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Kapitel 15 - Yellowfacing

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Melanie Veit, Hiddensee, 5.-6. Februar 2004

Melanie informierte die drei, die akribisch das Appartement durchsuchten, über Charlottes Anruf. Höflich wie sie waren, richteten sie kein Chaos an, sondern hinterließen jeden durchsuchten Platz so, wie sie ihn vorgefunden hatten. Das war gut gemeint, aber kostete enorm Zeit. Die Thomas saß draußen im Flur und probierte die Alkoholika der Minibar durch. Melanie mahnte zur Eile. Wie erwartet, waren sie nach einer weiteren halben Stunde fertig. Neben den Kleidungsstücken, welche die Thomas in der Mordnacht getragen hatte, nahmen sie einige Stofffetzen mit, die sie auf dem Grund des Papierkorbes gefunden hatten. Melanie dankte innerlich dem nachlässigen Zimmerservice. Sollten sich Rückstände des Giftes in dem Appartement finden, konnten sie den Sack mit etwas Glück schnell zubinden, hoffte Melanie. Verdächtige, die sie mit deutlichen Indizien konfrontierte, hielten meist nicht lange durch, bevor sie sich in Widersprüche verstrickten und schließlich aufgaben. Auf der anderen Seite war es Melanie klar, dass Indizien deutlich weniger wert waren als Beweise, wenn der Fall vors Gericht kam. Sollte Christine Thomas abgebrüht genug sein, dann würde ihnen dieses eine Indiz nichts nützen. Anlass der Durchsuchung war das ominöse Notizbuch. Doch das blieb verschwunden.

Handcarts in Kloster

Zu ihrer aller Überraschung reisten die Thomas‘ mit ungewöhnlich leichtem Gepäck. Hiddensee war nicht Rimini, wo man sich mal eben so Fehlendes nachkaufen konnte. Schon gar nicht im Februar. Melanie war ebenfalls Anhänger des minimalistischen Reisens, aber die Thomas‘ übertrafen sie locker. Sie war sich sicher, dass die Abreise aus England überhasteter war, als Mrs. Thomas es ihr gegenüber zugegeben hatte. Ihr kam die Aussage, dass Freunde ihr dieses Reiseziel empfohlen hätten, viel zu fischig vor. Wer in Kent empfiehlt schon Hiddensee? Sie fragte sich zum wiederholten Male, warum die Thomas‘ wirklich hergekommen waren. Und, wenn sie genauer darüber nachdachte, dann fragte sie sich außerdem, ob die Wahl der Pension Zufall gewesen sein mochte. Sie musste Charlotte mehr auf den Zahn fühlen. Was nicht leicht war, denn durch ihre flapsige Art, wusste Melanie nie so recht, woran sie war. Kurz zweifelte sie daran, dass es eine gute Idee war, sie so weitgehend in den Fall einzubeziehen. Vielleicht waren die Thomas‘ wegen der Chinaconnection der Hinrichs gekommen und die Geschichte mit dem Chinesen war nur eine Ablenkung? Immerhin wurde der nur von Charlotte zweifelsfrei beschrieben. Alle anderen Befragten gaben zwar an, einen Chinesen auf Hiddensee gesehen zu haben, konnte den aber nicht beschreiben. Und das konnte Melanie gut nachvollziehen: Schwarze glatte Haare, mandelförmige dunkle Augen, kleine Nase, ca. 1,70 groß. Das traf wahrscheinlich auf die meisten Asiaten zu. Den Kaukasiern fehlten die gewohnten Landmarks im Gesicht der Asiaten, hatte sie auf ihrer FBI-Schulung gelernt. Asiaten würden andere Merkmale wie Kopfform, Halsansatz, Ohr- und Mundform, Grübchen … für eine Beschreibung heranziehen. Das sorgte umgekehrt dafür, dass sie ebenso wenig die Westler voneinander unterscheiden konnten. Unzweifelhaft war, dass ein Chinese auf der Insel war und diese nicht mit einer Fähre verlassen hatte. Ob der in Rostock festgenommene und der Insel-Chinese identisch waren, stand auf einem anderen Blatt.

Sie fuhren zur Station, ließen Bade zusammen mit den beschlagnahmten Sachen zurück und fuhren dann so schnell, wie es auf Hiddensee geht, nach Neuendorf.
Papa ging alleine in die Stranddistel. Melanie und Treder beobachteten die Situation von draußen. Sollten die beiden Touristen etwas zu verbergen haben, dann würde sie die Uniform nervös machen und sie verließen überhastet die Kneipe. So die Überlegung. Doch das Paar tat ihnen den Gefallen nicht. Zwar beobachteten sie sein Hereinkommen, aber als sich Papa an den Stammtisch zu Charlotte setzte, wandten sie sich wieder ihrem Gespräch zu. Papa setzte seinen Polizistenblick auf und begrüßte die Bekannten an den Tischen. Für die Touristen musste das so aussehen, als wenn der Dorfpolizist hier zu seinem Feierabendbier einkehrte. Nicht nur, um die Tarnung aufrechtzuerhalten, bestellte er sich ein Hiddenseer. Die beiden ließen keine Eile erkennen. Melanie und Treder wurde allmählich kalt. Also beschlossen sie, die Observation abzubrechen. Sie gingen hinein und setzen sich ebenso selbstverständlich – wie zuvor Papa – an den Stammtisch. Charlotte signalisierte der entgeistert dreinblickenden Wirtin mit einem Blick, dass dieser offensichtlich feindliche Akt staatlichen Belangen untergeordnet werden musste. Man setzte sich nicht unaufgefordert an einen Hiddenseer Stammtisch. Nicht ohne Grund. Tischstreitigkeiten waren ein Teil der Existenzberechtigung der Hiddenseer Polizei. Die Alteingesessenen in der Kneipe verstummten kurz und beobachteten erwartungsvoll die Situation. Als sie bemerkten, dass die Wirtin keine Maßnahmen zur Verteidigung ergriff, war ihnen klar, dass alles seine Richtigkeit haben musste, und wandten sich wieder ihrem Bier zu. Das Paar bekam diese kurze Stimmungsschwankung mit und beobachtete nun etwas aufmerksamer die Neuankömmlinge. Die beiden waren mit dem Essen fertig und würden gleich zahlen. Es wurde Zeit für Melanie, einzugreifen. Sie ging hinüber zu dem Paar, stellte sich ihnen vor, und bat sich an den Tisch setzen zu dürfen. Sie willigten ein, aber ihren Gesichtern war zu entnehmen, dass ihnen die ganze Situation nicht passte.

Vitte Port

„Es tut mir leid, Sie in ihrem Urlaub belästigen zu müssen. Sie haben sicher schon von dem Vorfall in Vitte gehört und ich muss Ihnen dazu ein paar Fragen stellen“, sagte Melanie.
Der Mann antwortete: „Wir wissen nicht, welchen Vorfall Sie meinen. Können Sie etwas deutlicher werden?“
„In Vitte am Ostseestrand am Süderende ist ein Mann ermordet worden, den Sie wahrscheinlich als Letztes lebend gesehen haben. Vor dem Mörder, meine ich natürlich“, fügte Melanie absichtlich hinzu.
„Um Gottes willen“, sagte die Frau und hielt sich die Hand vor den Mund, „von wem reden Sie denn nur?“
„Wirklich keine Ahnung?“, fragte Melanie leicht gereizt. „Sie wissen nicht, wen ich meine?“
Die beiden sahen sie verständnislos an.
Der Mann übernahm wieder: „Nein, wir haben nicht die geringste Ahnung.“
Melanie erzählte ihnen von den Thomas‘ und dem Fund des toten Reginald Thomas am Strand.
„Das ist ja schrecklich“, sagte die Frau. „Wir haben den ganzen Abend über dies und das geplaudert. Seine Frau ging schon früher. Ihr war nicht gut. Ich glaube, sie hatte einen Platz auf einem Fuhrwerk bekommen. Er war zu Fuß dort und da haben wir ihm angeboten, sich auf den Gepäckträger zu setzen. Das hat auch geklappt. Als wir dann nach Vitte rein sind, also so circa auf der Höhe vom Haus Karusel stand am Weg eine Gestalt, die ihn auf Englisch angesprochen hat. Eindeutig ein Mann. Der Herr Thomas ist dann abgestiegen, hat sich verabschiedet und wir sind weiter nach Neuendorf gefahren.“
„Haben Sie die Person erkennen können“, fragte Melanie.
„Nein, überhaupt nicht. Er stand im Schatten. Das hat mich an dem Abend schon gestört. Ein paar Meter weiter stand eine Laterne. Aber er hat im tiefsten Schatten gewartet.“
„Sie meinen, er hat gewartet? Es war also ihrer Meinung nach keine Zufallsbegegnung?“
„Auf keinen Fall. Sie wissen ja, der Weg nach Vitte rein ist weit einsehbar. Der hat eindeutig gewartet.
„Was hat der Mann gesagt?“
„Mmhh, genau weiß ich es nicht mehr“, sagte die Frau, „irgendwas wie Hello Reg oder so.“
„Also hat er ihn auf Englisch und mit Namen angesprochen – ist das richtig?“
„Ja“, schaltete sich der Mann ein, „die Thomas‘ hatten sich in der Kneipe als Christine und Reginald vorgestellt.“
„Wann haben Sie ihn abgesetzt? Versuchen Sie sich bitte genau an die Zeit zu erinnern.“
„Das brauche ich gar nicht“, sagte der Mann, „ich erprobe zurzeit ein neues Produkt für meine Firma. Ein äußerst robuster Fahrradcomputer für den Profieinsatz. Den hatte ich an dem Abend eingeschaltet. Wir sind circa halb zwölf von der Kneipe los. Wenn Sie das Profil auf ihren Computer laden, sehen Sie genau, wann und wo wir Herrn Thomas verabschiedet haben … Ja, und wann wir in Neuendorf angekommen sind. Ich meine, falls wir ein Alibi brauchen.“
„Sehr gut“, sagte Melanie, „können Sie uns das Gerät überlassen? Sie bekommen es bestimmt zurück. Die Kriminaltechnik wird die Daten akribisch auswerten. Mir persönlich reicht erst mal eine ungefähre Angabe. Von Kloster bis zum Abzweig zum Seglerhafen sind es mit dem Fahrrad circa fünf Minuten – richtig?“
„Ja, das kommt hin. Vielleicht auch ein, zwei mehr. Das Wetter war mies und ich hatte ja jemanden auf dem Gepäckträger“, sagte der Mann.

Melanie überschlug innerlich die restliche Strecke. Zu Fuß braucht man bis zum Fundort zwanzig Minuten, egal, ob man am Strand entlang ging oder durch Vitte spazierte. Melanie tippte auf den Strand. Wenn die beiden stracks zum Tatort gegangen sind, dann kamen sie dort 23:55 Uhr an. Die Tat geschah zwischen 00:10 und 00:50 Uhr. Sie waren ganz dicht dran. Zu schade, dass das Paar den Chinesen nicht identifizieren konnte. Dann hätte sie die beiden eingepackt und wäre mit ihnen direkt nach Rostock zur Gegenüberstellung gefahren. Mit etwas Glück wäre der Fall nach zwei Tagen Ermittlung abgeschlossen. Das wär zwar kein Rekord, aber angesichts des komplizierten Eindrucks, den der Fall anfänglich gemacht hatte, ein wahrer Grund zur Freude. Sie tippte wieder auf den Chinesen. Der dritte Mann, der ohne Motiv mordete, trat weiter in den Hintergrund. Wenn Charlotte den Chinesen zweifelsfrei erkannte, hatte sie fast gewonnen – dachte sie.
„Also gut“, sagte Melanie, „der Kollege Papageorgiu wird Sie nach Hause begleiten, den Fahrradcomputer einsammeln und ihre Personalien aufnehmen. Wann wollen Sie die Insel wieder verlassen?“
„Oh keine Sorge, wir haben drei Wochen Urlaub gebucht und eine Woche ist erst vergangen. Sie finden uns in dem Ferienhaus, wann immer sie wollen.“
Melanie war zufrieden. Sie setzte sich wieder an den Stammtisch und gab Papa die entsprechenden Anweisungen. Der schaute maulig drein. Doch kein Feierabend.
„Soll ich Ihnen was bestellen, bis Sie wieder zurück sind Herr Papa?“, fragte Melanie amüsiert.
„Nee, nicht nötig. Bin gleich wieder da. Und außerdem hab ich ja die Autoschlüssel. Alles richtet sich nach mir … oder meinem leeren Magen“, konterte Papa. Treder schloss sich Papa spontan an. Er wollte eine paffen und außerdem hatte er noch keinen Hunger. Kein Wunder, dachte Melanie, der hatte heute Mittag den Bäcker leer gekauft und sich seitdem ein Teilchen nach dem anderen einverleibt. Sie fragte sich, wie viel Treder essen würde, wenn er mit dem Rauchen aufhörte.
Melanie gab ihre Bestellung auf. Sie nahm das, was Charlotte zuvor verschmäht hatte. Gebratener Dorsch mit Petersilienkartoffeln, einen Salat und dazu ein großes Hiddenseer. Etwas Grundsolides, das zu diesem Tag, dieser Insel und dem Wetter passte.

„Charlotte, wir haben einen Chinesen gefasst, der Ihrer Beschreibung nahekommt. Wir konnten ihn wegen eines Zollvergehens etwas länger festsetzen. Er sitzt zur Zeit in Rostock ein. Ich möchte Sie daher bitten, mich morgen wegen einer Gegenüberstellung zu begleiten. Wir werden hier abgeholt und ich fahre Sie dann nach Rostock. Mit etwas Glück sind wir abends wieder hier auf der Insel. Okay?“
„Echt jetzt, eine Gegenüberstellung mit venezianischem Spiegel und so? Cool!“, antwortete Charlotte. „Wie haben Sie denn so viele Chinesen in der schönen Hansestadt aufgetrieben. Oder haben sich die Maskenbildner vom Volkstheater mal so richtig ins Zeug gelegt? Yellowfacing quasi. Nicht besonders PC, aber wenn’s der Wahrheitsfindung dient.“
Melanie war gar nicht in den Sinn gekommen, dass die Ethnie eine gewisse logistische Herausforderung darstellen könnte. Wie viele asiatische Männer wohnten eigentlich in Rostock, die dem Phantombild einigermaßen entsprachen und die sich freiwillig zu diesem Komparsen-Job bereit erklärten? Nicht so viele. Sie konnte sich vorstellen, dass die Kollegen einfach den Chinesen in eine Reihe lauter Europäer stellten. Ihr wurde plötzlich heiß. Um die Zeit ist keiner mehr in der Abteilung erreichbar. Melanie bemerkte, wie Charlotte sie spöttisch beobachtete. Sie hatte sie ein weiteres Mal vorgeführt.
„Sie haben recht. Daran hab ich nicht gedacht. Ich will ehrlich sein, wenn die Gegenüberstellung nicht bestimmten objektiven Kriterien entspricht, dann kann es passieren, dass das Ergebnis wertlos wird. Ich bin mir leider überhaupt nicht sicher, ob die Kollegen dort weit genug mitdenken. Was können wir tun, dass ihre Aussage gerichtsfest wird?“

Charlotte antwortete: „Ich will Sie nicht ärgern. Wirklich nicht. Aber das ist eventuell ein wenig komplizierter, als Sie im Moment denken. Selbst wenn Sie genügend passende Asiaten in Rostock zusammen bekommen, was ich schon mal bezweifle, ist die Gefahr groß, dass ich zumindest die Chinesen davon kenne. Ich bin nicht nur Sinologin, sondern auch Vorsitzende des deutsch-chinesischen Kulturvereins in MV, der in Rostock residiert. Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen darf, dann lassen Sie die Vergleichspersonen aus Hamburg einfliegen. Dort gibt es die älteste und größte chinesische Diaspora Deutschlands. Und ich kenne die Leute von dort beinahe überhaupt nicht.“
Melanie dachte drüber nach. Sie hatte bei Weitem nicht die Kompetenzen, den Rostockern etwas aufzutragen. Schon gar nicht, wenn es darum ging, zusätzliche Ressourcen loszuschlagen. Fünf Chinesen aus Hamburg kommen zu lassen, überstieg ihre Möglichkeiten. Sie kannte keinen, den sie innerhalb des Dienstweges auf dieses kleine Problem aufmerksam machen konnte. Melanie war nicht so der Netzwerker. Strippenziehen war ihr im Grunde verhasst. Vitamin B hatte sie für ein typisches DDR-Ding gehalten. Ohne ging ja fast nichts in jener Zeit. Kennst du einen in der HO, bekommst du Südfrüchte; jemanden im Industriekombinat Nord, gibt es Autoersatzteile; jemanden in der Baustoffversorgung, Fliesen und immer so weiter. Dieses myzelartige Beziehungsgeflecht überzog die gesamte DDR. Persönliche Beziehungen nach Berlin waren besonders wichtig. Mit Grauen dachte Melanie daran, dass sie damals, wenn sie nicht wie ein Zonendödel rumlaufen wollte, ihre Klamotten in Berlin oder Dresden kaufen musste. Zurückgelegt für eine kurze Zeit. Also hinfahren. Mit der Reichsbahn. Zusammen mit hunderten Wehrpflichtigen in überfüllten und verqualmten Abteilen, die, je länger die Fahrt dauerte, umso besoffener und übergriffiger wurden. Wenn nichts Schlimmeres passierte, kotzten sie den Zug voll. Unvermittelt hatte sie wieder der DDR-Blues am Genick gepackt. Später hatte sie gelernt, dass Vitamin B im Westen noch wichtiger war. Es ging es nicht mehr nur um die Aufrechterhaltung einer irgendwie definierten persönlichen Würde, sondern ganz ordinär um Macht, Status und Geld. In ihrer Kanzlei hatte sie in all diese Abgründe geblickt und sich geschworen, niemals so tief hinabzusteigen, wie das ihre Collegen offensichtlich mit Freude taten. Die Ostzicke hatte sich den Netzwerkern verweigert. Und sie fühlte sich gut dabei. Doch in solchen Momenten wie diesem bedauerte sie, dass sie nicht die eine oder andere Telefonnummer parat hatte.
Sie spürte den Blick Charlottes auf sich ruhen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Charlotte.
Melanie antwortete: „Ja, alles okay. Musste nur an was denken. … Ich kenne niemanden, der mir in der Sache behilflich sein kann. Die einzige, die mir in den Sinn kommt, ist die Staatsanwältin. Aber sie ist eigentlich nicht die richtige Ansprechpartnerin für einen solchen Fall. Außerdem kenne ich die kaum. Keine Ahnung, wie sie das findet, wenn ich am Abend ihre Familienidylle störe. Egal, ich werde sie mal anrufen.“

Melanie ging nach draußen und erledigte den Anruf. Wider Erwarten zeigte sich die Staatsanwältin kooperationsbereit und versprach, sich zu kümmern oder wenigstens die Rostocker für dieses Problem zu sensibilisieren. Als sie wieder hineingehen wollte, kamen Treder und Papa zurück. Sie führten ein angeregtes Gespräch. Melanie hörte ihr Lachen schon von weitem. Na, da haben sich ja zwei gefunden, dachte Melanie. Papa hätte sie gerne in ihrem Team gehabt. Leider gab es zur Zeit keine Planstelle für einen weiteren Kollegen in ihrer Abteilung. Sie sah den positiven Einfluss auf Treder, dessen Trägheit Melanie zuweilen nervte. Sie wartete, bis die beiden die Kneipe erreicht hatten und erklärte ihnen kurz das Problem, welches Charlotte entdeckt hatte.
„Ich werde morgen den ganzen Tag unterwegs sein. Mit etwas Glück wird die Staatsanwältin unser Problemchen lösen. Bitte nehmt euch den Strandweg vor. So ab dem Aufgang am Karusel. Außerdem möchte ich, dass jemand ein bisschen Christine Thomas beaufsichtigt. Auch wenn sich der Chinese wieder in die Pole-Position geschoben hat, will ich sie nicht entlasten. Wir haben bei ihr wahrscheinlich nichts Verwertbares gefunden. Kann aber sein, dass sie irgendwo anders Dinge versteckt hat. Klopft ruhig mal ein bisschen auf den Busch. Lasst sie wissen, dass ihr den Strandweg scannen wollt. Euch wird da schon was einfallen. So, und jetzt will ich endlich Dorsch essen.“

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Melanie Veit, Hiddensee, 5.-6. Februar 2004

Melanie informierte die drei, die akribisch das Appartement durchsuchten, über Charlottes Anruf. Höflich wie sie waren, richteten sie kein Chaos an, sondern hinterließen jeden durchsuchten Platz so, wie sie ihn vorgefunden hatten. Das war gut gemeint, aber kostete enorm Zeit. Die Thomas saß draußen im Flur und probierte die Alkoholika der Minibar durch. Melanie mahnte zur Eile. Wie erwartet, waren sie nach einer weiteren halben Stunde fertig. Neben den Kleidungsstücken, welche die Thomas in der Mordnacht getragen hatte, nahmen sie einige Stofffetzen mit, die sie auf dem Grund des Papierkorbes gefunden hatten. Melanie dankte innerlich dem nachlässigen Zimmerservice. Sollten sich Rückstände des Giftes in dem Appartement finden, konnten sie den Sack mit etwas Glück schnell zubinden, hoffte Melanie. Verdächtige, die sie mit deutlichen Indizien konfrontierte, hielten meist nicht lange durch, bevor sie sich in Widersprüche verstrickten und schließlich aufgaben. Auf der anderen Seite war es Melanie klar, dass Indizien deutlich weniger wert waren als Beweise, wenn der Fall vors Gericht kam. Sollte Christine Thomas abgebrüht genug sein, dann würde ihnen dieses eine Indiz nichts nützen. Anlass der Durchsuchung war das ominöse Notizbuch. Doch das blieb verschwunden.

Handcarts in Kloster

Zu ihrer aller Überraschung reisten die Thomas‘ mit ungewöhnlich leichtem Gepäck. Hiddensee war nicht Rimini, wo man sich mal eben so Fehlendes nachkaufen konnte. Schon gar nicht im Februar. Melanie war ebenfalls Anhänger des minimalistischen Reisens, aber die Thomas‘ übertrafen sie locker. Sie war sich sicher, dass die Abreise aus England überhasteter war, als Mrs. Thomas es ihr gegenüber zugegeben hatte. Ihr kam die Aussage, dass Freunde ihr dieses Reiseziel empfohlen hätten, viel zu fischig vor. Wer in Kent empfiehlt schon Hiddensee? Sie fragte sich zum wiederholten Male, warum die Thomas‘ wirklich hergekommen waren. Und, wenn sie genauer darüber nachdachte, dann fragte sie sich außerdem, ob die Wahl der Pension Zufall gewesen sein mochte. Sie musste Charlotte mehr auf den Zahn fühlen. Was nicht leicht war, denn durch ihre flapsige Art, wusste Melanie nie so recht, woran sie war. Kurz zweifelte sie daran, dass es eine gute Idee war, sie so weitgehend in den Fall einzubeziehen. Vielleicht waren die Thomas‘ wegen der Chinaconnection der Hinrichs gekommen und die Geschichte mit dem Chinesen war nur eine Ablenkung? Immerhin wurde der nur von Charlotte zweifelsfrei beschrieben. Alle anderen Befragten gaben zwar an, einen Chinesen auf Hiddensee gesehen zu haben, konnte den aber nicht beschreiben. Und das konnte Melanie gut nachvollziehen: Schwarze glatte Haare, mandelförmige dunkle Augen, kleine Nase, ca. 1,70 groß. Das traf wahrscheinlich auf die meisten Asiaten zu. Den Kaukasiern fehlten die gewohnten Landmarks im Gesicht der Asiaten, hatte sie auf ihrer FBI-Schulung gelernt. Asiaten würden andere Merkmale wie Kopfform, Halsansatz, Ohr- und Mundform, Grübchen … für eine Beschreibung heranziehen. Das sorgte umgekehrt dafür, dass sie ebenso wenig die Westler voneinander unterscheiden konnten. Unzweifelhaft war, dass ein Chinese auf der Insel war und diese nicht mit einer Fähre verlassen hatte. Ob der in Rostock festgenommene und der Insel-Chinese identisch waren, stand auf einem anderen Blatt.

Sie fuhren zur Station, ließen Bade zusammen mit den beschlagnahmten Sachen zurück und fuhren dann so schnell, wie es auf Hiddensee geht, nach Neuendorf.
Papa ging alleine in die Stranddistel. Melanie und Treder beobachteten die Situation von draußen. Sollten die beiden Touristen etwas zu verbergen haben, dann würde sie die Uniform nervös machen und sie verließen überhastet die Kneipe. So die Überlegung. Doch das Paar tat ihnen den Gefallen nicht. Zwar beobachteten sie sein Hereinkommen, aber als sich Papa an den Stammtisch zu Charlotte setzte, wandten sie sich wieder ihrem Gespräch zu. Papa setzte seinen Polizistenblick auf und begrüßte die Bekannten an den Tischen. Für die Touristen musste das so aussehen, als wenn der Dorfpolizist hier zu seinem Feierabendbier einkehrte. Nicht nur, um die Tarnung aufrechtzuerhalten, bestellte er sich ein Hiddenseer. Die beiden ließen keine Eile erkennen. Melanie und Treder wurde allmählich kalt. Also beschlossen sie, die Observation abzubrechen. Sie gingen hinein und setzen sich ebenso selbstverständlich – wie zuvor Papa – an den Stammtisch. Charlotte signalisierte der entgeistert dreinblickenden Wirtin mit einem Blick, dass dieser offensichtlich feindliche Akt staatlichen Belangen untergeordnet werden musste. Man setzte sich nicht unaufgefordert an einen Hiddenseer Stammtisch. Nicht ohne Grund. Tischstreitigkeiten waren ein Teil der Existenzberechtigung der Hiddenseer Polizei. Die Alteingesessenen in der Kneipe verstummten kurz und beobachteten erwartungsvoll die Situation. Als sie bemerkten, dass die Wirtin keine Maßnahmen zur Verteidigung ergriff, war ihnen klar, dass alles seine Richtigkeit haben musste, und wandten sich wieder ihrem Bier zu. Das Paar bekam diese kurze Stimmungsschwankung mit und beobachtete nun etwas aufmerksamer die Neuankömmlinge. Die beiden waren mit dem Essen fertig und würden gleich zahlen. Es wurde Zeit für Melanie, einzugreifen. Sie ging hinüber zu dem Paar, stellte sich ihnen vor, und bat sich an den Tisch setzen zu dürfen. Sie willigten ein, aber ihren Gesichtern war zu entnehmen, dass ihnen die ganze Situation nicht passte.

Vitte Port

„Es tut mir leid, Sie in ihrem Urlaub belästigen zu müssen. Sie haben sicher schon von dem Vorfall in Vitte gehört und ich muss Ihnen dazu ein paar Fragen stellen“, sagte Melanie.
Der Mann antwortete: „Wir wissen nicht, welchen Vorfall Sie meinen. Können Sie etwas deutlicher werden?“
„In Vitte am Ostseestrand am Süderende ist ein Mann ermordet worden, den Sie wahrscheinlich als Letztes lebend gesehen haben. Vor dem Mörder, meine ich natürlich“, fügte Melanie absichtlich hinzu.
„Um Gottes willen“, sagte die Frau und hielt sich die Hand vor den Mund, „von wem reden Sie denn nur?“
„Wirklich keine Ahnung?“, fragte Melanie leicht gereizt. „Sie wissen nicht, wen ich meine?“
Die beiden sahen sie verständnislos an.
Der Mann übernahm wieder: „Nein, wir haben nicht die geringste Ahnung.“
Melanie erzählte ihnen von den Thomas‘ und dem Fund des toten Reginald Thomas am Strand.
„Das ist ja schrecklich“, sagte die Frau. „Wir haben den ganzen Abend über dies und das geplaudert. Seine Frau ging schon früher. Ihr war nicht gut. Ich glaube, sie hatte einen Platz auf einem Fuhrwerk bekommen. Er war zu Fuß dort und da haben wir ihm angeboten, sich auf den Gepäckträger zu setzen. Das hat auch geklappt. Als wir dann nach Vitte rein sind, also so circa auf der Höhe vom Haus Karusel stand am Weg eine Gestalt, die ihn auf Englisch angesprochen hat. Eindeutig ein Mann. Der Herr Thomas ist dann abgestiegen, hat sich verabschiedet und wir sind weiter nach Neuendorf gefahren.“
„Haben Sie die Person erkennen können“, fragte Melanie.
„Nein, überhaupt nicht. Er stand im Schatten. Das hat mich an dem Abend schon gestört. Ein paar Meter weiter stand eine Laterne. Aber er hat im tiefsten Schatten gewartet.“
„Sie meinen, er hat gewartet? Es war also ihrer Meinung nach keine Zufallsbegegnung?“
„Auf keinen Fall. Sie wissen ja, der Weg nach Vitte rein ist weit einsehbar. Der hat eindeutig gewartet.
„Was hat der Mann gesagt?“
„Mmhh, genau weiß ich es nicht mehr“, sagte die Frau, „irgendwas wie Hello Reg oder so.“
„Also hat er ihn auf Englisch und mit Namen angesprochen – ist das richtig?“
„Ja“, schaltete sich der Mann ein, „die Thomas‘ hatten sich in der Kneipe als Christine und Reginald vorgestellt.“
„Wann haben Sie ihn abgesetzt? Versuchen Sie sich bitte genau an die Zeit zu erinnern.“
„Das brauche ich gar nicht“, sagte der Mann, „ich erprobe zurzeit ein neues Produkt für meine Firma. Ein äußerst robuster Fahrradcomputer für den Profieinsatz. Den hatte ich an dem Abend eingeschaltet. Wir sind circa halb zwölf von der Kneipe los. Wenn Sie das Profil auf ihren Computer laden, sehen Sie genau, wann und wo wir Herrn Thomas verabschiedet haben … Ja, und wann wir in Neuendorf angekommen sind. Ich meine, falls wir ein Alibi brauchen.“
„Sehr gut“, sagte Melanie, „können Sie uns das Gerät überlassen? Sie bekommen es bestimmt zurück. Die Kriminaltechnik wird die Daten akribisch auswerten. Mir persönlich reicht erst mal eine ungefähre Angabe. Von Kloster bis zum Abzweig zum Seglerhafen sind es mit dem Fahrrad circa fünf Minuten – richtig?“
„Ja, das kommt hin. Vielleicht auch ein, zwei mehr. Das Wetter war mies und ich hatte ja jemanden auf dem Gepäckträger“, sagte der Mann.

Melanie überschlug innerlich die restliche Strecke. Zu Fuß braucht man bis zum Fundort zwanzig Minuten, egal, ob man am Strand entlang ging oder durch Vitte spazierte. Melanie tippte auf den Strand. Wenn die beiden stracks zum Tatort gegangen sind, dann kamen sie dort 23:55 Uhr an. Die Tat geschah zwischen 00:10 und 00:50 Uhr. Sie waren ganz dicht dran. Zu schade, dass das Paar den Chinesen nicht identifizieren konnte. Dann hätte sie die beiden eingepackt und wäre mit ihnen direkt nach Rostock zur Gegenüberstellung gefahren. Mit etwas Glück wäre der Fall nach zwei Tagen Ermittlung abgeschlossen. Das wär zwar kein Rekord, aber angesichts des komplizierten Eindrucks, den der Fall anfänglich gemacht hatte, ein wahrer Grund zur Freude. Sie tippte wieder auf den Chinesen. Der dritte Mann, der ohne Motiv mordete, trat weiter in den Hintergrund. Wenn Charlotte den Chinesen zweifelsfrei erkannte, hatte sie fast gewonnen – dachte sie.
„Also gut“, sagte Melanie, „der Kollege Papageorgiu wird Sie nach Hause begleiten, den Fahrradcomputer einsammeln und ihre Personalien aufnehmen. Wann wollen Sie die Insel wieder verlassen?“
„Oh keine Sorge, wir haben drei Wochen Urlaub gebucht und eine Woche ist erst vergangen. Sie finden uns in dem Ferienhaus, wann immer sie wollen.“
Melanie war zufrieden. Sie setzte sich wieder an den Stammtisch und gab Papa die entsprechenden Anweisungen. Der schaute maulig drein. Doch kein Feierabend.
„Soll ich Ihnen was bestellen, bis Sie wieder zurück sind Herr Papa?“, fragte Melanie amüsiert.
„Nee, nicht nötig. Bin gleich wieder da. Und außerdem hab ich ja die Autoschlüssel. Alles richtet sich nach mir … oder meinem leeren Magen“, konterte Papa. Treder schloss sich Papa spontan an. Er wollte eine paffen und außerdem hatte er noch keinen Hunger. Kein Wunder, dachte Melanie, der hatte heute Mittag den Bäcker leer gekauft und sich seitdem ein Teilchen nach dem anderen einverleibt. Sie fragte sich, wie viel Treder essen würde, wenn er mit dem Rauchen aufhörte.
Melanie gab ihre Bestellung auf. Sie nahm das, was Charlotte zuvor verschmäht hatte. Gebratener Dorsch mit Petersilienkartoffeln, einen Salat und dazu ein großes Hiddenseer. Etwas Grundsolides, das zu diesem Tag, dieser Insel und dem Wetter passte.

„Charlotte, wir haben einen Chinesen gefasst, der Ihrer Beschreibung nahekommt. Wir konnten ihn wegen eines Zollvergehens etwas länger festsetzen. Er sitzt zur Zeit in Rostock ein. Ich möchte Sie daher bitten, mich morgen wegen einer Gegenüberstellung zu begleiten. Wir werden hier abgeholt und ich fahre Sie dann nach Rostock. Mit etwas Glück sind wir abends wieder hier auf der Insel. Okay?“
„Echt jetzt, eine Gegenüberstellung mit venezianischem Spiegel und so? Cool!“, antwortete Charlotte. „Wie haben Sie denn so viele Chinesen in der schönen Hansestadt aufgetrieben. Oder haben sich die Maskenbildner vom Volkstheater mal so richtig ins Zeug gelegt? Yellowfacing quasi. Nicht besonders PC, aber wenn’s der Wahrheitsfindung dient.“
Melanie war gar nicht in den Sinn gekommen, dass die Ethnie eine gewisse logistische Herausforderung darstellen könnte. Wie viele asiatische Männer wohnten eigentlich in Rostock, die dem Phantombild einigermaßen entsprachen und die sich freiwillig zu diesem Komparsen-Job bereit erklärten? Nicht so viele. Sie konnte sich vorstellen, dass die Kollegen einfach den Chinesen in eine Reihe lauter Europäer stellten. Ihr wurde plötzlich heiß. Um die Zeit ist keiner mehr in der Abteilung erreichbar. Melanie bemerkte, wie Charlotte sie spöttisch beobachtete. Sie hatte sie ein weiteres Mal vorgeführt.
„Sie haben recht. Daran hab ich nicht gedacht. Ich will ehrlich sein, wenn die Gegenüberstellung nicht bestimmten objektiven Kriterien entspricht, dann kann es passieren, dass das Ergebnis wertlos wird. Ich bin mir leider überhaupt nicht sicher, ob die Kollegen dort weit genug mitdenken. Was können wir tun, dass ihre Aussage gerichtsfest wird?“

Charlotte antwortete: „Ich will Sie nicht ärgern. Wirklich nicht. Aber das ist eventuell ein wenig komplizierter, als Sie im Moment denken. Selbst wenn Sie genügend passende Asiaten in Rostock zusammen bekommen, was ich schon mal bezweifle, ist die Gefahr groß, dass ich zumindest die Chinesen davon kenne. Ich bin nicht nur Sinologin, sondern auch Vorsitzende des deutsch-chinesischen Kulturvereins in MV, der in Rostock residiert. Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen darf, dann lassen Sie die Vergleichspersonen aus Hamburg einfliegen. Dort gibt es die älteste und größte chinesische Diaspora Deutschlands. Und ich kenne die Leute von dort beinahe überhaupt nicht.“
Melanie dachte drüber nach. Sie hatte bei Weitem nicht die Kompetenzen, den Rostockern etwas aufzutragen. Schon gar nicht, wenn es darum ging, zusätzliche Ressourcen loszuschlagen. Fünf Chinesen aus Hamburg kommen zu lassen, überstieg ihre Möglichkeiten. Sie kannte keinen, den sie innerhalb des Dienstweges auf dieses kleine Problem aufmerksam machen konnte. Melanie war nicht so der Netzwerker. Strippenziehen war ihr im Grunde verhasst. Vitamin B hatte sie für ein typisches DDR-Ding gehalten. Ohne ging ja fast nichts in jener Zeit. Kennst du einen in der HO, bekommst du Südfrüchte; jemanden im Industriekombinat Nord, gibt es Autoersatzteile; jemanden in der Baustoffversorgung, Fliesen und immer so weiter. Dieses myzelartige Beziehungsgeflecht überzog die gesamte DDR. Persönliche Beziehungen nach Berlin waren besonders wichtig. Mit Grauen dachte Melanie daran, dass sie damals, wenn sie nicht wie ein Zonendödel rumlaufen wollte, ihre Klamotten in Berlin oder Dresden kaufen musste. Zurückgelegt für eine kurze Zeit. Also hinfahren. Mit der Reichsbahn. Zusammen mit hunderten Wehrpflichtigen in überfüllten und verqualmten Abteilen, die, je länger die Fahrt dauerte, umso besoffener und übergriffiger wurden. Wenn nichts Schlimmeres passierte, kotzten sie den Zug voll. Unvermittelt hatte sie wieder der DDR-Blues am Genick gepackt. Später hatte sie gelernt, dass Vitamin B im Westen noch wichtiger war. Es ging es nicht mehr nur um die Aufrechterhaltung einer irgendwie definierten persönlichen Würde, sondern ganz ordinär um Macht, Status und Geld. In ihrer Kanzlei hatte sie in all diese Abgründe geblickt und sich geschworen, niemals so tief hinabzusteigen, wie das ihre Collegen offensichtlich mit Freude taten. Die Ostzicke hatte sich den Netzwerkern verweigert. Und sie fühlte sich gut dabei. Doch in solchen Momenten wie diesem bedauerte sie, dass sie nicht die eine oder andere Telefonnummer parat hatte.
Sie spürte den Blick Charlottes auf sich ruhen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Charlotte.
Melanie antwortete: „Ja, alles okay. Musste nur an was denken. … Ich kenne niemanden, der mir in der Sache behilflich sein kann. Die einzige, die mir in den Sinn kommt, ist die Staatsanwältin. Aber sie ist eigentlich nicht die richtige Ansprechpartnerin für einen solchen Fall. Außerdem kenne ich die kaum. Keine Ahnung, wie sie das findet, wenn ich am Abend ihre Familienidylle störe. Egal, ich werde sie mal anrufen.“

Melanie ging nach draußen und erledigte den Anruf. Wider Erwarten zeigte sich die Staatsanwältin kooperationsbereit und versprach, sich zu kümmern oder wenigstens die Rostocker für dieses Problem zu sensibilisieren. Als sie wieder hineingehen wollte, kamen Treder und Papa zurück. Sie führten ein angeregtes Gespräch. Melanie hörte ihr Lachen schon von weitem. Na, da haben sich ja zwei gefunden, dachte Melanie. Papa hätte sie gerne in ihrem Team gehabt. Leider gab es zur Zeit keine Planstelle für einen weiteren Kollegen in ihrer Abteilung. Sie sah den positiven Einfluss auf Treder, dessen Trägheit Melanie zuweilen nervte. Sie wartete, bis die beiden die Kneipe erreicht hatten und erklärte ihnen kurz das Problem, welches Charlotte entdeckt hatte.
„Ich werde morgen den ganzen Tag unterwegs sein. Mit etwas Glück wird die Staatsanwältin unser Problemchen lösen. Bitte nehmt euch den Strandweg vor. So ab dem Aufgang am Karusel. Außerdem möchte ich, dass jemand ein bisschen Christine Thomas beaufsichtigt. Auch wenn sich der Chinese wieder in die Pole-Position geschoben hat, will ich sie nicht entlasten. Wir haben bei ihr wahrscheinlich nichts Verwertbares gefunden. Kann aber sein, dass sie irgendwo anders Dinge versteckt hat. Klopft ruhig mal ein bisschen auf den Busch. Lasst sie wissen, dass ihr den Strandweg scannen wollt. Euch wird da schon was einfallen. So, und jetzt will ich endlich Dorsch essen.“

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