen Gründen Löcher bekommen hatte.“

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Diese Wanderhandwerker und-kaufleute decken Nischen ab, die die ansässigen Handwerker und Kaufleute nicht bedienen. So bieten die Hausierer ein buntes Sortiment an Kurzwaren, Tüchern, Bändern, Kerzen, aber auch Tee, Kaffee oder Schmuck an. Die niedergelassenen Krämer betrachten sie oft als lästige Konkurrenz, sie werden als arbeitsscheu und sittlich verdorben verunglimpft. So heißt es in einem Bericht aus dem Jahr 1769:

M weg

ZITATOR

„Sie betrügen den geringen Mann nicht nur mit schlechten Waren und übersetzen ihn im Preise, sondern bestehlen ihn auch noch manchmal dazu. Sie verführen die Weiber zu unnützer Pracht und Üppigkeit; sie schleppen ihnen heimlich Kaffee und starke Getränke zu, und verleiten sie gar oftmals zu andern Ausschweifungen.“

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Die Dienste der umherziehenden Hausierer und Handwerker werden zwar benötigt, dennoch müssen sie eher am Rande der Gesellschaft leben, so der Historiker Willi Kulke. Man beäugt sie mit Argwohn. Fehlt irgendwo ein Silberlöffel, fällt der Verdacht schnell auf diese wandernden Arbeiter.

10. ZUSPIELUNG Kulke 13:31

„Es waren halt Menschen, von denen man nicht so genau wusste, wo sie herkamen, wo sie lebten, wie sie lebten. … Das war dieser Makel der unehrenhaften Handwerker, Gewerke oder Gewerbe, die halt eben nicht wie ein Kaufmann oder ein Tischler oder ein Schumacher fest am Ort etabliert waren und entsprechend anerkannt. So waren halt eben Scherenschleifer, Kesselflicker oder andere halt schon eher ein unehrbares Handwerk.“

11. ZUSPIELUNG Museum (mit Musik)

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Das Ziegelei-Museum Lage. Eine eigene Ausstellung ist hier einer besonderen Gruppe von Wanderarbeitern aus dem westfälischen Lippe gewidmet. Die lippischen Wanderziegler haben vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg nicht nur ihre Heimat-Region geprägt, sagt der Leiter des Ziegeleimuseums, Willi Kulke.

12. ZUSPIELUNG Kulke

„Ich würde einfach mal so vereinfacht sagen: Die Lipper haben Berlin aufgebaut. Die saßen in Glindow, Zehdenick rund um Berlin und haben Millionen von Ziegeln produziert, mit denen dann später diese riesen Mietskasernen mit drei, vier bis zu sieben Hinterhäusern entstanden, mit denen große Fabriken entstanden – und ohne die Lipper wäre diese Industrialisierung so nicht möglich gewesen, weil sie den Baustoff lieferten eben dafür.“

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Am Anfang ist die Not. Im damaligen Fürstentum Lippe leben die meisten Menschen von der Handspinnerei und -weberei in Heimarbeit. Mit dem Aufkommen der Textilfabriken ab Mitte des 19. Jahrhunderts verlieren sie ihr Einkommen. Die Landwirtschaft wirft zu wenig ab, um die ganze Bevölkerung davon zu ernähren. Da bietet der Bauboom in Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen den arbeitssuchenden Lippern eine Chance. Der Historiker Willi Kulke:

13. ZUSPIELUNG Kulke 7:56

„Die schaffen einen Baustein, einen von vielen, um Industrialisierung in Deutschland überhaupt möglich zu machen. … Und da konnte man aber auch nur Wanderarbeiter gebrauchen, weil Ziegel kann man nur von März bis Oktober herstellen, danach es zu kalt und friert dieser Lehm. Und es ist nicht möglich, also Steine zu formen, die nicht wieder auseinanderbröseln. Dafür braucht man dann Wanderarbeiter, die bereit sind, genau das tun, in einer bestimmten Saison zu arbeiten und dann das Land aber auch wieder zu verlassen oder die Gegend wieder zu verlassen, weil man sie nicht haben wollte, wenn sie keine Arbeit hatten.“

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In seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ beschreibt Theodor Fontane 1873 das arbeitsame Leben der lippischen Wanderarbeiter vor den Toren Berlins:

ZITATOR

„Die Lipper, nur Männer, kommen im April und bleiben bis Mitte Oktober. Die Leute sind von einem besonderen Fleiß. Sie arbeiten von drei Uhr früh bis acht oder selbst neun Uhr abends, also nach Abzug einer Eßstunde immer noch nah an siebzehn Stunden. Sie verpflegen sich nach Lipper Landessitte, das heißt im wesentlichen westfälisch. Man darf sagen, sie leben von Erbsen und Speck, die beide […] aus der lippeschen Heimat bezogen werden, wo sie diese Artikel besser und billiger erhalten. Mitte Oktober treten sie, jeder mit einer Überschußsumme von nahezu 100 Talern, den Rückweg an […].“

M Lights Z8033153109 Länge 2´31´´ unter:

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In geschlossenen Gruppen fahren die Wanderziegler mit der Bahn jedes Frühjahr in die Fremde, um dort auf den Ziegeleien in Akkordarbeit ihr Geld zu verdienen. Vor allem die Familienväter schicken den Großteil ihres kargen Lohns sofort zurück in die Heimat, behalten nur ein kleines Taschengeld für sich. Die finanzielle Lage der Ziegler bessert sich erst in den 1920er Jahren – da können sich einige den Luxus eines eigenen Fahrrads oder Radios leisten, allerdings nur, wenn sie dafür monatelang eisern sparen.

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Die Männer werden in der Fabrik angelernt und eingearbeitet, jeder spezialisiert sich auf eine bestimmte Tätigkeit in der Produktion – sei es als Tongräber, Former oder Brenner. Bei schlechtem Lehm, Krankheit oder Unfällen müssen alle den Verlust tragen.

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Meist leben zwei Dutzend Arbeiter zusammen in einem Wohnhaus, manchmal auch nur in einer einfachen, spartanisch eingerichteten Bretterbude, immer jedoch in unmittelbarer Nähe zur Fabrik mit dem Ziegelofen. Immer wieder kommt es deshalb zu Bränden. Die Männer teilen sich einen Schlafsaal, jeder hat eine einfache Bettstatt, als Unterlage dient ein mit Stroh gefüllter Leinensack. Oft werden die Jüngsten, vielfach erst 14-Jährigen, abstellt zum Kochen, später leisten sich viele Mannschaften eine Haushälterin. Die Mahlzeiten nehmen sie gemeinsam ein. Man bildet eine Ersatzfamilie, hat kaum Kontakt zur Außenwelt -das schweißt zusammen.

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Die Familie bleibt während dieser Monate zuhause. Die meisten Frauen bewirtschaften einen kleinen Hof, halten Hühner und vielleicht ein Schwein, bauen Gemüse an, ziehen die Kinder groß und müssen zum Teil für die Pacht ihres Hofes beim Großbauern arbeiten. Ein richtiges Familienleben, einen Alltag, den Frau und Mann teilen, findet nur im Winter statt. Kontakt halten sie während der Monate der Trennung über Briefe, immer wieder bekommen die Wanderziegler auch ein Stück Schinken oder Speck aus der Heimat geschickt. Der Lohn für die Zieglerarbeit soll schließlich am Ende der Saison möglichst vollständig in den gemeinsamen Haushalt fließen.

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Die Hochphase der Wanderarbeit der lippischen Ziegler endet nach dem Ersten Weltkrieg. In Lippe entwickelt sich eine eigene Industrie und die Ziegler werden zunehmen durch Maschinen ersetzt.

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Und heute? Heute sind weltweit ganze Wirtschaftszweige auf Wanderarbeiter angewiesen – Menschen, die ihrer Heimat vorübergehend oder regelmäßig für etliche Monate oder Jahre den Rücken kehren, um dorthin zu ziehen, wo es Arbeit und ein Auskommen für sie gibt. Viele von ihnen werden ausgebeutet und wie Sklaven behandelt.

China: Abermillionen von Chinesen ziehen durch das riesige Land und ermöglichen dort unter härtesten Arbeitsbedingungen den gigantischen Bauboom. Indien: Rund 40 Millionen Wanderarbeiter kommen vom Land in die Städte, um dort meist als Tagelöhner in Fabriken, auf dem Bau oder für Transportunternehmen zu schuften. Unzählige leben in den Slums buchstäblich von der Hand in den Mund, etliche schlafen auf der Straße.

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Deutschland: Altenpflegerinnen aus Osteuropa stemmen ein Gros der häuslichen Pflege hierzulande; sie leben im Haushalt mit den Pflegebedürftigen, um die sich für einen kargen Lohn kümmern, fern der eigenen Familie in der Heimat. Spanien: Ein Heer an Saisonarbeitern schwärmt alljährlich auf die Felder, um Salat zu pflanzen, Melonen und Tomaten zu ernten oder Spargel zu stechen.

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In Europa arbeiten die Saisonarbeitskräfte zum Mindestlohn – zumindest auf dem Papier. Doch immer wieder ziehen die Arbeitgeber einen großen Anteil ab und behalten ihn ein -– für die Verpflegung, Arbeitsgeräte und die Unterbringung; eine Unterbringung, oft in einfachen Containern oder überfüllten Sammelunterkünften. Gewerkschaften kritisieren die Arbeitsbedingungen als Sklaverei: Oftmals muss ohne Ruhetage durchgearbeitet werden, Zehn-Stunden-Tage sind bei der körperlichen schweren Arbeit keine Ausnahme. Die Betriebe müssen für die Arbeiter während eines Zeitraums von drei Monaten keine Sozialabgaben zahlen.

M Jour Triste Z8028908106 Länge 0´55´´ unter:

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Auch wenn der Auszug in die Fremde quer durch die Geschichte sicherlich abenteuerliche Aspekte hat - als schiere Wanderslust ist das Massenphänomen der Wanderarbeit nicht zu erklären. Freiwillig lassen die wenigsten ihr Zuhause und ihre Familie zurück, um der Arbeit nachzuwandern. Davon ist Willi Kulke überzeugt. Der Arbeit wegen zeitweise oder langfristig seiner Heimat den Rücken zu kehren, bedeutet für die Menschen schließlich den Sprung ins kalte Wasser, das Kappen von gewachsenen Beziehungen und den Verlust der Heimat. Für viele eröffnet Wanderarbeit aber auch eine Perspektive, oftmals die einzige. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geändert.

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14. ZUSPIELUNG Kulke 10:32

„Solange, wie Menschen arm sind irgendwo und Arbeit suchen, wird es immer Wanderarbeit geben. Und genauso wird es immer das Bedürfnis geben, für einen bestimmten Zeitraum möglichst billige Arbeitskräfte anzuwerben, die Dinge tun, die die heimische Gesellschaft selber so nicht tun will, so wie sie heute fast niemanden mehr finden, der bereit ist, für diese Löhne Erdbeeren zu pflücken oder Spargel zu stechen. … Solange wie keine gerechten, also wirklich auskömmliche Löhne dafür gezahlt werden für eine wirklich sehr, sehr schwere körperliche Arbeit, solange wird man immer andere Arbeitskräfte anwerben, die oft aus eigener Not halt eben bereit sind, jetzt zum Beispiel aus der Ukraine zu kommen, um hier Spargel zu stechen.“

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