Artwork

Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.
Player FM - Podcast-App
Gehen Sie mit der App Player FM offline!

Deutsche im türkischen Exil - Wissenschaftsmigration 1933-1945

22:51
 
Teilen
 

Manage episode 298118793 series 2459771
Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.

In der Zeit des Nationalsozialismus gingen viele Wissenschaftler ins Exil in die Türkei. Die türkische Regierung hatte Reformen angestoßen, das Land brauchte westliches Know-how. Ausgebürgerten Wissenschaftlern wurde in ihren Pass "heimatlos" gestempelt. 'Haymatloz' wurde später ein Synonym für Exilanten im Türkischen. Autorin: Claudia Steiner (BR 2021)

Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Peter Veit
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Elisabeth Weber-Belling, Tochter des Bildhauers Rudolf Belling;
Burcu Dogramaci, Professorin für Kunstgeschichte an der LMU München;
Sabine Mangold-Will, apl.-Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal;
Sabine Hillebrecht, Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin

Linktipps:

Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1: „Sarilsam“ - C1438820106 – 23 Sek

O-TON 1 (Belling, 25.05)

Für mich – ich bin da geboren worden. Und ich bin da aufgewachsen. Für mich war es Heimat, und für meine Mutter war es auch Heimat, und für meinen Vater wurde es zur Heimat.

SPRECHER 1

…sagt Elisabeth Weber-Belling. Sie wurde 1943 in Istanbul geboren und verbrachte ihre gesamte Kindheit und Jugend am Bosporus.

MUSIK 2: „Dialoge“ von Heinrich Hartl – M0009164 000 – 51 Sek

SPRECHER 1

Ihr Vater, der Berliner Bildhauer Rudolf Belling, verließ das nationalsozialistische Deutschland und emigrierte am 6. Januar 1937 in die Türkei – wie viele andere kritische und verfolgte Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle. Rudolf Belling, der für seine abstrakte Skulptur „Dreiklang“ bekannt ist, hatte viel für Gewerkschaften gearbeitet. Einige seiner Arbeiten wurden von den Nazis gepriesen, andere diffamiert.

So wurde seine Bronze-Skulptur des Boxers Max Schmeling 1937 in der Großen Deutschen Kunstausstellung im Münchner Haus der Kunst gezeigt – einer von Adolf Hitler kuratierten Schau. Gleichzeitig aber fanden sich Bellings Arbeiten in der Ausstellung „Entartete Kunst“. Elisabeth Weber-Belling:

O-TON 2 (Belling, 3.11)

Die Aufträge fielen weg, freies Arbeiten war nicht mehr möglich, seine Arbeiten wurden diffamiert. (…) Also, wenn sie ihn gekannt hätten, mit seinem Temperament und (…) mit seinem kühlen Überlegen. Er zog den Hut und sagte: ‚Dann war es dann erst Mal‘. Erstmal vielleicht für zwei Jahre, denn er hatte ja erst mal einen Zweijahresvertrag.

SPRECHER 1

Die meisten Experten blieben nur für einige Jahre in der Türkei, Belling aber lebte und arbeitete viele Jahre in Istanbul. Er war neugierig auf das Land und die Menschen, sagt seine Tochter.

O-TON 3 (Belling, 0.35)

Als das Angebot aus der Türkei kam (…) da hat er sofort zugesagt. Er bekam ja das Angebot, mit einer blutjungen Generation zusammenzuarbeiten. Die Chance hatte er bis dahin in der Heimat nicht gehabt.

MUSIK 3: „Rast Peşrev“ - C1575380305 – 1:13 Min

O-TON 4 (gesprochen von Dr. Ergün Özsoy)

Dünyada her şey için, medeniyet için, hayat için, başarı için, en hakiki mürşit bilimdir, fendir."

SPRECHER 2

"Für alles auf der Welt - für die Zivilisation, das Leben, den Erfolg - ist Wissen und Wissenschaft der wahre Leitfaden."

SPRECHER 1

Ein Zitat des Gründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Die 1923 gegründete Türkei befand sich damals im Umbruch. Atatürk, erster Präsident der Türkei, brach mit der osmanischen Vergangenheit und wollte einen modernen Staat aufbauen. So wurden zum Beispiel 1926 das Schweizer Zivilgesetzbuch und das italienische Strafgesetzbuch übernommen. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen. Im selben Jahr wurde die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet ersetzt. Atatürk wollte westliches Know-how ins Land holen, sagt Burcu Dogramaci. Sie ist Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

O-TON 5 (Dogramaci, 5.45)

Hintergrund war, dass nach der Gründung der türkischen Republik 1923 sehr schnell klar war, dass es einen Cut zum Osmanischen Reich geben soll. Das heißt: Wissenschaft, Bildung, Kultur sollte ganz neu formiert, aufgebaut werden. Und dafür entledigten sich dann auch die Ministerien teils sehr rasch und rüde dem (…) wissenschaftlichen Personal, was bis dato beschäftigt war, zum Beispiel Architekten, die gelehrt hatten, die aber schon in der Zeit des Osmanischen Reiches lehrten.

SPRECHER 1

Die Regierung suchte deshalb bereits seit Mitte der 1920er-Jahre Hilfe bei der Modernisierung des Landes. Einige Experten kamen schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in die Türkei, andere erst, als es in Deutschland für sie unerträglich, schwierig oder gefährlich wurde, sagt die Historikerin Sabine Mangold-Will. Sie ist außerplanmäßige Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der der Bergischen Universität Wuppertal.

O-TON 6 (Mangold, 8.40)

Dann hat man angefangen zu sagen: Ja, also, um auf den modernsten Stand der Wissenschaft zu kommen, wollen wir, (…) Berater aus dem Ausland haben. Das war auch umstritten, weil (…) es gab so eine Erinnerung an (…) semi-koloniale Situationen aus dem Osmanischen Reich, also heißt: (…) Hat man zu viele ausländische Berater, gibt man sich ja auch in deren Hand. Und deswegen schafft man dann ein (…) System, das sagt: Wir (…) wollen die einladen. Wo die herkommen, ist uns völlig egal. Wir brauchen (…) die besten Leute, und wir machen ein Vertragssystem, das vorsieht: A: dass sie innerhalb kürzester Zeit Türkisch lernen müssen. Und B: dass sie nur begrenzt da sind. Das heißt, es werden ohnehin nur Fünf-Jahres-Verträge ausgeschrieben, oder man macht von vornherein klar, dass diese Berater nur vorübergehend kommen sollen.

SPRECHER 1

So kamen zwischen 1933 und 1945 neben dem Bildhauer Belling unter anderem der Stadtplaner Gustav Oelsner, der Architekt Bruno Taut, der Mediziner Albert Eckstein, der Botaniker Leo Brauner und der Sozialdemokrat und spätere Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter in die Türkei. Insgesamt lebten zeitweise etwa 1.000 Deutsche in der Türkei – Professoren aus verschiedenen Fachbereichen, wissenschaftliche Mitarbeiter, Experten und Künstler mit ihren Familien. Nicht alle waren Juden. Manche waren Sozialdemokraten, andere Kommunisten, oder sie hatten sich wie Belling für Gewerkschaften engagiert. Sabine Mangold-Will:

O-TON 7 (Mangold, 10.54)

Die stehen auf der Straße und sind einfach zufällig da, weil sie eben entlassen worden sind. Und das heißt, bei denen besteht auch eine große Bereitschaft zu gehen. Denn die Türkei fragt vorher zum Beispiel auch … in Frankreich an. Und da lehnen viele Wissenschaftler es einfach ab zu kommen, weil das nicht attraktiv ist. Also um das einfach mal zugespitzt und krass zu sagen. (…) Wer wollte 1933 schon in die Türkei? Ankara war ein Nest, das noch gar nicht gebaut war. Und Istanbul, ja, kann man machen. Muss man aber halt eine besondere Affinität irgendwie auch dafür haben. Warum sollte man dort hingehen? (…) Also da brauchte es einfach mehr, um zu sagen, das nehme ich jetzt auf mich, das mach ich. Ich ziehe auch mit Kind und Kegel um (...) das sind einfach Dinge, wo man sieht, dass das gar nicht so einfach war, Leute aus Europa zu bekommen. Und deswegen war es der Türkei, um das klar zu sagen, völlig egal, was für eine politische oder konfessionelle Ausrichtung die Menschen hatten. Und außerdem war es so, dass diese jüdischen Wissenschaftler von den Türken zunächst einmal nicht als Juden wahrgenommen worden sind, sondern als deutsche Wissenschaftler. Und das ist der entscheidende Punkt.

MUSIK 4: „Anne ermittelt“ - Z8022370117 – 1:25 Min

SPRECHER 1

Grundlage für die Arbeit in der Türkei war der 1927 geschlossene deutsch-türkische Niederlassungsvertrag. Allerdings waren eben nur etablierte Experten und Wissenschaftler erwünscht. Deutsche aus anderen Berufsgruppen bekamen in der Regel keine Arbeits- und damit auch keine Aufenthaltserlaubnis. Bereits seit 1932 galten in dem Land Berufsbeschränkungen zum Beispiel für Handwerker.

Forscher und Wissenschaftler dagegen waren gefragt. Oft lief die Anwerbung über Empfehlungen zum Beispiel über den Pathologen Philipp Schwartz. Schwartz wurde als jüdischer Professor aufgrund des am 7. April 1933 erlassenen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen und ging zunächst nach Zürich. Dort gründete er die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland und nahm Kontakt mit der Türkei auf. Er vermittelte zahlreiche Wissenschaftler und arbeitete selbst viele Jahre als Pathologe an der Universität Istanbul. Auch der Schweizer Pädagoge Albert Malche beriet die türkische Regierung – er schlug vor allem jüdische und politisch verfolgte deutsche Gelehrte zur Berufung an den Universitäten vor. Aber es gab auch zahlreiche andere Kontakte und Empfehlungen, sagt die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci.

O-TON 8 (Dogramaci, 3.33)

Das Unterrichtsministerium in Ankara war auf der Suche nach Experten aus dem Ausland, die eben auch teils Professuren übernehmen sollten. Und es gab einen Ministerialbeamten im Unterrichtsministerium, der hieß Cevat Dursunoğlu, der selbst in Berlin studiert hatte, also auch Deutsch sprechen konnte, sich sehr gut auskannte und tatsächlich sowohl Personen empfohlen hat als auch die Verhandlungen übernommen hat. Und dann war es eben so, dass auch schon Personen, die in der Türkei tätig waren oder gute Kontakte hatten, empfohlen haben.

MUSIK 5: „Eviç Taksim“ - M0039046108 – 39 Sek

SPRECHER 1

Gejagt von den Nationalsozialisten, gefragt in der Türkei: Für viele Deutsche bedeutete ein Vertrag in der Türkei zunächst einmal Sicherheit für sich und ihre Familien. Oft empfandendie Exil-Familien deshalb auch lange nach ihrem Aufenthalt eine tiefe Verbundenheit mit der Türkei und eine große Dankbarkeit, sagt Sabine Hillebrecht.

Sie arbeitet am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und hatte im Jahr 2000 an einer Ausstellung des Vereins Aktives Museum in Berlin mit dem Namen „Haymatloz“ mitgewirkt:

O-TON 9 (Hillebrecht, 7.05)

Wenn man jetzt mal guckt, was in Deutschland passierte, war das ja eine unglaublich privilegierte Situation. Der Status einer türkischen Universität war natürlich im wissenschaftlichen Bereich nicht so groß wie zuvor der Status an einer deutschen Universität wissenschaftlich tätig zu sein. Aber ganz abgesehen davon: Sie hatten feste Arbeitsverträge. Sie hatten Umzugskosten, die ihnen erstattet wurden. Sie wurden sehr, sehr gastfreundlich aufgenommen. Sie (…) konnten zum Teil auch Bedingungen stellen, was Übersetzung anging, was Mitarbeiterstab anging. Also, da gab es eigentlich gar keine Frage. Das war ein unglaubliches Glück, dort tätig zu werden.

MUSIK 6: „Rast Peşrev“ - C1575380305 – 53 Sek

SPRECHER 1

Der Architekt und Stadtplaner Martin Wagner schrieb zum Beispiel in einem Brief, er empfinde die Zeit in der Türkei wie in einem „Wartesaal erster Klasse“. Viele Wissenschaftler brachten Mitarbeiter, Hausangestellte sowie ihre Frauen und Kinder mit in die Türkei. Je nach Familie, nach Hintergrund, nach Wohnort war das Leben der Exil-Kinder sehr unterschiedlich. Elisabeth Weber-Belling wuchs zum Beispiel mit fünf Sprachen auf: Deutsch und Französisch, ihr Vater hatte eine belgische Mutter, Italienisch, ihre Mutter war eine in Istanbul geborene Italienerin, Griechisch, die Sprache des Hauspersonals der Familie Belling, und Türkisch, das sie im Alltag und beim Spielen auf der Straße lernte. Istanbul war damals zwar schon eine große Stadt, dennoch hatte sie als Kind viele Freiheiten.

O-TON 10 (Belling, 26.54)

Also von (…) der Möglichkeit her, mich zu bewegen, vieles zu erleben als Kind, sei es die Insel, sei es das Schwarze Meer, sei es den Bosporus, sei es Ferien in dem alten Polonezköy, das damals noch wirklich ein verwunschenes Dorf war. (…) Großzügig vom Elternhaus her, (…) frei, sehr selbständig. Also, ich denke schon so an meine ersten Schritte am Taksim Platz, in dem Taksim-Park. Mit drei, mit vier Jahren konnte man alleine mit Freunden dort spielen. Und wenn es fünf Uhr wurde oder halb sechs, dann rief unsere Aphrodite oben vom vierten Stock: ‚Kommt ihr jetzt nach Hause‘ - und dann gingen wir – ja, ist ja heute nicht mehr vorzustellen, Istanbul war ja auch weniger bevölkert damals.

SPRECHER 1

Viele Kinder gingen auf die deutsche oder österreichische Schule, andere besuchten türkische Schulen oder hatten Privatlehrer und -Lehrerinnen. In Ankara gab es zum Beispiel auch eine Botschaftsschule. Sabine Hillebrecht.

O-TON 11 (Hillebrecht, 20.22)

Das war ja die deutsche Schule, wo eben die Botschaftsangehörigen der Reichsdeutschen ihre Kinder hinschickten. Das wollte man ja jetzt auch nicht so gerne, sich dem da anschließen. (…) Und es hat sich dann relativ schnell so herausgestellt, dass man eine Privatlehrerin gefunden hat, die eine Zeit lang in Deutschland auch studiert hatte, in Augsburg - alle möglichen Dinge: Mathematik, Physik und so ein unglaubliches Wissen hatte. Die Frau Kudrit. Und die wurde engagiert und dorthin wurden die Kinder geschickt. Und das eben über die ganze Zeit bis 1945. Also es gibt Kinder, die eigentlich ihr ganzes Schulleben dort verbracht haben.

MUSIK 7: „Anne ermittelt“ – Z8022370117 - 1 Min.

SPRECHER 1

Zwischen 1933 und 1945 lebten in der Türkei aber nicht nur entlassene und verfolgte Wissenschaftler, sondern auch Diplomaten und Nationalsozialisten.

In türkischen Städten bildeten sich unterschiedliche Gruppen heraus. Reichsdeutsche und Nationalsozialisten wurden die Kolonie A genannt, kritische, verfolgte oder unliebsame Wissenschaftler und Künstler nannten sich Kolonie B. Es kam vor, dass jüdische Emigranten mit nationalsozialistischen Wissenschaftlern zusammenarbeiten mussten. 1939 wollte das Reichserziehungsministerium einen Überblick darüber bekommen, wie viele Juden und Nicht-Nationalsozialisten an türkischen Universitäten lehrten, zur Erfassung wurde ein Vertreter entsandt. Zwischen den beiden Gruppen gab es Kontakte, aber auch Berührungsängste, sagt Sabine Hillebrecht:

O-TON 12 (Hillebrecht, 5.36)

Aus gutem Grund. Also die Verfolgten wollten auch nicht ausgespitzelt werden. Es gab ja schließlich auch eine Auslandsorganisation der NSDAP, die auch als langer Arm des Deutschen Reiches dort hineinregierte in die Situation und man womöglich aufgefordert wurde, seinen deutschen Pass an der deutschen Botschaft abzugeben oder dort einbestellt wurde. Also das war ja nicht ungefährlich.

SPRECHER 1

Verfolgte Wissenschaftler, die ausgebürgert wurden, bekamen von den türkischen Behörden in ihren Pass den Begriff "heimatloz" gestempelt. Der Begriff 'haymatloz' – geschrieben mit y und z - ging in die türkische Sprache ein. Im türkischen Wörterbuch wird der Begriff mit „heimatlos“, „unstet umherziehend“ und „staatenlos“ übersetzt. Die Historikerin Sabine Mangold-Will.

O-TON 13 (Mangold, 29.13)

Und das wird dann richtig dramatisch, weil der türkische Staat formal eigentlich einen Staatenlosen nicht in seinem Staat akzeptiert. (…) Da gibt es dann auch wirklich Situationen, wo die Leute entscheiden müssen: Trete ich jetzt zum Islam über? Lass‘ ich mich naturalisieren? Wandere ich weiter? Oder: Wird mein Vertrag trotz alledem, weil ich eben ein hohes Renommee habe, also weiterhin anerkannt und verlängert. Und ich kann bleiben, trotz dieses Eintrages im Pass.

MUSIK 8: „Taksim & Mahur Pesrev“ – NC078310117 - 32 Sek

SPRECHER 1

Das Exil in der Türkei veränderte nicht nur das Wissen, die Methoden, die Verwaltungs- und Universitätslandschaft in der Türkei, sondern prägte umgekehrt auch die deutschen Wissenschaftler. So baute der Architekt Bruno Taut, der in Istanbul an der Akademie der Schönen Künste lehrte, 1938 in den Hügeln des europäischen Bosporus-Viertels Ortaköy ein ganz besonderes Haus. Burcu Dogramci:

O-TON 14 (Dogramaci, 16.29)

Und da ist sehr schön zu sehen, dass diese Erfahrung Istanbul sich wirklich eingeschrieben hat in seinen Entwurf. Also, wir sehen da eine Synthese aus seiner Zeit in Japan, Berliner Referenzen, aber auch ist sehr gut ablesbar das Studium osmanischer Wohnhäuser. Er hat sich sehr viel Architektur angesehen und hat dann einen tatsächlich eher so fantastisch-utopischen Bau geschaffen, der jetzt keiner einzelnen, nationalen Stil-Richtung zuzuordnen ist, aber wo eben dieses exiliert sein Ausdruck findet, ja, in einem eher Miteinander von verschiedenen Erinnerungsmomenten. Und da würde ich sagen: Gäbe es das Türkei-Erlebnis nicht. wäre wahrscheinlich dieser Bau, auch gerade mit Blick auf den Bosporus, auf die asiatische Seite, nie so entstanden.

SPRECHER 1

Auch wenn viele Experten große Freiheiten in Bezug auf ihre Arbeit hatten, gab es doch auch klare Erwartungen an sie. Sie sollten schnell Türkisch lernen, Lehrbücher schreiben und türkische Wissenschaftler und Künstler ausbilden. Das veränderte nach Meinung der Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci auch ihre eigene Arbeit.

O-TON 15 (Dogramaci, 11.32)

Zum Beispiel Rudolf Belling - der ja vor allem bekannt ist für seine abstrakten Arbeiten der späten 10er, frühen 20er Jahre, für seinen ‚Dreiklang‘ zum Beispiel, eine Skulptur - hat in der Türkei vor allem Staatsbildhauer ausgebildet, das heißt figurativ arbeitend und selbst auch teilweise sogar arbeitet. Aber es gab später dann auch wieder freie Arbeiten. Aber da ist ein ziemlicher Wandel zu beobachten in der eigenen Kunstauffassung. Und das hängt sicherlich auch mit der Erwartung zusammen, die an ihn herangetragen wurde.

SPRECHER 1

Staatspräsident Ismet Inönü, der nach dem Tod von Atatürk das Land führte, ließ sich von Belling ein repräsentatives Standbild anfertigen. Belling lebte und lehrte lange in Istanbul und kehrte erst 1966, im Alter von 80 Jahren nach Deutschland zurück. Ein Grund war sicher, dass Istanbul die Heimat seiner zweiten Frau war. Ein anderer, dass er in Istanbul von Anfang an gut vernetzt, anerkannt und beliebt war. Elisabeth Weber-Belling sagt, ihr Vater habe das Leben in der Türkei einfach geliebt

O-TON 16 (Belling, 52.29)

Er fühlte sich von seiner Tätigkeit her, von seiner Arbeit, sei es an der Akademie oder auch an der Technischen Universität, von der türkischen Gesellschaft viel mehr aufgenommen als von der deutschen Kolonie. Da kamen kaum Fragen, Interessen (…) Die Türken ja, die haben ihn bei der Arbeit beobachtet. Die interessierten sich für sein Leben und für seine Arbeit und für seine Entwicklung und für (…) dieses Kardinalthema raumhaltige Kunst. Ja, das war für die ein Denkanstoß par excellence, für die Deutschen kaum. Das ist, finde ich, auch sehr interessant, (…) dass die türkische Gesellschaft da viel engagierter war.

MUSIK 9:

„Nocturne“ von Marco Dreckkötter – M0077716Z00 - 44 Sek

SPRECHER 1

1944 brauch die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab und forderte deutsche Staatsangehörige zum Verlassen des Landes auf. Wer nicht abreisen konnte oder wollte, wurde - mit wenigen Ausnahmen – in Zentralanatolien interniert. Die Deutsche Schule in Istanbul wurde geschlossen. Erst im Februar 1945 trat die Türkei auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein. Viele Deutsche lebten bis Ende 1945 in den Internierungslagern Kirșehir, Yozgat und Çorum. Die Familie Belling konnte in Istanbul bleiben:

O-TON 17 (Belling, 21.02)

Es kam ein Telegramm aus Ankara vom Kultusministerium an den Statthalter von Istanbul, Lütfi Kırdar hieß der. Und meine Mutter wurde zu ihm gerufen und als sie kam, schwenkt er ihr also ein Telegramm entgegen. Er sagte: „Ihr müsst euch keine Sorgen machen“. Ihr könnt frei in der Türkei, also in Istanbul natürlich vor allem, euch bewegen. Meinen Eltern wurden die Pässe nicht entzogen, es drohte keine Rückschickung und mein Vater konnte also bei vollem Gehalt weiterarbeiten. Das war natürlich ja, die Ausnahme. Ich habe (…) einen Brief von meiner Mutter an mich entdeckt, wo sie schreibt. Dieses Glück hatten nur eine Handvoll Familien. (…) Ja, und so blieben wir also frei, und mein Vater konnte (…) seine letzte Arbeit für den Ismet Inönü zu Ende führen. (…) Der Ismat Pasa muss ihn sehr gemocht haben. (…) Vielleicht hat er auch so ein kleines bisschen die Flügel über ihn gehalten.

MUSIK 10:

„Traurigkeit“ von W.A. Mozart - C5123770106 - 1:10 Min

SPRECHER 1

Für viele war die Türkei nur eine Zwischenstation – nach dem Krieg wanderten die meisten Wissenschaftler weiter in die USA oder nach England, einige kehrten nach Deutschland zurück. Das Wirken der deutschen Wissenschaftler in der Türkei aber wirkte lange nach, sie bildeten Generationen von Medizinern, Stadtplanern und Bildhauern aus. Und auch wenn nur wenige Forscher nach 1945 in der Türkei blieben, die Verbundenheit mit dem Land war groß. 1986 wurde in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am Eingang der Universität von Istanbul eine Gedenktafel für die deutschen Emigranten enthüllt. Darauf steht:

SPRECHER 2

„In Dankbarkeit dem türkischen Volk, das von 1933 bis 1945 unter der Führung von Staatspräsident Atatürk und seinen akademischen Institutionen deutschen Hochschullehrern Zuflucht gewährte.“


  continue reading

2453 Episoden

Artwork
iconTeilen
 
Manage episode 298118793 series 2459771
Inhalt bereitgestellt von Bayerischer Rundfunk. Alle Podcast-Inhalte, einschließlich Episoden, Grafiken und Podcast-Beschreibungen, werden direkt von Bayerischer Rundfunk oder seinem Podcast-Plattformpartner hochgeladen und bereitgestellt. Wenn Sie glauben, dass jemand Ihr urheberrechtlich geschütztes Werk ohne Ihre Erlaubnis nutzt, können Sie dem hier beschriebenen Verfahren folgen https://de.player.fm/legal.

In der Zeit des Nationalsozialismus gingen viele Wissenschaftler ins Exil in die Türkei. Die türkische Regierung hatte Reformen angestoßen, das Land brauchte westliches Know-how. Ausgebürgerten Wissenschaftlern wurde in ihren Pass "heimatlos" gestempelt. 'Haymatloz' wurde später ein Synonym für Exilanten im Türkischen. Autorin: Claudia Steiner (BR 2021)

Credits
Autorin dieser Folge: Claudia Steiner
Regie: Kirsten Böttcher
Es sprachen: Christian Baumann, Peter Veit
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Elisabeth Weber-Belling, Tochter des Bildhauers Rudolf Belling;
Burcu Dogramaci, Professorin für Kunstgeschichte an der LMU München;
Sabine Mangold-Will, apl.-Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal;
Sabine Hillebrecht, Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin

Linktipps:

Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1: „Sarilsam“ - C1438820106 – 23 Sek

O-TON 1 (Belling, 25.05)

Für mich – ich bin da geboren worden. Und ich bin da aufgewachsen. Für mich war es Heimat, und für meine Mutter war es auch Heimat, und für meinen Vater wurde es zur Heimat.

SPRECHER 1

…sagt Elisabeth Weber-Belling. Sie wurde 1943 in Istanbul geboren und verbrachte ihre gesamte Kindheit und Jugend am Bosporus.

MUSIK 2: „Dialoge“ von Heinrich Hartl – M0009164 000 – 51 Sek

SPRECHER 1

Ihr Vater, der Berliner Bildhauer Rudolf Belling, verließ das nationalsozialistische Deutschland und emigrierte am 6. Januar 1937 in die Türkei – wie viele andere kritische und verfolgte Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle. Rudolf Belling, der für seine abstrakte Skulptur „Dreiklang“ bekannt ist, hatte viel für Gewerkschaften gearbeitet. Einige seiner Arbeiten wurden von den Nazis gepriesen, andere diffamiert.

So wurde seine Bronze-Skulptur des Boxers Max Schmeling 1937 in der Großen Deutschen Kunstausstellung im Münchner Haus der Kunst gezeigt – einer von Adolf Hitler kuratierten Schau. Gleichzeitig aber fanden sich Bellings Arbeiten in der Ausstellung „Entartete Kunst“. Elisabeth Weber-Belling:

O-TON 2 (Belling, 3.11)

Die Aufträge fielen weg, freies Arbeiten war nicht mehr möglich, seine Arbeiten wurden diffamiert. (…) Also, wenn sie ihn gekannt hätten, mit seinem Temperament und (…) mit seinem kühlen Überlegen. Er zog den Hut und sagte: ‚Dann war es dann erst Mal‘. Erstmal vielleicht für zwei Jahre, denn er hatte ja erst mal einen Zweijahresvertrag.

SPRECHER 1

Die meisten Experten blieben nur für einige Jahre in der Türkei, Belling aber lebte und arbeitete viele Jahre in Istanbul. Er war neugierig auf das Land und die Menschen, sagt seine Tochter.

O-TON 3 (Belling, 0.35)

Als das Angebot aus der Türkei kam (…) da hat er sofort zugesagt. Er bekam ja das Angebot, mit einer blutjungen Generation zusammenzuarbeiten. Die Chance hatte er bis dahin in der Heimat nicht gehabt.

MUSIK 3: „Rast Peşrev“ - C1575380305 – 1:13 Min

O-TON 4 (gesprochen von Dr. Ergün Özsoy)

Dünyada her şey için, medeniyet için, hayat için, başarı için, en hakiki mürşit bilimdir, fendir."

SPRECHER 2

"Für alles auf der Welt - für die Zivilisation, das Leben, den Erfolg - ist Wissen und Wissenschaft der wahre Leitfaden."

SPRECHER 1

Ein Zitat des Gründers der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Die 1923 gegründete Türkei befand sich damals im Umbruch. Atatürk, erster Präsident der Türkei, brach mit der osmanischen Vergangenheit und wollte einen modernen Staat aufbauen. So wurden zum Beispiel 1926 das Schweizer Zivilgesetzbuch und das italienische Strafgesetzbuch übernommen. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen. Im selben Jahr wurde die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet ersetzt. Atatürk wollte westliches Know-how ins Land holen, sagt Burcu Dogramaci. Sie ist Professorin für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

O-TON 5 (Dogramaci, 5.45)

Hintergrund war, dass nach der Gründung der türkischen Republik 1923 sehr schnell klar war, dass es einen Cut zum Osmanischen Reich geben soll. Das heißt: Wissenschaft, Bildung, Kultur sollte ganz neu formiert, aufgebaut werden. Und dafür entledigten sich dann auch die Ministerien teils sehr rasch und rüde dem (…) wissenschaftlichen Personal, was bis dato beschäftigt war, zum Beispiel Architekten, die gelehrt hatten, die aber schon in der Zeit des Osmanischen Reiches lehrten.

SPRECHER 1

Die Regierung suchte deshalb bereits seit Mitte der 1920er-Jahre Hilfe bei der Modernisierung des Landes. Einige Experten kamen schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in die Türkei, andere erst, als es in Deutschland für sie unerträglich, schwierig oder gefährlich wurde, sagt die Historikerin Sabine Mangold-Will. Sie ist außerplanmäßige Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der der Bergischen Universität Wuppertal.

O-TON 6 (Mangold, 8.40)

Dann hat man angefangen zu sagen: Ja, also, um auf den modernsten Stand der Wissenschaft zu kommen, wollen wir, (…) Berater aus dem Ausland haben. Das war auch umstritten, weil (…) es gab so eine Erinnerung an (…) semi-koloniale Situationen aus dem Osmanischen Reich, also heißt: (…) Hat man zu viele ausländische Berater, gibt man sich ja auch in deren Hand. Und deswegen schafft man dann ein (…) System, das sagt: Wir (…) wollen die einladen. Wo die herkommen, ist uns völlig egal. Wir brauchen (…) die besten Leute, und wir machen ein Vertragssystem, das vorsieht: A: dass sie innerhalb kürzester Zeit Türkisch lernen müssen. Und B: dass sie nur begrenzt da sind. Das heißt, es werden ohnehin nur Fünf-Jahres-Verträge ausgeschrieben, oder man macht von vornherein klar, dass diese Berater nur vorübergehend kommen sollen.

SPRECHER 1

So kamen zwischen 1933 und 1945 neben dem Bildhauer Belling unter anderem der Stadtplaner Gustav Oelsner, der Architekt Bruno Taut, der Mediziner Albert Eckstein, der Botaniker Leo Brauner und der Sozialdemokrat und spätere Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter in die Türkei. Insgesamt lebten zeitweise etwa 1.000 Deutsche in der Türkei – Professoren aus verschiedenen Fachbereichen, wissenschaftliche Mitarbeiter, Experten und Künstler mit ihren Familien. Nicht alle waren Juden. Manche waren Sozialdemokraten, andere Kommunisten, oder sie hatten sich wie Belling für Gewerkschaften engagiert. Sabine Mangold-Will:

O-TON 7 (Mangold, 10.54)

Die stehen auf der Straße und sind einfach zufällig da, weil sie eben entlassen worden sind. Und das heißt, bei denen besteht auch eine große Bereitschaft zu gehen. Denn die Türkei fragt vorher zum Beispiel auch … in Frankreich an. Und da lehnen viele Wissenschaftler es einfach ab zu kommen, weil das nicht attraktiv ist. Also um das einfach mal zugespitzt und krass zu sagen. (…) Wer wollte 1933 schon in die Türkei? Ankara war ein Nest, das noch gar nicht gebaut war. Und Istanbul, ja, kann man machen. Muss man aber halt eine besondere Affinität irgendwie auch dafür haben. Warum sollte man dort hingehen? (…) Also da brauchte es einfach mehr, um zu sagen, das nehme ich jetzt auf mich, das mach ich. Ich ziehe auch mit Kind und Kegel um (...) das sind einfach Dinge, wo man sieht, dass das gar nicht so einfach war, Leute aus Europa zu bekommen. Und deswegen war es der Türkei, um das klar zu sagen, völlig egal, was für eine politische oder konfessionelle Ausrichtung die Menschen hatten. Und außerdem war es so, dass diese jüdischen Wissenschaftler von den Türken zunächst einmal nicht als Juden wahrgenommen worden sind, sondern als deutsche Wissenschaftler. Und das ist der entscheidende Punkt.

MUSIK 4: „Anne ermittelt“ - Z8022370117 – 1:25 Min

SPRECHER 1

Grundlage für die Arbeit in der Türkei war der 1927 geschlossene deutsch-türkische Niederlassungsvertrag. Allerdings waren eben nur etablierte Experten und Wissenschaftler erwünscht. Deutsche aus anderen Berufsgruppen bekamen in der Regel keine Arbeits- und damit auch keine Aufenthaltserlaubnis. Bereits seit 1932 galten in dem Land Berufsbeschränkungen zum Beispiel für Handwerker.

Forscher und Wissenschaftler dagegen waren gefragt. Oft lief die Anwerbung über Empfehlungen zum Beispiel über den Pathologen Philipp Schwartz. Schwartz wurde als jüdischer Professor aufgrund des am 7. April 1933 erlassenen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen und ging zunächst nach Zürich. Dort gründete er die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland und nahm Kontakt mit der Türkei auf. Er vermittelte zahlreiche Wissenschaftler und arbeitete selbst viele Jahre als Pathologe an der Universität Istanbul. Auch der Schweizer Pädagoge Albert Malche beriet die türkische Regierung – er schlug vor allem jüdische und politisch verfolgte deutsche Gelehrte zur Berufung an den Universitäten vor. Aber es gab auch zahlreiche andere Kontakte und Empfehlungen, sagt die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci.

O-TON 8 (Dogramaci, 3.33)

Das Unterrichtsministerium in Ankara war auf der Suche nach Experten aus dem Ausland, die eben auch teils Professuren übernehmen sollten. Und es gab einen Ministerialbeamten im Unterrichtsministerium, der hieß Cevat Dursunoğlu, der selbst in Berlin studiert hatte, also auch Deutsch sprechen konnte, sich sehr gut auskannte und tatsächlich sowohl Personen empfohlen hat als auch die Verhandlungen übernommen hat. Und dann war es eben so, dass auch schon Personen, die in der Türkei tätig waren oder gute Kontakte hatten, empfohlen haben.

MUSIK 5: „Eviç Taksim“ - M0039046108 – 39 Sek

SPRECHER 1

Gejagt von den Nationalsozialisten, gefragt in der Türkei: Für viele Deutsche bedeutete ein Vertrag in der Türkei zunächst einmal Sicherheit für sich und ihre Familien. Oft empfandendie Exil-Familien deshalb auch lange nach ihrem Aufenthalt eine tiefe Verbundenheit mit der Türkei und eine große Dankbarkeit, sagt Sabine Hillebrecht.

Sie arbeitet am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und hatte im Jahr 2000 an einer Ausstellung des Vereins Aktives Museum in Berlin mit dem Namen „Haymatloz“ mitgewirkt:

O-TON 9 (Hillebrecht, 7.05)

Wenn man jetzt mal guckt, was in Deutschland passierte, war das ja eine unglaublich privilegierte Situation. Der Status einer türkischen Universität war natürlich im wissenschaftlichen Bereich nicht so groß wie zuvor der Status an einer deutschen Universität wissenschaftlich tätig zu sein. Aber ganz abgesehen davon: Sie hatten feste Arbeitsverträge. Sie hatten Umzugskosten, die ihnen erstattet wurden. Sie wurden sehr, sehr gastfreundlich aufgenommen. Sie (…) konnten zum Teil auch Bedingungen stellen, was Übersetzung anging, was Mitarbeiterstab anging. Also, da gab es eigentlich gar keine Frage. Das war ein unglaubliches Glück, dort tätig zu werden.

MUSIK 6: „Rast Peşrev“ - C1575380305 – 53 Sek

SPRECHER 1

Der Architekt und Stadtplaner Martin Wagner schrieb zum Beispiel in einem Brief, er empfinde die Zeit in der Türkei wie in einem „Wartesaal erster Klasse“. Viele Wissenschaftler brachten Mitarbeiter, Hausangestellte sowie ihre Frauen und Kinder mit in die Türkei. Je nach Familie, nach Hintergrund, nach Wohnort war das Leben der Exil-Kinder sehr unterschiedlich. Elisabeth Weber-Belling wuchs zum Beispiel mit fünf Sprachen auf: Deutsch und Französisch, ihr Vater hatte eine belgische Mutter, Italienisch, ihre Mutter war eine in Istanbul geborene Italienerin, Griechisch, die Sprache des Hauspersonals der Familie Belling, und Türkisch, das sie im Alltag und beim Spielen auf der Straße lernte. Istanbul war damals zwar schon eine große Stadt, dennoch hatte sie als Kind viele Freiheiten.

O-TON 10 (Belling, 26.54)

Also von (…) der Möglichkeit her, mich zu bewegen, vieles zu erleben als Kind, sei es die Insel, sei es das Schwarze Meer, sei es den Bosporus, sei es Ferien in dem alten Polonezköy, das damals noch wirklich ein verwunschenes Dorf war. (…) Großzügig vom Elternhaus her, (…) frei, sehr selbständig. Also, ich denke schon so an meine ersten Schritte am Taksim Platz, in dem Taksim-Park. Mit drei, mit vier Jahren konnte man alleine mit Freunden dort spielen. Und wenn es fünf Uhr wurde oder halb sechs, dann rief unsere Aphrodite oben vom vierten Stock: ‚Kommt ihr jetzt nach Hause‘ - und dann gingen wir – ja, ist ja heute nicht mehr vorzustellen, Istanbul war ja auch weniger bevölkert damals.

SPRECHER 1

Viele Kinder gingen auf die deutsche oder österreichische Schule, andere besuchten türkische Schulen oder hatten Privatlehrer und -Lehrerinnen. In Ankara gab es zum Beispiel auch eine Botschaftsschule. Sabine Hillebrecht.

O-TON 11 (Hillebrecht, 20.22)

Das war ja die deutsche Schule, wo eben die Botschaftsangehörigen der Reichsdeutschen ihre Kinder hinschickten. Das wollte man ja jetzt auch nicht so gerne, sich dem da anschließen. (…) Und es hat sich dann relativ schnell so herausgestellt, dass man eine Privatlehrerin gefunden hat, die eine Zeit lang in Deutschland auch studiert hatte, in Augsburg - alle möglichen Dinge: Mathematik, Physik und so ein unglaubliches Wissen hatte. Die Frau Kudrit. Und die wurde engagiert und dorthin wurden die Kinder geschickt. Und das eben über die ganze Zeit bis 1945. Also es gibt Kinder, die eigentlich ihr ganzes Schulleben dort verbracht haben.

MUSIK 7: „Anne ermittelt“ – Z8022370117 - 1 Min.

SPRECHER 1

Zwischen 1933 und 1945 lebten in der Türkei aber nicht nur entlassene und verfolgte Wissenschaftler, sondern auch Diplomaten und Nationalsozialisten.

In türkischen Städten bildeten sich unterschiedliche Gruppen heraus. Reichsdeutsche und Nationalsozialisten wurden die Kolonie A genannt, kritische, verfolgte oder unliebsame Wissenschaftler und Künstler nannten sich Kolonie B. Es kam vor, dass jüdische Emigranten mit nationalsozialistischen Wissenschaftlern zusammenarbeiten mussten. 1939 wollte das Reichserziehungsministerium einen Überblick darüber bekommen, wie viele Juden und Nicht-Nationalsozialisten an türkischen Universitäten lehrten, zur Erfassung wurde ein Vertreter entsandt. Zwischen den beiden Gruppen gab es Kontakte, aber auch Berührungsängste, sagt Sabine Hillebrecht:

O-TON 12 (Hillebrecht, 5.36)

Aus gutem Grund. Also die Verfolgten wollten auch nicht ausgespitzelt werden. Es gab ja schließlich auch eine Auslandsorganisation der NSDAP, die auch als langer Arm des Deutschen Reiches dort hineinregierte in die Situation und man womöglich aufgefordert wurde, seinen deutschen Pass an der deutschen Botschaft abzugeben oder dort einbestellt wurde. Also das war ja nicht ungefährlich.

SPRECHER 1

Verfolgte Wissenschaftler, die ausgebürgert wurden, bekamen von den türkischen Behörden in ihren Pass den Begriff "heimatloz" gestempelt. Der Begriff 'haymatloz' – geschrieben mit y und z - ging in die türkische Sprache ein. Im türkischen Wörterbuch wird der Begriff mit „heimatlos“, „unstet umherziehend“ und „staatenlos“ übersetzt. Die Historikerin Sabine Mangold-Will.

O-TON 13 (Mangold, 29.13)

Und das wird dann richtig dramatisch, weil der türkische Staat formal eigentlich einen Staatenlosen nicht in seinem Staat akzeptiert. (…) Da gibt es dann auch wirklich Situationen, wo die Leute entscheiden müssen: Trete ich jetzt zum Islam über? Lass‘ ich mich naturalisieren? Wandere ich weiter? Oder: Wird mein Vertrag trotz alledem, weil ich eben ein hohes Renommee habe, also weiterhin anerkannt und verlängert. Und ich kann bleiben, trotz dieses Eintrages im Pass.

MUSIK 8: „Taksim & Mahur Pesrev“ – NC078310117 - 32 Sek

SPRECHER 1

Das Exil in der Türkei veränderte nicht nur das Wissen, die Methoden, die Verwaltungs- und Universitätslandschaft in der Türkei, sondern prägte umgekehrt auch die deutschen Wissenschaftler. So baute der Architekt Bruno Taut, der in Istanbul an der Akademie der Schönen Künste lehrte, 1938 in den Hügeln des europäischen Bosporus-Viertels Ortaköy ein ganz besonderes Haus. Burcu Dogramci:

O-TON 14 (Dogramaci, 16.29)

Und da ist sehr schön zu sehen, dass diese Erfahrung Istanbul sich wirklich eingeschrieben hat in seinen Entwurf. Also, wir sehen da eine Synthese aus seiner Zeit in Japan, Berliner Referenzen, aber auch ist sehr gut ablesbar das Studium osmanischer Wohnhäuser. Er hat sich sehr viel Architektur angesehen und hat dann einen tatsächlich eher so fantastisch-utopischen Bau geschaffen, der jetzt keiner einzelnen, nationalen Stil-Richtung zuzuordnen ist, aber wo eben dieses exiliert sein Ausdruck findet, ja, in einem eher Miteinander von verschiedenen Erinnerungsmomenten. Und da würde ich sagen: Gäbe es das Türkei-Erlebnis nicht. wäre wahrscheinlich dieser Bau, auch gerade mit Blick auf den Bosporus, auf die asiatische Seite, nie so entstanden.

SPRECHER 1

Auch wenn viele Experten große Freiheiten in Bezug auf ihre Arbeit hatten, gab es doch auch klare Erwartungen an sie. Sie sollten schnell Türkisch lernen, Lehrbücher schreiben und türkische Wissenschaftler und Künstler ausbilden. Das veränderte nach Meinung der Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci auch ihre eigene Arbeit.

O-TON 15 (Dogramaci, 11.32)

Zum Beispiel Rudolf Belling - der ja vor allem bekannt ist für seine abstrakten Arbeiten der späten 10er, frühen 20er Jahre, für seinen ‚Dreiklang‘ zum Beispiel, eine Skulptur - hat in der Türkei vor allem Staatsbildhauer ausgebildet, das heißt figurativ arbeitend und selbst auch teilweise sogar arbeitet. Aber es gab später dann auch wieder freie Arbeiten. Aber da ist ein ziemlicher Wandel zu beobachten in der eigenen Kunstauffassung. Und das hängt sicherlich auch mit der Erwartung zusammen, die an ihn herangetragen wurde.

SPRECHER 1

Staatspräsident Ismet Inönü, der nach dem Tod von Atatürk das Land führte, ließ sich von Belling ein repräsentatives Standbild anfertigen. Belling lebte und lehrte lange in Istanbul und kehrte erst 1966, im Alter von 80 Jahren nach Deutschland zurück. Ein Grund war sicher, dass Istanbul die Heimat seiner zweiten Frau war. Ein anderer, dass er in Istanbul von Anfang an gut vernetzt, anerkannt und beliebt war. Elisabeth Weber-Belling sagt, ihr Vater habe das Leben in der Türkei einfach geliebt

O-TON 16 (Belling, 52.29)

Er fühlte sich von seiner Tätigkeit her, von seiner Arbeit, sei es an der Akademie oder auch an der Technischen Universität, von der türkischen Gesellschaft viel mehr aufgenommen als von der deutschen Kolonie. Da kamen kaum Fragen, Interessen (…) Die Türken ja, die haben ihn bei der Arbeit beobachtet. Die interessierten sich für sein Leben und für seine Arbeit und für seine Entwicklung und für (…) dieses Kardinalthema raumhaltige Kunst. Ja, das war für die ein Denkanstoß par excellence, für die Deutschen kaum. Das ist, finde ich, auch sehr interessant, (…) dass die türkische Gesellschaft da viel engagierter war.

MUSIK 9:

„Nocturne“ von Marco Dreckkötter – M0077716Z00 - 44 Sek

SPRECHER 1

1944 brauch die Türkei die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab und forderte deutsche Staatsangehörige zum Verlassen des Landes auf. Wer nicht abreisen konnte oder wollte, wurde - mit wenigen Ausnahmen – in Zentralanatolien interniert. Die Deutsche Schule in Istanbul wurde geschlossen. Erst im Februar 1945 trat die Türkei auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein. Viele Deutsche lebten bis Ende 1945 in den Internierungslagern Kirșehir, Yozgat und Çorum. Die Familie Belling konnte in Istanbul bleiben:

O-TON 17 (Belling, 21.02)

Es kam ein Telegramm aus Ankara vom Kultusministerium an den Statthalter von Istanbul, Lütfi Kırdar hieß der. Und meine Mutter wurde zu ihm gerufen und als sie kam, schwenkt er ihr also ein Telegramm entgegen. Er sagte: „Ihr müsst euch keine Sorgen machen“. Ihr könnt frei in der Türkei, also in Istanbul natürlich vor allem, euch bewegen. Meinen Eltern wurden die Pässe nicht entzogen, es drohte keine Rückschickung und mein Vater konnte also bei vollem Gehalt weiterarbeiten. Das war natürlich ja, die Ausnahme. Ich habe (…) einen Brief von meiner Mutter an mich entdeckt, wo sie schreibt. Dieses Glück hatten nur eine Handvoll Familien. (…) Ja, und so blieben wir also frei, und mein Vater konnte (…) seine letzte Arbeit für den Ismet Inönü zu Ende führen. (…) Der Ismat Pasa muss ihn sehr gemocht haben. (…) Vielleicht hat er auch so ein kleines bisschen die Flügel über ihn gehalten.

MUSIK 10:

„Traurigkeit“ von W.A. Mozart - C5123770106 - 1:10 Min

SPRECHER 1

Für viele war die Türkei nur eine Zwischenstation – nach dem Krieg wanderten die meisten Wissenschaftler weiter in die USA oder nach England, einige kehrten nach Deutschland zurück. Das Wirken der deutschen Wissenschaftler in der Türkei aber wirkte lange nach, sie bildeten Generationen von Medizinern, Stadtplanern und Bildhauern aus. Und auch wenn nur wenige Forscher nach 1945 in der Türkei blieben, die Verbundenheit mit dem Land war groß. 1986 wurde in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am Eingang der Universität von Istanbul eine Gedenktafel für die deutschen Emigranten enthüllt. Darauf steht:

SPRECHER 2

„In Dankbarkeit dem türkischen Volk, das von 1933 bis 1945 unter der Führung von Staatspräsident Atatürk und seinen akademischen Institutionen deutschen Hochschullehrern Zuflucht gewährte.“


  continue reading

2453 Episoden

Alle Folgen

×
 
Loading …

Willkommen auf Player FM!

Player FM scannt gerade das Web nach Podcasts mit hoher Qualität, die du genießen kannst. Es ist die beste Podcast-App und funktioniert auf Android, iPhone und im Web. Melde dich an, um Abos geräteübergreifend zu synchronisieren.

 

Kurzanleitung