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Menschen, Maurer, Motorradfahrer

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Menschen, Maurer, Motorradfahrer

Eine Zeichnung von Alexander Walter

Drei Wesen sind geeignet, mich besonders zu faszinieren: Menschen, Maurer und Motorradfahrer. Gelegentlich fallen sie in eine Person und davon will ich auf diesem Spaziergang erzählen.

Der Mensch als größtes Wunder der Natur, als Gegenstand der Selbsterkenntnis, zu der die Freimaurerei animiert, als ein komplexes und widersprüchliches System aus Körper, Seele und Geist, ist schon seitdem ich denken kann geeignet, mich zu begeistern. Die Maurer - betrachtet aus der Ferne in verschiedenen Medien und erlebt im Umgang in direkter Nähe - sind eine besondere Gruppe unter diesen Menschen, die schon wegen ihrer Vielfalt, Komplexität und Einzigartigkeit gewisse Rätsel aufgibt. Die Verschwiegenheit und Geheimnisse in der Freimaurerei hingegen tragen tatsächlich zu diesem Rätselhaften, das dem interessierten Denker immer Spannung verspricht, später nur noch wenig bei. Und die Motorradfahrer sind auch schon lange eine Spezies, die mich interessiert, über die ich mich belesen habe und denen ich die Freude habe, immer wieder zu begegnen.

Auf der einen Seite muss mein Interesse an und meine Affinität zu den Bikern doch verwundern. Denn ich selber hätte nie Motorradfahren können. Ausgestattet mit einer Sehbehinderung von Geburt an, die nach und nach mit 20 in einer Blindheit endete, konnten mich die Maschinen und deren Einzelteile nicht wirklich in ihren Bann ziehen. Auf der anderen Seite ist es gerade meine Seheinschränkung, die mich immer wieder in den Kontakt mit Rockern, Bikern und Liebhabern der Zweiräder gebracht hat. Mit 14 Jahren war ich auf meinem ersten größeren Bikertreffen, angezogen von sehr viel Freibier. Und noch besser als dieses - und das will aus meinem Munde doch etwas heißen - waren die Menschen, die einem dort über den Weg gelaufen sind.

Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag in einem alten Steinbruch in den Weinbergen bei Kasel in der Nähe von Trier erinnern. Mit einigen Freunden waren wir aufgelaufen, passierten Holzbuden, die mit der Aufschrift "Schmackofatz" als Essensstände ausgewiesen waren und machten, wozu man hierher kam: Trinken. Die gesamte Atmosphäre dabei war erstaunlich friedlich und ausgelassen. Sie wurde nur von wenigen Ausnahmen, die doch sehr regelhaft abliefen, unterbrochen. Teil einer solchen Ausnahme war auch ein Kumpel von mir, unfreiwillig. Der unzweifelhaft feine Kerl, der sich gerade in der Dachdeckerlehre befand und dessen einnehmendes Wesen einigermaßen gut hinter selbstgestochenen Tatoos verschwand, geriet irgendwie mit Glatzen-Manni, einem Skinhead gewisser Prominenz im damaligen Trier, aneinander. Nur hatte mein Kollege absolut keine Lust auf irgendeine Auseinandersetzung handgreiflicher Natur. Nicht so ein paar umstehende Motorradfreunde, die den Zwischenfall beobachtet hatten und dankbar, bestimmt und unmissverständlich die Sache klärten.

***

Für viele, die wenig in diesen Welten verkehren, mag es sich einigermaßen seltsam anhören, aber meine Erfahrung von Anfang an war, dass es unter Bikern friedlich, gerecht und regelhaft zugeht. Du kannst als Skinhead problemlos mitfeiern, aber du kannst dich nicht falsch verhalten. Das Verhalten in diesen Kreisen ist das einzige Kriterium, nach dem man bemessen wird. Und dabei werden sogar die Verhaltensmöglichkeiten berücksichtigt. Und das ist nicht überall so. Zu meiner Sehbehinderung gehörte in der damaligen Zeit neben der starken Kurzsichtigkeit, die mit einer sehr dicken Brille nur leicht korrigiert werden konnte, eine deutliche Blendempfindlichkeit bei Tag und eine Sehschwäche bei Dunkelheit in Richtung Nachtblindheit. In Diskotheken beispielsweise war ich damit durch die hellen Lichter im Wechsel mit der Schwärze vor echte Probleme gestellt.

So habe ich dann auch einige Male in meinem Leben in Clubs und ähnlichem unfreiwillig Schlägereien ausgelöst und das eine oder andere mal, weil ich irgendjemanden versehentlich angerempelt oder angeblich "schief angeschaut" hatte, den Unmut der Beleidigten tatkräftig zu spüren bekommen. Unter Bikern ist das nie passiert. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens: Die Beobachtungsgabe von Motorradfahrern, deren visuelle Fähigkeiten durch ihr Hobby gut trainiert sind und die auch in der Lage sind, ihre exakten visuellen Beobachtungen korrekt zu deuten. Zweitens: Das ausgeprägte Selbstbewusstsein dieser, das sich in einer Kombination aus Ruhe, Mut und einem Sinn für Gerechtigkeit ergibt. Durch einen halbblinden oder blinden Umherirrenden kann man Biker weder bedrohen, verunsichern und provozieren, noch beleidigen. Vielleicht hat es aber auch etwas mit Ehre zu tun. Während der Typ in dem Tanzschuppen seine Kumpels oder umworbene Frauen mit Gewalt gegen einen situativ wehrlosen Menschen beeindrucken will, er die Gelegenheit ergreift, seine eigentlich nicht existente Stärke gegen eine Schwäche, die tatsächlich keine ist, zu beweisen, er also Mut durch Feigheit zu demonstrieren versucht, ist es bei den Bikern umgekehrt. Für Auseinandersetzungen suchen sie eher stärkere als schwächere Gegner und Gelegenheiten, in denen man für Gerechtigkeit eintreten kann. Alles andere gilt als ehrlos.

Dem entgegen steht dabei eine ungesunde Nähe zur organisierten Kriminalität bei einigen Motorradclubs. Darüber kann man einiges lesen und wenn man sich unbefangen in der Welt der Biker bewegt, dann begegnet einem durchaus der eine oder andere, der schon in Konflikt mit dem Gesetz geraten ist. Und sogar über diese kann ich aus eigener Erfahrung nichts Schlechtes sagen. Ganz im Gegenteil. Einige von ihnen waren und sind mir sehr gute Freunde, die mir schon in vielen Dingen Hilfe geleistet haben. Wenn ich sie nach ihrem Verhalten mir gegenüber beurteile, dann komme ich nicht umhin festzustellen, dass sie für mein Leben wesentlich wertvoller waren und sind, als so manch rechtschaffener gesetzestreuer Mensch. Darüber kann ich mich nicht wundern. Wenn man behindert ist, kann man erleben, dass Recht und Gerechtigkeit hin und wieder nicht zusammenfallen. Auch in einem zweifelsfrei hervorragenden Rechtssystem wie in Deutschland, das vornehmlich die Interessen der Mehrheiten zu wahren hat, muss das für Minderheiten naturgemäß so sein. Allerdings, mit dieser dunklen Seite der Motorradszene, die prozentual nur einen verschwindend kleinen Teil betrifft, hatte ich nie viel Kontakt. Aber, man müsste auch mehr als blind sein, wenn man diesen Teil dort übersieht. Wieder gilt, dass man damit nichts zu tun haben muss, wenn man damit nichts zu tun haben will.

***

Drei Dinge werde ich in Bezug auf meine Blindheit häufig gefragt. Wie ist es blind zu sein? Wie ist es, blind am Ritual in der Freimaurerei teilzunehmen? Und: Wie ist es, blind im Beiwagen Motorrad zu fahren? Meist sind meine Antworten auf die Fragen unzufriedenstellend für diejenigen, die sie stellen. Das hat drei Gründe. Erstens sind die Fragen teilweise einfach zu inkonkret und zu weitläufig. Zweitens kann ich sie teilweise nicht oder entweder nur intraindividuell oder interindividuell vergleichend beantworten. Und drittens bin ich bei Fragen bezüglich meiner Behinderung in gewisser Weise launisch: Manchmal gebe ich gerne Auskunft, manchmal nicht. Falsch sind die Fragen aber nie, da sie zum einen meist ein echtes Interesse ausdrücken und zum anderen in einen Dialog führen können, der für beide Seiten erkenntnisreich sein kann.

Die Frage danach, wie es ist blind zu sein, ist lediglich die Frage nach meiner Identität insgesamt. Ich bin ohne Blindheit nicht denkbar, nicht einmal für mich selbst. Ich mache mir tatsächlich keine Vorstellung davon wie es wäre, nicht blind geworden zu sein. Vielleicht bin ich da phantasielos, aber für mich ist das ebenso absurd, wie für Sie darüber nachzudenken, wie das Leben mit einem dritten Arm wäre und was sie so alles verpassen und nicht tun können, weil sie einen solchen nicht haben. Natürlich ist es für mich wichtig zu verstehen und einschätzen zu können, wie, ob und was meine Mitmenschen sehen können - um so mehr, wenn ich mich auf sie verlasse, wenn ich ihnen blind vertraue. Aber das ist eben die Einschätzung derer Fähigkeiten und nicht meiner. Und da stoße ich an gewisse Grenzen. Weil ich fast 20 Jahre gesehen habe, kann ich mir Farben und Dimensionen vorstellen, habe Bilder im Kopf, die ich nie vergessen werde und denke insgesamt wohl sehr bildhaft. Aber je länger man blind ist, desto unwichtiger wird einem die sichtbare Welt. Aus den Augen, aus dem Sinn. So ist es einfach bei mir. Und das ist übrigens sehr angenehm. Ein farbloses Leben kann man auch nonvisuell sehr bunt machen. Und eines darf ich verraten: Gefühlte Farben sind wesentlich eindringlicher und schöner, als es gesehene je sein könnten und gewesen wären.

Wenn mich also jemand fragt, wie es ist blind zu sein, höre ich die Frage Kants danach, was der Mensch ist, sowie die Frage, welche so zentral dem Lehrling in der Freimaurerei gestellt wird, wer ich bin. Und so beantworte ich die Frage dann auch. Wer von mir wissen will, wie es ist blind zu sein, der muss mich kennenlernen. Und er wird dann nur erfahren, wie es für mich ist blind zu sein, sowie dabei erleben, dass einen blinden und sehenden Menschen nicht mehr unterscheidet als die Sehfähigkeit. Wie schwierig die Frage danach zu beantworten ist, wie es ist blind zu sein, können Sie sich vielleicht gut vorstellen, wenn ich sie umkehre. Wie ist es, sehend zu sein? Aber es sind eben auch sehr spannende Fragen. Man kann nichts dazu sagen oder tagelang darüber reden. Im letzteren Fall redet man über das Menschsein an sich und wird am Ende verblüfft feststellen, dass die gefundenen Antworten auf zwei diametral entgegengesetzte Fragen … die selben sind.

***

Meine Erfahrung ist, dass man als Mensch, Maurer und Motorradfahrer dann Akzeptanz und Anerkennung unter seinesgleichen findet, wenn man der ist und vorgibt zu sein, der man auch tatsächlich ist. Das setzt Selbsterkenntnis, Reflektiertheit, Ehrlichkeit und Authentizität voraus und das schätzen die Mitmenschen, wenn sie es in einem sehen können. Wenn man erblindet, ist es wirklich schwierig, zu erkennen und zu bleiben, wer man ist. Eine Erblindung ist schon eine große Veränderung. Aber nach vielen Jahren - bei mir waren es wohl rund 10 bis 15 - muss man feststellen, dass sie viel weniger substanziell ist, als man sich dies je hätte vorstellen können. Sieht man von den Alterungsprozessen und der zunehmenden Lebenserfahrung ab, bleibt man im Kern der, der man auch vorher war.

***

Wie ist es nun, blind das Ritual in der Freimaurerei zu erleben? Schwestern und Brüder haben mich dies schon häufig gefragt, und ein Artikel dazu aus meiner Feder mit dem Titel "Ein blinder Blick auf die königliche Kunst" ist sowohl in der Freimaurer-Zeitschrift „Humanität“, als auch auf der Internetseite der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (www.freimaurerei.de) erschienen und später auch in das Freimaurer-Wiki aufgenommen worden. Die Frage bleibt für mich schwer zu beantworten, da ich das Ritual nie sehenden Auges erlebt habe. Ich könnte ein mehrbändiges Werk darüber vorlegen, wie ich das Ritual erfahre. Aber das bringt ja eher die Kraft, Stärke und das Potential des Rituals zum Ausdruck, als dass es etwas über meine Blindheit sagen würde. Viele Brüder können sich in dieser epischen Breite über das rituelle Erleben auslassen. Das ist ein wichtiger Teil der Freimaurerei. So teilen wir Freude, bringen uns gegenseitig zum Nachdenken, inspirieren uns, schulen unsere Empathie. Und natürlich sind Logen gesegnet, die Brüder in ihren Reihen haben, die das Ritual mit vollkommen unterschiedlichen Möglichkeiten wahrnehmen, verfolgen und mitgestalten. Das steigert die Vielfalt und das Potential noch, die in der Freimaurerei ohnehin schon so ausgeprägt sind.

***

Und wie ist es blind Motorrad im Beiwagen mitzufahren? Auch das lässt sich vermutlich nur wirklich gut beantworten, wenn man selber einmal sehend gefahren ist. Vielmehr, als dass ich das Mofa eines Jugendfreundes bei einem kleinen Sturz etwas demoliert hatte, habe ich aber diesbezüglich nichts vorzuweisen. Und ohnehin ist es vermutlich so, dass dem Motorradfahrer sein Hobby Unterschiedliches bedeutet. Für einige mag es Freiheit, für andere Stärke, Selbstüberwindung, Gemeinschaft, Glück, Unabhängigkeit und vieles mehr sein. Ein geschätzter Bikerbruder, dessen Frau leider früh verstorben ist, erklärte mir einmal, dass ihm das Motorradfahren gerade in der Zeit des Verlustes und der Trauer sehr geholfen habe. Denn wenn du auf der Maschine sitzt und anspruchsvolle Touren fährst, dann musst du dich darauf konzentrieren, der Kopf muss dabei sein und kann nicht in dysfunktionale Gedankenschleifen abgleiten. Denn das wäre dein Ende.

In erster Linie ist das Mitfahren für mich ähnlich. Ich muss zwar nicht aufmerksam sein, aber - und das ist ein großer Unterschied zu meinem sonstigen Alltag - ich habe keinerlei Handlungsfreiheit. Ich kann nichts lesen, nicht noch etwas hier oder dort erledigen, bin nicht erreichbar, kann nichts schreiben. Ich muss ganz bei mir sein. Lediglich über die Rockmusik, die mich dabei durch die Kopfhörer begleitet, habe ich Entscheidungsmacht. Nun hat man als blinder Mensch quasi das umgekehrte Problem, das sich sehenden Menschen im Alltag stellt. Sie müssen, so scheint es mir, in einer immer hektischeren, schnelleren, reizüberfluteten und oberflächlichen Welt darauf achten, nicht durch die ganzen Reize zu weit von sich selber in eine ungesunde Selbstdistanziertheit und in soziale Verbände, die seelenlos sind, weggeführt zu werden. Wir hingegen müssen sehr darauf achten, nicht durch mangelhafte soziale Teilhabe, Isolation und ein Zuwenig an Reizen in eine selbstbezogene Tiefe, Verbitterung oder eine Subkultur des unverträglichen Außenseitertums zu geraten, die für niemanden außer uns selber noch nachvollziehbar ist und in eine Anspruchshaltung gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft führt, denen sie nicht gerecht werden können.

Wenn man nun bei einem Freund und Bruder mitfährt, dann kann man dies einerseits nicht alleine machen, noch weniger, wenn das Schwenkergespann Teil einer langen Kolonne ist. Andererseits ist man während der Fahrt doch nur bei sich und nirgendwo anders. Das Intercom erlaubt zwischendurch einen kurzen Austausch, aber ansonsten kann man in Gemeinschaft an keinem anderen Ort so zu sich selber kommen. Und ja, blind im Beiwagen mitzufahren ist die ultimative Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Achterbahnen sind nichts dagegen. Ich bin immer wieder verwundert darüber, wieviel Hormoncocktails der Körper an einem einzigen Tag ausschütten kann.

***

Wie sind Menschen? Wie sind Maurer? Wie sind Motorradfahrer? Dass ich einmal alle drei Fragen konzentriert in eine zusammenfassen können würde – nämlich: Wer bin ich? – hätte ich ehrlich gesagt nie gedacht. Auf alle Fragen ist die Antwort wohl komplex, vielseitig und menschlich. Das Leben nimmt seltsame Wege. Und so sehr wir Freimaurer, eben weil wir uns der Vergänglichkeit so bewusst sind und wir sie uns immer wieder vor Augen führen, auch bemühen, diese Lebenswege aktiv gestaltend zu gehen und aufmerksam zu wählen, so sehr muss man beim Blick in den Rückspiegel auch feststellen, dass eine unbeeinflussbare Zufälligkeit im Dasein steckt. Und doch sollte man einfach sein und bleiben, wer man ist. Von Zeit zu Zeit sollte man zurückblicken, damit man nicht vergißt, wo seine Wurzeln liegen und welchen Weg man bisher gegangen ist. Und wenn wir dann zurückschauen, dann sollte man befahrene Teilstrecken nicht ausblenden. Anderen - und manchmal einem selber - mag es sich nur schwer erschließen, aber wenn man wahrhaft zu sich kommt, dann hat jeder einzelne Meter auf dem Weg Sinn gemacht, man hätte keinen auslassen können.

Natürlich kann man eine Erblindung sehr dramatisch mit "schrecklich", "ich würde mich umbringen", "das ist das schlimmste Vorstellbare" und vielem mehr assoziieren. Aber letztlich ist das auch nicht mehr als der Ausdruck von Angst und einer gewissen Unfähigkeit, die Perspektive zu übernehmen. Als ich mit 17 die ersten blinden Menschen in dem Bewusstsein kennenlernte, dass ich vermutlich auch bald ganz blind sein würde, hat mich eine geburtsblinde Mitbewohnerin in einem Gespräch sehr nachdenklich gestimmt. Ich hätte vollkommen selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie die Wahl, sofort sehend sein zu können, direkt ergriffen hätte, wenn sie diese Gelegenheit bekommen hätte. Sie aber klärte mich auf, dass sie das nicht wollen würde, weil sie sich eben nur so kenne und möge, sie zufrieden sei und nichts ändern wolle. Ich hielt dies damals nicht für glaubhaft. Nach einiger Zeit des Zusammenlebens dämmerte mir, dass sie es tatsächlich so meinte. Und heute, zwei Jahrzehnte später, kann ich sie mehr als verstehen.

Auf meinem Weg in die Blindheit und auf der Strecke, die ich bis heute als Blinder zurückgelegt habe, haben mich sehr viele Menschen, Maurer und Motorradfahrer - und ich sie - begleitet. Da wäre von so vielen zu berichten. Und es ist ein wenig wie in der Freimaurerei: Immer will man deren Güte an großen Namen festmachen. Dabei besteht ihre wahre Qualität in den vielen namenlosen Schwestern und Brüdern, welche die Humanität ohne besondere Anerkennung leben. Da war mein Betreuer im Internat, ein Rocker durch und durch, alleinerziehender Vater, von dem ich nicht nur das Kochen und weiteres im Haushalt, sondern auch sehr viel über die Menschen gelernt habe. Oder eine Mobilitätstrainerin, die Frau des Präsidenten des örtlichen Motorradclubs, die mir nicht nur den Umgang mit dem Blindenstock beigebracht hat, sondern auch die nötige Dreistigkeit im Auftreten, ohne die du als Blinder untergehst.

Als ich rund 15 Jahre später Maurer wurde, hatte ich zwar, da ich doch sehr gründlich bei der Recherche bin und die Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einem Lebensbund doch sehr überlegt treffen wollte, auch davon gelesen, dass es die ‚Masonic Bikers‘ gibt, aber etwas darunter vorstellen konnte ich mir ebensowenig, wie ich im Vorfeld das rituelle Erleben zutreffend hätte antizipieren können. Und tatsächlich muss das genau so sein. Die Mitgliedschaft zur Freimaurerei muss sehr sorgfältig in einem zeitlich ausgedehnten Prozess erwogen werden. Aber dabei kann man gar nicht darauf kommen, was einem das Ritual später sein wird. Dass einer meiner Brüder der Loge, der ich mich anschloss, ein Gespann fährt, bei den ‚Masonic Bikern‘ auch in organisatorischer Hinsicht sehr aktiv ist und zudem ein guter Freund wurde, ist reiner Zufall.

Wie gesagt, Lebenswege sind eine wundersame Mischung aus Planung und Zufälligkeit. Mit dem genannten Bruder und den Masonic Bikern war ich nun schon häufiger auf Tour und unterwegs. Und das ist die perfekte Mischung: Menschen, Maurer und Motorradfahrer, alle für sich und doch verbrüdert in der Weltbruderkette, die hier zur Weltbruderkolonne wird. In einer Coronalücke konnte ich in diesem Sommer auch erstmals an einem Treffen im Ausland, genauer in der Schweiz, teilnehmen. Und es war wie bei unseren Zusammenkünften in Deutschland: Wunderbare Menschen zum Austausch, ernsthafte Freimaurerei auf höchstem Niveau und großartige Ausfahrten. Wobei man natürlich kritisch anmerken muss, dass die da in der Schweiz mit den ganzen Pässen und der Begegnung mit der eigenen Endlichkeit auf der Fahrt doch etwas übertreiben. Ein kurzes Video von Teilen der Ausfahrt findet sich auf dem YouTube-Kanal "Jagdhaus Helene" unter "Swiss Masonic Biker - 2020".

Unter den Brüdern aus aller Welt in der Schweiz, welche auch solche anderer maurerischer Motorradassoziationen wie der ‚Twelve Low Raiders‘ und der ‚Widows Sons‘ umfassten, wurde mir von einem Freund und Bruder, der die Initiative ergriffen hatte, am Ende eines philosophischen Abends meine eigene Kutte mit vielen Patches darauf geschenkt. Ich war so überrascht und überwältigt, dass ich meiner Freude gar nicht richtig Ausdruck verleihen konnte. Überreicht wurde sie mir mit der Aufforderung, sie in Ehren zu halten. Das versicherte ich natürlich reflexhaft. Aber was heißt das? Zu Beginn kam ich auf die Ehre bereits einmal zu sprechen. Ich weiß sicher, was es nicht bedeutet. Einer meiner Bikerfreunde aus früheren Tagen, Clubzugehöriger mit 2 Jahren Gefängniserfahrung wegen schwerer Körperverletzung, den ich sehr schätze, unter anderem, weil er so freundlich war, mich regelmäßig zum Einkaufen zu fahren, hat mir dies gut deutlich gemacht. Er war einmal in eine Auseinandersetzung mit Schießerei verwickelt, in der es um nichts anderes gegangen ist als die Colour, die Farben der Patches verschiedener Motorradclubs.

Und bei allem Respekt und bei aller Sympathie für Rocker, darin liegt keinerlei Ehre und noch weniger Verstand. Wenn ich solche Geschichten höre, wünsche ich mir fast, die Welt wäre für alle so farblos wie für mich. Nun, Menschen, Maurer und Motorradfahrer machen Fehler. Manchmal sind sie wirklich teuer. Was sehr schön ist an der Menschheit, der Freimaurerei und den Motorradfahrern ist, dass, wenn man es recht versteht, man sich in ihnen auf einer fundamentalen Ebene der Menschlichkeit begegnen kann, die auf einer starken Verbundenheit beruht, welche eine ausgeprägte Individualität nicht ausschließt. Und diese Begegnung im Menschsein umfasst auch die menschlichen Fehler. In ihr sind dadurch Behinderungen nicht mehr, was sie erst im sozialen Kontext werden, also Behinderungen. Und in ihr sind auch Vorbestrafte nicht mehr vorverurteilt.

***

Egal woran man glaubt, egal wofür man politisch steht, egal welche Erfahrungen und Möglichkeiten man mitbringt - auf der Ebene der Menschlichkeit kann man sich immer bewegen. Das einzige, wozu die Menschen bereit sein müssen ist, sich auf diese Ebene zu begeben, auf der Ehre Humanität ist. Die Begegnung auf menschlicher Ebene ist immer wertvoll, Wachstumsimpuls und wunderbar. In der Freimaurerei begegnen wir einander auf der Winkelwaage, auf gleicher Ebene, also ohne Berücksichtigung des sozialen Status oder des Ansehens, die außerhalb der Königlichen Kunst herrschen. In dieser Hinsicht ist die Freimaurerei inklusiv. Davon wollte ich auf diesem Spaziergang erzählen. Ich hoffe, dass es gelungen ist und dass Sie meine Begleitung bis hierher haben genießen können.

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Menschen, Maurer, Motorradfahrer

Eine Zeichnung von Alexander Walter

Drei Wesen sind geeignet, mich besonders zu faszinieren: Menschen, Maurer und Motorradfahrer. Gelegentlich fallen sie in eine Person und davon will ich auf diesem Spaziergang erzählen.

Der Mensch als größtes Wunder der Natur, als Gegenstand der Selbsterkenntnis, zu der die Freimaurerei animiert, als ein komplexes und widersprüchliches System aus Körper, Seele und Geist, ist schon seitdem ich denken kann geeignet, mich zu begeistern. Die Maurer - betrachtet aus der Ferne in verschiedenen Medien und erlebt im Umgang in direkter Nähe - sind eine besondere Gruppe unter diesen Menschen, die schon wegen ihrer Vielfalt, Komplexität und Einzigartigkeit gewisse Rätsel aufgibt. Die Verschwiegenheit und Geheimnisse in der Freimaurerei hingegen tragen tatsächlich zu diesem Rätselhaften, das dem interessierten Denker immer Spannung verspricht, später nur noch wenig bei. Und die Motorradfahrer sind auch schon lange eine Spezies, die mich interessiert, über die ich mich belesen habe und denen ich die Freude habe, immer wieder zu begegnen.

Auf der einen Seite muss mein Interesse an und meine Affinität zu den Bikern doch verwundern. Denn ich selber hätte nie Motorradfahren können. Ausgestattet mit einer Sehbehinderung von Geburt an, die nach und nach mit 20 in einer Blindheit endete, konnten mich die Maschinen und deren Einzelteile nicht wirklich in ihren Bann ziehen. Auf der anderen Seite ist es gerade meine Seheinschränkung, die mich immer wieder in den Kontakt mit Rockern, Bikern und Liebhabern der Zweiräder gebracht hat. Mit 14 Jahren war ich auf meinem ersten größeren Bikertreffen, angezogen von sehr viel Freibier. Und noch besser als dieses - und das will aus meinem Munde doch etwas heißen - waren die Menschen, die einem dort über den Weg gelaufen sind.

Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag in einem alten Steinbruch in den Weinbergen bei Kasel in der Nähe von Trier erinnern. Mit einigen Freunden waren wir aufgelaufen, passierten Holzbuden, die mit der Aufschrift "Schmackofatz" als Essensstände ausgewiesen waren und machten, wozu man hierher kam: Trinken. Die gesamte Atmosphäre dabei war erstaunlich friedlich und ausgelassen. Sie wurde nur von wenigen Ausnahmen, die doch sehr regelhaft abliefen, unterbrochen. Teil einer solchen Ausnahme war auch ein Kumpel von mir, unfreiwillig. Der unzweifelhaft feine Kerl, der sich gerade in der Dachdeckerlehre befand und dessen einnehmendes Wesen einigermaßen gut hinter selbstgestochenen Tatoos verschwand, geriet irgendwie mit Glatzen-Manni, einem Skinhead gewisser Prominenz im damaligen Trier, aneinander. Nur hatte mein Kollege absolut keine Lust auf irgendeine Auseinandersetzung handgreiflicher Natur. Nicht so ein paar umstehende Motorradfreunde, die den Zwischenfall beobachtet hatten und dankbar, bestimmt und unmissverständlich die Sache klärten.

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Für viele, die wenig in diesen Welten verkehren, mag es sich einigermaßen seltsam anhören, aber meine Erfahrung von Anfang an war, dass es unter Bikern friedlich, gerecht und regelhaft zugeht. Du kannst als Skinhead problemlos mitfeiern, aber du kannst dich nicht falsch verhalten. Das Verhalten in diesen Kreisen ist das einzige Kriterium, nach dem man bemessen wird. Und dabei werden sogar die Verhaltensmöglichkeiten berücksichtigt. Und das ist nicht überall so. Zu meiner Sehbehinderung gehörte in der damaligen Zeit neben der starken Kurzsichtigkeit, die mit einer sehr dicken Brille nur leicht korrigiert werden konnte, eine deutliche Blendempfindlichkeit bei Tag und eine Sehschwäche bei Dunkelheit in Richtung Nachtblindheit. In Diskotheken beispielsweise war ich damit durch die hellen Lichter im Wechsel mit der Schwärze vor echte Probleme gestellt.

So habe ich dann auch einige Male in meinem Leben in Clubs und ähnlichem unfreiwillig Schlägereien ausgelöst und das eine oder andere mal, weil ich irgendjemanden versehentlich angerempelt oder angeblich "schief angeschaut" hatte, den Unmut der Beleidigten tatkräftig zu spüren bekommen. Unter Bikern ist das nie passiert. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens: Die Beobachtungsgabe von Motorradfahrern, deren visuelle Fähigkeiten durch ihr Hobby gut trainiert sind und die auch in der Lage sind, ihre exakten visuellen Beobachtungen korrekt zu deuten. Zweitens: Das ausgeprägte Selbstbewusstsein dieser, das sich in einer Kombination aus Ruhe, Mut und einem Sinn für Gerechtigkeit ergibt. Durch einen halbblinden oder blinden Umherirrenden kann man Biker weder bedrohen, verunsichern und provozieren, noch beleidigen. Vielleicht hat es aber auch etwas mit Ehre zu tun. Während der Typ in dem Tanzschuppen seine Kumpels oder umworbene Frauen mit Gewalt gegen einen situativ wehrlosen Menschen beeindrucken will, er die Gelegenheit ergreift, seine eigentlich nicht existente Stärke gegen eine Schwäche, die tatsächlich keine ist, zu beweisen, er also Mut durch Feigheit zu demonstrieren versucht, ist es bei den Bikern umgekehrt. Für Auseinandersetzungen suchen sie eher stärkere als schwächere Gegner und Gelegenheiten, in denen man für Gerechtigkeit eintreten kann. Alles andere gilt als ehrlos.

Dem entgegen steht dabei eine ungesunde Nähe zur organisierten Kriminalität bei einigen Motorradclubs. Darüber kann man einiges lesen und wenn man sich unbefangen in der Welt der Biker bewegt, dann begegnet einem durchaus der eine oder andere, der schon in Konflikt mit dem Gesetz geraten ist. Und sogar über diese kann ich aus eigener Erfahrung nichts Schlechtes sagen. Ganz im Gegenteil. Einige von ihnen waren und sind mir sehr gute Freunde, die mir schon in vielen Dingen Hilfe geleistet haben. Wenn ich sie nach ihrem Verhalten mir gegenüber beurteile, dann komme ich nicht umhin festzustellen, dass sie für mein Leben wesentlich wertvoller waren und sind, als so manch rechtschaffener gesetzestreuer Mensch. Darüber kann ich mich nicht wundern. Wenn man behindert ist, kann man erleben, dass Recht und Gerechtigkeit hin und wieder nicht zusammenfallen. Auch in einem zweifelsfrei hervorragenden Rechtssystem wie in Deutschland, das vornehmlich die Interessen der Mehrheiten zu wahren hat, muss das für Minderheiten naturgemäß so sein. Allerdings, mit dieser dunklen Seite der Motorradszene, die prozentual nur einen verschwindend kleinen Teil betrifft, hatte ich nie viel Kontakt. Aber, man müsste auch mehr als blind sein, wenn man diesen Teil dort übersieht. Wieder gilt, dass man damit nichts zu tun haben muss, wenn man damit nichts zu tun haben will.

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Drei Dinge werde ich in Bezug auf meine Blindheit häufig gefragt. Wie ist es blind zu sein? Wie ist es, blind am Ritual in der Freimaurerei teilzunehmen? Und: Wie ist es, blind im Beiwagen Motorrad zu fahren? Meist sind meine Antworten auf die Fragen unzufriedenstellend für diejenigen, die sie stellen. Das hat drei Gründe. Erstens sind die Fragen teilweise einfach zu inkonkret und zu weitläufig. Zweitens kann ich sie teilweise nicht oder entweder nur intraindividuell oder interindividuell vergleichend beantworten. Und drittens bin ich bei Fragen bezüglich meiner Behinderung in gewisser Weise launisch: Manchmal gebe ich gerne Auskunft, manchmal nicht. Falsch sind die Fragen aber nie, da sie zum einen meist ein echtes Interesse ausdrücken und zum anderen in einen Dialog führen können, der für beide Seiten erkenntnisreich sein kann.

Die Frage danach, wie es ist blind zu sein, ist lediglich die Frage nach meiner Identität insgesamt. Ich bin ohne Blindheit nicht denkbar, nicht einmal für mich selbst. Ich mache mir tatsächlich keine Vorstellung davon wie es wäre, nicht blind geworden zu sein. Vielleicht bin ich da phantasielos, aber für mich ist das ebenso absurd, wie für Sie darüber nachzudenken, wie das Leben mit einem dritten Arm wäre und was sie so alles verpassen und nicht tun können, weil sie einen solchen nicht haben. Natürlich ist es für mich wichtig zu verstehen und einschätzen zu können, wie, ob und was meine Mitmenschen sehen können - um so mehr, wenn ich mich auf sie verlasse, wenn ich ihnen blind vertraue. Aber das ist eben die Einschätzung derer Fähigkeiten und nicht meiner. Und da stoße ich an gewisse Grenzen. Weil ich fast 20 Jahre gesehen habe, kann ich mir Farben und Dimensionen vorstellen, habe Bilder im Kopf, die ich nie vergessen werde und denke insgesamt wohl sehr bildhaft. Aber je länger man blind ist, desto unwichtiger wird einem die sichtbare Welt. Aus den Augen, aus dem Sinn. So ist es einfach bei mir. Und das ist übrigens sehr angenehm. Ein farbloses Leben kann man auch nonvisuell sehr bunt machen. Und eines darf ich verraten: Gefühlte Farben sind wesentlich eindringlicher und schöner, als es gesehene je sein könnten und gewesen wären.

Wenn mich also jemand fragt, wie es ist blind zu sein, höre ich die Frage Kants danach, was der Mensch ist, sowie die Frage, welche so zentral dem Lehrling in der Freimaurerei gestellt wird, wer ich bin. Und so beantworte ich die Frage dann auch. Wer von mir wissen will, wie es ist blind zu sein, der muss mich kennenlernen. Und er wird dann nur erfahren, wie es für mich ist blind zu sein, sowie dabei erleben, dass einen blinden und sehenden Menschen nicht mehr unterscheidet als die Sehfähigkeit. Wie schwierig die Frage danach zu beantworten ist, wie es ist blind zu sein, können Sie sich vielleicht gut vorstellen, wenn ich sie umkehre. Wie ist es, sehend zu sein? Aber es sind eben auch sehr spannende Fragen. Man kann nichts dazu sagen oder tagelang darüber reden. Im letzteren Fall redet man über das Menschsein an sich und wird am Ende verblüfft feststellen, dass die gefundenen Antworten auf zwei diametral entgegengesetzte Fragen … die selben sind.

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Meine Erfahrung ist, dass man als Mensch, Maurer und Motorradfahrer dann Akzeptanz und Anerkennung unter seinesgleichen findet, wenn man der ist und vorgibt zu sein, der man auch tatsächlich ist. Das setzt Selbsterkenntnis, Reflektiertheit, Ehrlichkeit und Authentizität voraus und das schätzen die Mitmenschen, wenn sie es in einem sehen können. Wenn man erblindet, ist es wirklich schwierig, zu erkennen und zu bleiben, wer man ist. Eine Erblindung ist schon eine große Veränderung. Aber nach vielen Jahren - bei mir waren es wohl rund 10 bis 15 - muss man feststellen, dass sie viel weniger substanziell ist, als man sich dies je hätte vorstellen können. Sieht man von den Alterungsprozessen und der zunehmenden Lebenserfahrung ab, bleibt man im Kern der, der man auch vorher war.

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Wie ist es nun, blind das Ritual in der Freimaurerei zu erleben? Schwestern und Brüder haben mich dies schon häufig gefragt, und ein Artikel dazu aus meiner Feder mit dem Titel "Ein blinder Blick auf die königliche Kunst" ist sowohl in der Freimaurer-Zeitschrift „Humanität“, als auch auf der Internetseite der Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Deutschland (www.freimaurerei.de) erschienen und später auch in das Freimaurer-Wiki aufgenommen worden. Die Frage bleibt für mich schwer zu beantworten, da ich das Ritual nie sehenden Auges erlebt habe. Ich könnte ein mehrbändiges Werk darüber vorlegen, wie ich das Ritual erfahre. Aber das bringt ja eher die Kraft, Stärke und das Potential des Rituals zum Ausdruck, als dass es etwas über meine Blindheit sagen würde. Viele Brüder können sich in dieser epischen Breite über das rituelle Erleben auslassen. Das ist ein wichtiger Teil der Freimaurerei. So teilen wir Freude, bringen uns gegenseitig zum Nachdenken, inspirieren uns, schulen unsere Empathie. Und natürlich sind Logen gesegnet, die Brüder in ihren Reihen haben, die das Ritual mit vollkommen unterschiedlichen Möglichkeiten wahrnehmen, verfolgen und mitgestalten. Das steigert die Vielfalt und das Potential noch, die in der Freimaurerei ohnehin schon so ausgeprägt sind.

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Und wie ist es blind Motorrad im Beiwagen mitzufahren? Auch das lässt sich vermutlich nur wirklich gut beantworten, wenn man selber einmal sehend gefahren ist. Vielmehr, als dass ich das Mofa eines Jugendfreundes bei einem kleinen Sturz etwas demoliert hatte, habe ich aber diesbezüglich nichts vorzuweisen. Und ohnehin ist es vermutlich so, dass dem Motorradfahrer sein Hobby Unterschiedliches bedeutet. Für einige mag es Freiheit, für andere Stärke, Selbstüberwindung, Gemeinschaft, Glück, Unabhängigkeit und vieles mehr sein. Ein geschätzter Bikerbruder, dessen Frau leider früh verstorben ist, erklärte mir einmal, dass ihm das Motorradfahren gerade in der Zeit des Verlustes und der Trauer sehr geholfen habe. Denn wenn du auf der Maschine sitzt und anspruchsvolle Touren fährst, dann musst du dich darauf konzentrieren, der Kopf muss dabei sein und kann nicht in dysfunktionale Gedankenschleifen abgleiten. Denn das wäre dein Ende.

In erster Linie ist das Mitfahren für mich ähnlich. Ich muss zwar nicht aufmerksam sein, aber - und das ist ein großer Unterschied zu meinem sonstigen Alltag - ich habe keinerlei Handlungsfreiheit. Ich kann nichts lesen, nicht noch etwas hier oder dort erledigen, bin nicht erreichbar, kann nichts schreiben. Ich muss ganz bei mir sein. Lediglich über die Rockmusik, die mich dabei durch die Kopfhörer begleitet, habe ich Entscheidungsmacht. Nun hat man als blinder Mensch quasi das umgekehrte Problem, das sich sehenden Menschen im Alltag stellt. Sie müssen, so scheint es mir, in einer immer hektischeren, schnelleren, reizüberfluteten und oberflächlichen Welt darauf achten, nicht durch die ganzen Reize zu weit von sich selber in eine ungesunde Selbstdistanziertheit und in soziale Verbände, die seelenlos sind, weggeführt zu werden. Wir hingegen müssen sehr darauf achten, nicht durch mangelhafte soziale Teilhabe, Isolation und ein Zuwenig an Reizen in eine selbstbezogene Tiefe, Verbitterung oder eine Subkultur des unverträglichen Außenseitertums zu geraten, die für niemanden außer uns selber noch nachvollziehbar ist und in eine Anspruchshaltung gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft führt, denen sie nicht gerecht werden können.

Wenn man nun bei einem Freund und Bruder mitfährt, dann kann man dies einerseits nicht alleine machen, noch weniger, wenn das Schwenkergespann Teil einer langen Kolonne ist. Andererseits ist man während der Fahrt doch nur bei sich und nirgendwo anders. Das Intercom erlaubt zwischendurch einen kurzen Austausch, aber ansonsten kann man in Gemeinschaft an keinem anderen Ort so zu sich selber kommen. Und ja, blind im Beiwagen mitzufahren ist die ultimative Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Achterbahnen sind nichts dagegen. Ich bin immer wieder verwundert darüber, wieviel Hormoncocktails der Körper an einem einzigen Tag ausschütten kann.

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Wie sind Menschen? Wie sind Maurer? Wie sind Motorradfahrer? Dass ich einmal alle drei Fragen konzentriert in eine zusammenfassen können würde – nämlich: Wer bin ich? – hätte ich ehrlich gesagt nie gedacht. Auf alle Fragen ist die Antwort wohl komplex, vielseitig und menschlich. Das Leben nimmt seltsame Wege. Und so sehr wir Freimaurer, eben weil wir uns der Vergänglichkeit so bewusst sind und wir sie uns immer wieder vor Augen führen, auch bemühen, diese Lebenswege aktiv gestaltend zu gehen und aufmerksam zu wählen, so sehr muss man beim Blick in den Rückspiegel auch feststellen, dass eine unbeeinflussbare Zufälligkeit im Dasein steckt. Und doch sollte man einfach sein und bleiben, wer man ist. Von Zeit zu Zeit sollte man zurückblicken, damit man nicht vergißt, wo seine Wurzeln liegen und welchen Weg man bisher gegangen ist. Und wenn wir dann zurückschauen, dann sollte man befahrene Teilstrecken nicht ausblenden. Anderen - und manchmal einem selber - mag es sich nur schwer erschließen, aber wenn man wahrhaft zu sich kommt, dann hat jeder einzelne Meter auf dem Weg Sinn gemacht, man hätte keinen auslassen können.

Natürlich kann man eine Erblindung sehr dramatisch mit "schrecklich", "ich würde mich umbringen", "das ist das schlimmste Vorstellbare" und vielem mehr assoziieren. Aber letztlich ist das auch nicht mehr als der Ausdruck von Angst und einer gewissen Unfähigkeit, die Perspektive zu übernehmen. Als ich mit 17 die ersten blinden Menschen in dem Bewusstsein kennenlernte, dass ich vermutlich auch bald ganz blind sein würde, hat mich eine geburtsblinde Mitbewohnerin in einem Gespräch sehr nachdenklich gestimmt. Ich hätte vollkommen selbstverständlich vorausgesetzt, dass sie die Wahl, sofort sehend sein zu können, direkt ergriffen hätte, wenn sie diese Gelegenheit bekommen hätte. Sie aber klärte mich auf, dass sie das nicht wollen würde, weil sie sich eben nur so kenne und möge, sie zufrieden sei und nichts ändern wolle. Ich hielt dies damals nicht für glaubhaft. Nach einiger Zeit des Zusammenlebens dämmerte mir, dass sie es tatsächlich so meinte. Und heute, zwei Jahrzehnte später, kann ich sie mehr als verstehen.

Auf meinem Weg in die Blindheit und auf der Strecke, die ich bis heute als Blinder zurückgelegt habe, haben mich sehr viele Menschen, Maurer und Motorradfahrer - und ich sie - begleitet. Da wäre von so vielen zu berichten. Und es ist ein wenig wie in der Freimaurerei: Immer will man deren Güte an großen Namen festmachen. Dabei besteht ihre wahre Qualität in den vielen namenlosen Schwestern und Brüdern, welche die Humanität ohne besondere Anerkennung leben. Da war mein Betreuer im Internat, ein Rocker durch und durch, alleinerziehender Vater, von dem ich nicht nur das Kochen und weiteres im Haushalt, sondern auch sehr viel über die Menschen gelernt habe. Oder eine Mobilitätstrainerin, die Frau des Präsidenten des örtlichen Motorradclubs, die mir nicht nur den Umgang mit dem Blindenstock beigebracht hat, sondern auch die nötige Dreistigkeit im Auftreten, ohne die du als Blinder untergehst.

Als ich rund 15 Jahre später Maurer wurde, hatte ich zwar, da ich doch sehr gründlich bei der Recherche bin und die Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einem Lebensbund doch sehr überlegt treffen wollte, auch davon gelesen, dass es die ‚Masonic Bikers‘ gibt, aber etwas darunter vorstellen konnte ich mir ebensowenig, wie ich im Vorfeld das rituelle Erleben zutreffend hätte antizipieren können. Und tatsächlich muss das genau so sein. Die Mitgliedschaft zur Freimaurerei muss sehr sorgfältig in einem zeitlich ausgedehnten Prozess erwogen werden. Aber dabei kann man gar nicht darauf kommen, was einem das Ritual später sein wird. Dass einer meiner Brüder der Loge, der ich mich anschloss, ein Gespann fährt, bei den ‚Masonic Bikern‘ auch in organisatorischer Hinsicht sehr aktiv ist und zudem ein guter Freund wurde, ist reiner Zufall.

Wie gesagt, Lebenswege sind eine wundersame Mischung aus Planung und Zufälligkeit. Mit dem genannten Bruder und den Masonic Bikern war ich nun schon häufiger auf Tour und unterwegs. Und das ist die perfekte Mischung: Menschen, Maurer und Motorradfahrer, alle für sich und doch verbrüdert in der Weltbruderkette, die hier zur Weltbruderkolonne wird. In einer Coronalücke konnte ich in diesem Sommer auch erstmals an einem Treffen im Ausland, genauer in der Schweiz, teilnehmen. Und es war wie bei unseren Zusammenkünften in Deutschland: Wunderbare Menschen zum Austausch, ernsthafte Freimaurerei auf höchstem Niveau und großartige Ausfahrten. Wobei man natürlich kritisch anmerken muss, dass die da in der Schweiz mit den ganzen Pässen und der Begegnung mit der eigenen Endlichkeit auf der Fahrt doch etwas übertreiben. Ein kurzes Video von Teilen der Ausfahrt findet sich auf dem YouTube-Kanal "Jagdhaus Helene" unter "Swiss Masonic Biker - 2020".

Unter den Brüdern aus aller Welt in der Schweiz, welche auch solche anderer maurerischer Motorradassoziationen wie der ‚Twelve Low Raiders‘ und der ‚Widows Sons‘ umfassten, wurde mir von einem Freund und Bruder, der die Initiative ergriffen hatte, am Ende eines philosophischen Abends meine eigene Kutte mit vielen Patches darauf geschenkt. Ich war so überrascht und überwältigt, dass ich meiner Freude gar nicht richtig Ausdruck verleihen konnte. Überreicht wurde sie mir mit der Aufforderung, sie in Ehren zu halten. Das versicherte ich natürlich reflexhaft. Aber was heißt das? Zu Beginn kam ich auf die Ehre bereits einmal zu sprechen. Ich weiß sicher, was es nicht bedeutet. Einer meiner Bikerfreunde aus früheren Tagen, Clubzugehöriger mit 2 Jahren Gefängniserfahrung wegen schwerer Körperverletzung, den ich sehr schätze, unter anderem, weil er so freundlich war, mich regelmäßig zum Einkaufen zu fahren, hat mir dies gut deutlich gemacht. Er war einmal in eine Auseinandersetzung mit Schießerei verwickelt, in der es um nichts anderes gegangen ist als die Colour, die Farben der Patches verschiedener Motorradclubs.

Und bei allem Respekt und bei aller Sympathie für Rocker, darin liegt keinerlei Ehre und noch weniger Verstand. Wenn ich solche Geschichten höre, wünsche ich mir fast, die Welt wäre für alle so farblos wie für mich. Nun, Menschen, Maurer und Motorradfahrer machen Fehler. Manchmal sind sie wirklich teuer. Was sehr schön ist an der Menschheit, der Freimaurerei und den Motorradfahrern ist, dass, wenn man es recht versteht, man sich in ihnen auf einer fundamentalen Ebene der Menschlichkeit begegnen kann, die auf einer starken Verbundenheit beruht, welche eine ausgeprägte Individualität nicht ausschließt. Und diese Begegnung im Menschsein umfasst auch die menschlichen Fehler. In ihr sind dadurch Behinderungen nicht mehr, was sie erst im sozialen Kontext werden, also Behinderungen. Und in ihr sind auch Vorbestrafte nicht mehr vorverurteilt.

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Egal woran man glaubt, egal wofür man politisch steht, egal welche Erfahrungen und Möglichkeiten man mitbringt - auf der Ebene der Menschlichkeit kann man sich immer bewegen. Das einzige, wozu die Menschen bereit sein müssen ist, sich auf diese Ebene zu begeben, auf der Ehre Humanität ist. Die Begegnung auf menschlicher Ebene ist immer wertvoll, Wachstumsimpuls und wunderbar. In der Freimaurerei begegnen wir einander auf der Winkelwaage, auf gleicher Ebene, also ohne Berücksichtigung des sozialen Status oder des Ansehens, die außerhalb der Königlichen Kunst herrschen. In dieser Hinsicht ist die Freimaurerei inklusiv. Davon wollte ich auf diesem Spaziergang erzählen. Ich hoffe, dass es gelungen ist und dass Sie meine Begleitung bis hierher haben genießen können.

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