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Kunst und Können

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====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Viele der ersten Fotografinnen und Fotografen waren entweder Wissenschaftler oder Künstler und so gehört der Streit ob Fotografie nun dokumentierende Technik oder Kunst ist von Anfang an zu dem Medium. Der erste Fotograf der diese Frage zum ersten Mal und mit Überzeugung mit „Kunst!“ beantwortet ist heute kaum noch bekannt, darf aber ohne zu übertreiben als Vater der künstlerischen Fotografie bezeichnet werden…

Oscar Rejlander’s Lachen / Weinen. Zum Vergleich zwischen emotionaler Mimik und Gestik zwischen Erwachsenen und Kindern. Auftragsarbeit für Charles Darwin
The Two Ways of Life
The Two Ways of Life, alternative Version
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Transkript

Kunst und Können

Die 1850er Jahre in England sind für die Fotografie eine unglaublich wichtige Zeit. Es formen sich die ersten Kameraclubs, Amateurvereine, in denen Bilder besprochen werden. Und es tobt ein Streit.

Es tauchen nämlich die ersten Fotografinnen und Fotografen auf, die sagen, Fotografie ist Kunst. Und das geht ja gar nicht, widersprechen vor allem die Maler. Denn erstens braucht es ja wohl kein Können, um einen Automaten dazu zu bringen, eine Szene festzuhalten, die dann zweitens ja schon existiert, also nicht ausgedacht wurde und drittens so gar nicht idealisiert.

Überhaupt dieser letzte Aspekt, diese gnadenlose Darstellung der wahren Welt, das können wir uns heute überhaupt gar nicht mehr ausmalen, was für ein Paradigmenwechsel das war. Besonders die Malerei, die man in der viktorianischen Zeit gewohnt war, war sehr idealisierend. Es wurden keine Fehler im Gemälde geduldet, außer, sie waren absichtlich oder Zeichen mangelndem Könnens. Eine Fotografie bildet aber die Wirklichkeit ab und besonders die ersten Fotografinnen und Fotografen waren ja oft von akademischem und wissenschaftlichem Hintergrund und fotografierten damit auch möglichst naturgetreu.

Es ist die Zeit des Kollodium-Nassplatten-Verfahrens. Und damit waren die Bilder auch tatsächlich relativ scharf und detailreich. Für die Malerinnen und Maler der damaligen Zeit wirkten die Fotografien geradezu ordinär. Sie waren beeindruckend im Ergebnis und sehr nützlich, aber im Grunde eine Art Skizzenmaschine. Die Fotografie hatte also ein gewisses Imageproblem.

Und da half es auch nicht, dass die ersten Fotografien auftauchten, die klassische Gemäldeszenen nachahmten. Menschen, die in opulenten Gewändern vor Wandteppichen posierten und in denen jedes Utensil im Bild eine Bedeutung trug, das fanden viele nicht überzeugend. Das wirkte nachgemacht. Fotos, die versuchten, wie Gemälde auszusehen. Pah! Und überhaupt, Fotografien starten ja mit der existierenden Szene und man kann ja nur Dinge weglassen, während ein Maler oder eine Malerin sich eine Szene vorstellen und dann Schicht für Schicht Dinge hinzufügen kann, bis das Gemälde fertig ist. Das war eins der damals sehr weit verbreiteten Killerargumente bei der Frage ‚ist Fotografie Kunst?‘.

Und das ist das Argument, das Oscar Gustave Rejlander hört, als er einem Freund eine seiner ersten Fotografien zeigt. Rejlander kam 1813 als Sohn eines schwedischen Steinmetzes auf die Welt. Er studiert Kunst in Rom und wandert dann später nach England ein. Als mit der Daguerreotypie das erste kommerziell erfolgreiche fotografische Verfahren die Bühne betritt, ist Rejlander immerhin schon 26 Jahre alt und ausgebildeter Maler.

Nicht zuletzt, weil die Daguerreotypie in Großbritannien Lizenzgebühren kostet, geht hier die Entwicklung einen völlig anderen Weg. Hier wird dann auch das Kollodium-Nassplatten-Verfahren entwickelt, das erste Verfahren, das wirklich frei verfügbar war und bei dem man auf Glasplatten Negative erzeugt, die dann beliebig oft in Drucke umgewandelt werden können.

Rejlander ist fasziniert von der Technik und lässt sie sich von einem damals schon etablierten Fotografen zeigen. Was andere sich in mehreren Wochen Praxis zeigen lassen, lässt er sich in ungefähr 3 Stunden erklären. Er wird später aufschreiben, dass er wünschte, er hätte etwas mehr Energie und Zeit verwendet, das Verfahren wirklich von Grund auf zu lernen. So ist er später gezwungen, seine eigenen Verfahren, Tricks und Kniffe zu lernen, das ist natürlich vielleicht auch der Grund, warum er dann so erfolgreich sein wird, andererseits hat das ihm auch den Ruf eingebracht, nicht immer die Beste der möglichen Qualitätsstufen zu erreichen.

Anfangs sieht Rejlander die Malerei nach wie vor als die überlegene Kunstform. Er ist Portraitmaler, er macht Portraitminiaturen. Und er nutzt die Fotografie, um Skizzen zu fertigen oder Posen und Faltenwurf und Gesichter zu studieren. Besagter Freund bekommt also eine seiner ersten Fotografien zu Gesicht, eine Fotografie, die zwei Personen zeigt. Und als die beiden Männer sich so über das Bild beugen und sich darüber unterhalten, meint er abfällig, dass hier ganz offensichtlich deutlich wird, was der große Unterschied zwischen Malerei und Fotografie wäre. Denn das Bild wäre unperfekt. Zwar zeigt es zwei Personen und die in jedem nur erdenklich möglichem Detailgrad, aber als Maler hätte man für eine ausgewogene Bildkomposition eigentlich noch eine Person in die Mitte gepackt. Und die Fotografie wäre ja jetzt schon fertig. Man könne also nur eine völlig neue Fotografie erzeugen, aber nicht nachträglich eine Person einbauen.

Rejlander ist elektrisiert. Er hat eine Idee. Wenige Tage später verabredet er sich mit demselben Freund und bringt ein Bild mit. Der wirft einen Blick darauf und traut seinen Augen nicht. Rejlander hatte ihm bewiesen, was er für unmöglich gehalten hatte: Es war unzweifelhaft dasselbe Bild, das er wenige Tage vorher gesehen hatte, aber jetzt mit einer dritten Person zwischen den zwei anderen. „Es geht eben doch“, sagt Oscar triumphierend. „Auch Fotografen können Bilder im Kopf entstehen lassen.“ Und auch Fotografen steht völlig frei, wie sie die Technik benutzen, um das fertige Bild zu erzeugen.

Das Medium der Fotografie ist noch ganz jung. Viele Fotografierende versuchen, herauszufinden, in welche Richtung sich alles entwickeln könnte. Und allerorten wird festgelegt, wie denn Dinge zu geschehen haben. Was ist denn gute Fotografie, was ist schlechte? Welche Techniken funktionieren? Es formt sich, aber damals wie heute klingt das natürlich dann von den Leuten, die ihre Ideen verbreiten, so, als wäre es Gesetz. Und Oscar Rejlander war diesen Einflüssen noch nicht ausreichend lange ausgesetzt, sodass ihm das wahrscheinlich im Wesentlichen egal war. Er blickt völlig frei auf das Medium und fragt sich, was er damit anfangen kann.

Und da lohnt es sich auch, ganz kurz darüber nachzudenken, wie Kollodium-Nassplatten-Verfahren funktionieren. Man braucht dazu natürlich zunächst mal eine Kamera, und zwar eine Kamera, die mindestens so groß ist, dass sie das Bild in der gewünschten Zielgröße aufnehmen kann. Stellen wir uns also eine Kiste vor, die hinten ein A4-großes Blatt Papier enthalten kann. Vorne ist ein Objektiv und den ganzen Kasten kann man wie eine Ziehharmonika auseinander- und wieder zusammenschieben. Das ist notwendig, um die Schärfeebene zu kontrollieren, also auf die richtige Stelle im Bild scharfschalten zu können.

Beim Kollodium-Nassplatten-Verfahren legt man allerdings hinten kein Papier ein, sondern man legt eine Glasscheibe ein. Die wird in einer Dunkelkammer zuerst mit Kollodium beschichtet und dann mit einer Silbernitratlösung lichtempfindlich gemacht. Die dann noch feuchte Glasscheibe muss dann in eine Kamera eingelegt werden und wird dann nach erfolgter Belichtung noch feucht fertigentwickelt.

Was man bekommt, ist ein Negativ, auf der Glasplatte ist also ein Bild, in dem alle hellen Teile der Szene schwarz dargestellt werden und alle dunklen Teile der Szene weiß. Weiß auf Glas heißt: An den dunklen Stellen der Szene ist das Negativ durchsichtig. Und das war die erste Idee, die Rejlander dazu brachte, Bildbestandteile miteinander zu kombinieren. Ihm ging nämlich auf, dass an diesen durchsichtigen Stellen natürlich Nahtstellen sind, die man später beim Druck nicht mehr sehen würde.

Der Druck ist nämlich der nächste Arbeitsschritt. Um aus dem Negativ ein Positiv, also ein fertiges Bild zu machen, nimmt man jetzt die Glasplatte, spannt sie mit einem lichtempfindlichen Papier zusammen und setzt beides der Sonne aus. Danach wird das Bild gewaschen und fixiert und fertig ist das Positivbild. Denn alle die Stellen, die im Negativ die Sonne blockieren, sind auf dem fertigen Bild ja dann weiß und alle die Stellen, die die Sonne durchlassen, werden schwarz. Je länger man das Bild in der Sonne lässt, desto dunkler eben.

Im ersten Schritt kommt also Rejlander auf die Idee, die verschiedenen Bildbestandteile einzeln voneinander aufzunehmen, dafür zu sorgen, dass sie von möglichst dunklen Szenenelementen umgeben sind und die dann für den Druck gezielt zusammenzumontieren.

Aber das war nur der Anfang. Er beginnt, mit Vergrößerungen zu experimentieren, also, salopp formuliert, positive nochmal abfotografieren, nur mit entsprechender Vergrößerung. Er deckt Teile der Negative gezielt ab, malt andere rein, spielt mit den verschiedensten Dunkelkammertechniken und montiert die Bilder zusammen, zum Teil mit sehr verblüffenden Ergebnissen.

Immer mit dabei und als Technikerin wahrscheinlich seine wichtigste Mitarbeiterin ist seine Frau Mary. Schon als er noch Maler war, nahm sie ihm eine Menge administrative Aufgaben ab. Jetzt als Fotograf ist sie seine Assistentin in der Dunkelkammer, sein häufigstes Fotomodell, Kundenbetreuerin und Geschäftsführerin im Hintergrund.

Längst nicht alle seine Fotografien sind Montagen, tatsächlich ist der hauptsächliche Kundenstamm ganz klassisch an Portraits interessiert. Rejlander hat außerdem ein persönliches Interesse an inszenierten Kinderportraits. Das ist ein Genre, das besonders im viktorianischen Zeitalter blüht und gedeiht. Kinder werden in allen möglichen Posen dargestellt und abfotografiert, oft in Gegenwart der Eltern. Und das ist auch der Grund, warum gerade aus der Zeit sehr viele Kinderportraits gerade auch von den großen Fotografinnen und Fotografen erhalten sind. Namen wie Julia Margaret Cameron sind untrennbar mit mal mehr, mal weniger inszenierten Kinder- und Säuglingsportraits verbunden.

Der Mathematiker, Schriftsteller und Fotograf Lewis Carroll (ja, der Lewis Carroll, der Alice im Wunderland geschrieben hat) freundet sich mit Rejlander an und fängt an, seine Kinderportraits zu sammeln. Später wird Lewis Carroll selber Kinderportraits machen und der Stil Rejlanders kommt so stark durch, dass es später manchmal nicht ganz klar sein wird, ob ein noch erhaltenes Bild eigentlich von Lewis Carroll oder von Oscar gemacht worden war. Und auch Julia Margaret Cameron wird mit ganz eindeutig von Oscar Rejlander inspirierten Gemälden berühmt. Sie verkehren in denselben Kreisen, sie kennen dieselben Leute, sie haben zum Teil dieselben Freunde und fotografieren dieselben Berühmtheiten ihrer Zeit.

Aber auch, wenn Oscar Rejlander hauptsächlich Portraits macht, haben manche Portraits Eigenschaften, die es zu der Zeit eigentlich gar nicht geben dürfte. So erregt zum Beispiel das Bild „The Juggler“; der Jongleur, Aufsehen, weil dort ein Jongleur zu sehen ist mit Bällen in der Luft. Und das könnte natürlich nur eine optische Illusion sein, denn mit mehreren Sekunden Belichtungszeit lassen sich Bälle in Bewegung nun mal nicht einfangen, aber das Bild sieht täuschend echt aus.

Zu der Zeit traut man Rejlander allerdings inzwischen schon fast alles zu. Heute nennt man Rejlander den Vater der künstlerischen und inszenierten Fotografie. Und der Grund dafür ist ein Bild, das er 1857 macht, das den Titel „The Two Ways of Life“ trägt. Wenn man dieses Bild zum ersten Mal sieht, kommt es einem wie ein barockes Gemälde vor. Es ist inspiriert, im Aufbau zumindest, von einigen berühmten Malereien, die der junge Rejlander, als er in Rom Malerei studiert hat, wahrscheinlich im Original gesehen hat.

Und bevor ich jetzt erkläre, warum dieses Bild eine kontroverse und einen Skandal ausgelöst hat und was da weiter passiert ist, möchte ich es ganz kurz beschreiben. An der Stelle lohnt sich auch kurz der Blick auf das Handydisplay, mit etwas Glück kannst du das Bild jetzt dort sehen. Das muss von deinem verwendeten Podcatcher unterstützt werden, ansonsten besuche einfach die Website, da werde ich es auch mit einbetten.

Das Bild ist im Panoramaformat – das war für die damalige Zeit ungewöhnlich groß. Mit über 80 cm Breite wussten Sachkundige sofort, dass dieses Bild aus mehreren Bestandteilen bestehen musste, aber man konnte nicht sehen, aus welchen Bestandteilen.

Es zeigt eine Szene, in der eine Menge los ist. In der Mitte steht ein alter Mann. Er scheint einen Jüngling in die Szene hineinzubegleiten. Den Jüngling sieht man zweimal: einmal zu seiner Linken, einmal zu seiner rechten Seite. Und damit ist die Bildaufteilung auch schon klar. Links im Bild geht der Pogo ab. Diverse Todsünden werden hier bildlich dargestellt und es gibt viel nacktes Fleisch. Rechts geht es wesentlich gesitteter zu; da geht es um die Pflege von Kranken und Gebrechlichen, um die Wissenschaften und damit ist es auch klar, was das Bild darstellt, nämlich die Wahl, die der Jüngling hat, nämlich ein Leben in Tugend oder eines in Laster zu führen. Von oben hängen Theatervorhänge ins Bild. Der Mann mit dem Jüngling hat hinter sich eine Art undurchdringliches Waldstück und die zwei Optionen, das Leben zu führen, scheinen in der Stadt innerhalb von Architektur stattzufinden.

Das Bild strotzt nur so vor Symbolik. Allegorie war ein Riesending bei den Malern der damaligen Zeit und natürlich durfte das in einem Foto, das versuchen wollte, mit Kunst zu konkurrieren, auch nicht fehlen.

Oscar Gustave Rejlander stellt dieses Bild aus und begeistert und entsetzt seine Zeitgenossen. Begeistert deswegen, weil er etwas geschafft hatte, was für unmöglich gehalten worden war. Er hatte Monate an diesem Bild gearbeitet. Über 32 Negative wurden für dieses Bild zusammenmontiert und trotzdem sah es wie eine einzige Aufnahme aus. Dass es das nicht sein konnte, war sehr offensichtlich, wenn man den Jüngling sah, denn der tauchte ja zweimal auf dem Bild auf.

Allein den Druck zu fertigen, kostete mehrere Tage Arbeit, denn die einzelnen Bestandteile mussten zunächst vergrößert, dann zusammenmontiert und dann als ein großes Bild ausbelichtet werden. Rejlander fertigte jeden Druck neu an, das heißt, jedes Exemplar sah ein bisschen anders aus. In manchen war er selbst der alte Mann in der Mitte des Gemäldes, in anderen war es ein Schauspieler. Die Figuren variieren, es sind unterschiedliche Models, die Szenen, die Positionen.. Im Netz fand ich mindestens drei verschiedene Varianten und es macht schon Spaß, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Diese Montage zu sehen war also beeindruckend. Es gibt ja den Satz „Kunst kommt von Können“ und Können war einer der Aspekte, den man Fotografinnen und Fotografen damals abgesprochen hat. Schließlich hielten sie fest, was die Natur ihnen bot und danach war es doch „nur“ Technik. Rejlander nun schaffte etwas, was nicht nur für unmöglich gehalten worden war, sondern von dem die Zeitgenossen erstmal nicht wussten, wie sie es nachmachen können. Dann war das Bild zum Bersten gefüllt mit Symbolik, das griff das zweite Argument an. Kunst entstünde nämlich zunächst im Kopf des Künstlers oder der Künstlerin. Sie muss Aussage haben. Ideen vermitteln. Gelesen werden können. Etwas vorher nicht dagewesenes, neu geschaffenes zeigen. All diese Aspekte waren in diesem Bild sehr offensichtlich vorhanden und trotzdem sah es wie eine Fotografie aus.

Dieser vorhin schon erwähnte schockierende Detailreichtum kam natürlich besonders auf der Hälfte des Bildes zum Tragen, wo es um die Sünden und Laster ging. Und da sind wir beim Skandal. Zwar hatte man in der viktorianischen Zeit kein Problem mit Nacktheit, Gemälde konnten gerne Frauen barbusig in allen möglichen Posen auch mal lüstern darstellen, aber die dann, sozusagen, „in the flash“ zu sehen und zu wissen, dass der Fotograf die im Studio gehabt hatte, produzierte einen unerhörten Skandal. Dazu kam noch, dass alle, die dieses Bild sahen, bewusst war, dass keine Frau von Tugend sich freiwillig vor einer Kamera nackt ausziehen würde. Die Frauen im Gemälde waren also ganz offensichtlich prostituierte.

Es ging also hoch her. In den Fotoclubs, in den Kunstzirkeln der damaligen Zeit wurde heiß diskutiert und viele waren sich einig, dass Oscar Rejlander eigentlich fast schon zur Persona non grata erklärt werden müsste. Nur eine Person sah das damals spontan anders, eine Person, die von Anfang an begeisterte Fotografin war und deren Urteil nicht ignoriert werden konnte: Queen Victoria.

Sie hatte schon ab der Einführung der Daguerreotypie Interesse an der Fotografie gehabt und galt als eine erfahrene Hobbyfotografin. Sie und ihr Ehemann hatten beide eine ausgebaute Dunkelkammer, beschäftigten mehrere Fotografen als Hoffotografen und gingen dem Hobby in ihrer Freizeit auch selbst mit Begeisterung nach. Außerdem traten sie als Mäzene auf und kauften Werke, die sie bemerkenswert fanden und genau das passierte mit Rejlanders schockierenden „Two Ways of Life“. Queen Victoria erfuhr davon, sah es, war begeistert und beschloss, einen Druck dieses Werkes für ihren Mann zu kaufen, als Geburtstagsgeschenk. Der war so begeistert davon, dass er es in seine private study aufhing, wo es bis zu seinem Tod blieb. Und ja, was gut genug für Queen Victoria ist, kann natürlich für alle anderen Fotografierenden nicht schlecht sein. Sie hatte sich freilich nicht dazu geäußert, ob das Werk denn jetzt Kunst wäre oder nicht, aber „Schund“ konnte es natürlich jetzt auch nicht mehr sein.

Spannend finde ich, dass die Fragen, die damals mit so viel Hitze diskutiert und debattiert wurden, dieselben Fragen sind, die wir heute immer noch finden. Ich meine, Rejlander brauchte immerhin mehrere Tage, oder im Falle von „The Two Ways of Life“ mehrere Wochen und trotzdem fragten sich Leute, ob etwas Kunst sein konnte, was eigentlich nur einen Moment festhält. Damals wie heute gibt es diese Liebe zum Vergangenen.

Rejlander markiert den Anfang einer Periode, die in der Fotografiegeschichte Pictorialism genannt wird, einen Trend, in dem versucht wurde, Bilder zu schaffen, die möglichst wie gemaltes aussehen oder wenigstens die Themen von Gemälden nachahmen sollten. Im einfachsten Fall waren das inszenierte Fotografien wie „The Two Ways of Life“, aber später dann wurden ausgefeilte Techniken angewandt, um die Drucke wirklich aussehen zu lassen, als wären sie Kohlezeichnungen. Da wurde auf dem Material herumgekratzt, es wurde Sepia eingefärbt, es wurden Stellen gezielt scharf oder unscharf gemacht, um den Eindruck von Pinselstrichen zu vermitteln und das Medium versuchte, nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft zu schauen. Und sei es, indem man einfach so abstrakt wurde, dass man nicht mehr genau wusste, was das Bild zeigt.

Und was machen wir heute? Im einfachsten Fall versuchen wir, nostalgisch so auszusehen wie die Fotografien der letzten 30 Jahre, indem wir Korn reindrehen und Filmsimulation einschalten. Andere wiederum nehmen die Mittel der Software zu Hilfe und lassen komplette Gemäldesimulationen fertigen. Da wird die Fotografie zum Ölgemälde, das Fotoobjekt zum stilisierten Pinselstrich. Oder wir nehmen Photoshop und montieren wie die Wilden.

Und zeitgleich entdecken in jeder Generation Fotografinnen und Fotografen die Leute wieder aufs Neue, dass es einen Streit darum gibt, ob das, was sie da machen nun Kunst oder Handwerk ist. Wurde die Linie damals zwischen Malerei und Fotografie gezogen, zieht man sie heute zwischen Digital Artist und Content Creator. Ich glaube, Oscar Rejlander wäre stolz auf uns.

„The Two Ways of Life“ war sein beeindruckendstes und in Rückschau sicherlich berühmtestes Bild, aber das kommerziell erfolgreichste war es nicht. Dafür war es einfach zu aufwendig und irgendwann stellte er auch die Produktion von Drucken für dieses Bild ein. Immer mehrere Tage in der Dunkelkammer herumzumontieren war dann einfach nicht mehr wirklich praktikabel.

Außerdem war er zu neuen Ufern aufgebrochen. Der berühmte Forscher Charles Darwin hatte sich bei ihm gemeldet. Charles Darwin untersuchte zu der Zeit die Emotionen von Tieren und Menschen. Es kam ihm darauf an zu dokumentieren, wie wir uns ausdrücken. Welche Gesten und Grimassen ziehen wir je nach Befindlichkeit, das wollte er festhalten. Und dafür brauchte er einen Fotografen, der in der Lage war, die verschiedensten Mimiken einzufangen. Er gab Rejlander praktisch eine Shotlist vor: wütend, traurig, fröhlich, und so weiter.

Emotionen hatten auch andere berühmte Zeitgenossen damals schon einzufangen versucht, aber mit dem Kollodiumnassplattenverfahren mit mehreren Sekunden Belichtungszeit war das natürlich schwer, besonders, wenn man das einigermaßen spontan aussehen lassen wollte. Und Rejlander galt als jemand, der unvergleichlich gut darin war, genau diese spontanen Eindrücke festzuhalten. Nicht, weil die Bilder so spontan gewesen waren, sondern, weil er anscheinend wirklich gut darin war, mit seinen Models zu arbeiten. Er war bekannt als jemand, der lustig und charmant sein konnte und viele seiner Aufnahmen drücken einen für die Aufnahmen damaliger Zeit ungewöhnlichen Humor aus. Es gibt Bilder, wo er mit seiner Frau Mary ganz offensichtlich herumalbert und er war bekannt dafür, dass er Kinder natürlich posieren und fotografieren konnte, gut gelaunt. Das ist ja gerade bei kleinen Kindern nicht unbedingt leicht, insbesondere dann nicht, wenn man ihnen beibringen muss, dass sie dann auch noch mehrere Sekunden in einer bestimmten Position verharren müssen. Die Fotografien von Julia Margaret Cameron zeigen ja auch oft Kinder und die meisten Bilder, die ich bisher so gesehen habe, zeigen ziemlich genervte Kinder. Ich versuche, mir dann immer auszumalen, wie wohl diese Fotosessions abliefen.

Jedenfalls galt Rejlander als jemand, der das wie kein anderer beherrschte. Und trotzdem muss er geschluckt habe, als er in der Shotlist, die ihm Darwin überreichte, unter anderem ein weinendes Kleinkind fand. Er sollte ein Kleinkind fotografieren, das die Welt gerade geschmeidig zum Kotzen findet. Und die haben jetzt nicht unbedingt gerade Verständnis dafür, wenn sie sich ruhig halten sollen. Überhaupt vielleicht noch bei schmerzverzerrt aufgerissenem Mund.

Und das ist dann auch tatsächlich das berühmteste Bild, das Rejlander in seiner Karriere produziert hat. Es zeigt ein sitzendes, inbrünstig heulendes Kleinkind. Und nach einem zu der Zeit populären satirischen Roman heißt es „Ginx’s Baby“. Und es kombiniert alles, was Rejlander zu der Zeit an Fähigkeiten angesammelt hatte. Wie er das Baby zum Weinen gebracht hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass er zu einer ganzen Reihe Tricks griff, um diese Aufnahme überhaupt möglich zu machen. Und dass er dann in der Dunkelkammer seine malerischen Fähigkeiten herauskramte, um die doch sehr unzureichende Vergrößerung dieses weinenden Babys zu einer glaubwürdigen, großen Aufnahme zu machen. Wieder hatte er ein Bild gemacht, von dem die damaligen Kollegen dachten, es wäre so eigentlich nicht möglich und Charles Darwin hatte seine vollständige Palette an Mimikfotos, die für sich übrigens auch schon sehenswert sind, zeigen sie doch Rejlander und seine Frau Mary in den unterschiedlichsten Grimassen, von Lachen über ärgerlich bis verzweifelt bis wütend, alles dabei.

Während seiner 24 Jahre dauernden Karriere als Fotograf schreibt Rejlander diverse Texte, unter anderem verteidigt er eben die Fotografie und ihren Anspruch als „fine art“. Er gilt als der Vater der künstlerischen Fotografie, nicht nur, weil er als einer der ersten Aufnahmen inszenierte, die opulent waren, die originell waren, die allegorisch waren, die Gedanken transportierten, die er zunächst in seinem Kopf und seinen Skizzenbüchern formierte, bevor er sie als Fotograf festhielt, sondern auch, weil er weiterdachte und die verschiedenen Medien, die er kannte auf bis dahin ungewöhnliche Art und Weise kombinierte.

Er ist einer der ganz frühen Piktorialisten und berühmte Namen wie Julia Margaret Cameron oder Lewis Carroll sind so unzweifelhaft von ihm beeinflusst, dass bis heute Aufnahmen mit seinen verwechselt werden. Und trotz all des Wirbels war es auch damals schon schwierig, als Fotograf kommerziell erfolgreich zu sein. Einerseits verkauft Rejlander ja einen Druck an Queen Victoria und produziert mehrere Aufnahmen, die zu seinen Lebzeiten berühmt wurden, aber reich wird er damit nicht.

Als er 1875 im Alter von 62 Jahren stirbt, übernimmt seine Witwe Schulden und einen Laden, der nicht läuft. Der Fotoclub, in dem Rejlander hauptsächlich Mitglied war, die Royal Photographic Society of London fühlt sich seiner Witwe und seinem Nachlass verpflichtet und kauft einige seiner Negative. Damit gehen viele seiner Werke auch verloren oder in verschiedenen Sammlungen auf und obwohl kaum ein Fotograf so einflussreich in dieser Zeit gewesen sein dürfte wie er, verschwindet er zunächst in der Bedeutungslosigkeit. Und bis heute ist es so, dass bei seinem Namen die Leute zunächst auf Julia Margaret Cameron oder Lewis Carroll stoßen. Und das, obwohl Julia Margaret Cameron wahrscheinlich ihre Dunkelkammerfähigkeiten zum Teil mit Negativen von Rejlander geübt und gelernt hat und Lewis Carroll seinen Bildstil von seinen Bildern abgeleitet hat.

Was ist Kunst, was nicht, ab wann ist es Kunst, wann nicht, kommt Kunst von Können, kommt Kunst von Absicht, kommt Kunst vom Zufall, ist man Künstler, weil man sich so nennt, oder weil andere die Werke bereit sind, zu kaufen, welche Rolle spielt das Nachahmen von vorangegangenen? Bei der Produktion von diesem Podcast entdecke ich immer wieder aufs neue, dass wir seit Anbeginn der Fotografie dieselben Fragen diskutieren und eigentlich immer wieder bei denselben Positionen ankommen.

Rejlander jedenfalls war ein ungewöhnlich kreativer Kopf. Er war ein sehr humorvoller Mensch und er hat Dinge geschaffen, die bis heute nachwirken, ohne, dass sein Name den Ruhm erreicht hätte, den er eigentlich verdient hätte. Wir werden ihm noch öfter begegnen. Wir werden noch über Julia Margaret Cameron und über Lewis Carroll, über Clementina Hawarden oder über Queen Victoria sprechen, oder über John Herschel. Und bei keinem dieser Namen können wir es lassen, auch mal kurz über Oscar Gustave Rejlander zu sprechen.

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Viele der ersten Fotografinnen und Fotografen waren entweder Wissenschaftler oder Künstler und so gehört der Streit ob Fotografie nun dokumentierende Technik oder Kunst ist von Anfang an zu dem Medium. Der erste Fotograf der diese Frage zum ersten Mal und mit Überzeugung mit „Kunst!“ beantwortet ist heute kaum noch bekannt, darf aber ohne zu übertreiben als Vater der künstlerischen Fotografie bezeichnet werden…

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Kunst und Können

Die 1850er Jahre in England sind für die Fotografie eine unglaublich wichtige Zeit. Es formen sich die ersten Kameraclubs, Amateurvereine, in denen Bilder besprochen werden. Und es tobt ein Streit.

Es tauchen nämlich die ersten Fotografinnen und Fotografen auf, die sagen, Fotografie ist Kunst. Und das geht ja gar nicht, widersprechen vor allem die Maler. Denn erstens braucht es ja wohl kein Können, um einen Automaten dazu zu bringen, eine Szene festzuhalten, die dann zweitens ja schon existiert, also nicht ausgedacht wurde und drittens so gar nicht idealisiert.

Überhaupt dieser letzte Aspekt, diese gnadenlose Darstellung der wahren Welt, das können wir uns heute überhaupt gar nicht mehr ausmalen, was für ein Paradigmenwechsel das war. Besonders die Malerei, die man in der viktorianischen Zeit gewohnt war, war sehr idealisierend. Es wurden keine Fehler im Gemälde geduldet, außer, sie waren absichtlich oder Zeichen mangelndem Könnens. Eine Fotografie bildet aber die Wirklichkeit ab und besonders die ersten Fotografinnen und Fotografen waren ja oft von akademischem und wissenschaftlichem Hintergrund und fotografierten damit auch möglichst naturgetreu.

Es ist die Zeit des Kollodium-Nassplatten-Verfahrens. Und damit waren die Bilder auch tatsächlich relativ scharf und detailreich. Für die Malerinnen und Maler der damaligen Zeit wirkten die Fotografien geradezu ordinär. Sie waren beeindruckend im Ergebnis und sehr nützlich, aber im Grunde eine Art Skizzenmaschine. Die Fotografie hatte also ein gewisses Imageproblem.

Und da half es auch nicht, dass die ersten Fotografien auftauchten, die klassische Gemäldeszenen nachahmten. Menschen, die in opulenten Gewändern vor Wandteppichen posierten und in denen jedes Utensil im Bild eine Bedeutung trug, das fanden viele nicht überzeugend. Das wirkte nachgemacht. Fotos, die versuchten, wie Gemälde auszusehen. Pah! Und überhaupt, Fotografien starten ja mit der existierenden Szene und man kann ja nur Dinge weglassen, während ein Maler oder eine Malerin sich eine Szene vorstellen und dann Schicht für Schicht Dinge hinzufügen kann, bis das Gemälde fertig ist. Das war eins der damals sehr weit verbreiteten Killerargumente bei der Frage ‚ist Fotografie Kunst?‘.

Und das ist das Argument, das Oscar Gustave Rejlander hört, als er einem Freund eine seiner ersten Fotografien zeigt. Rejlander kam 1813 als Sohn eines schwedischen Steinmetzes auf die Welt. Er studiert Kunst in Rom und wandert dann später nach England ein. Als mit der Daguerreotypie das erste kommerziell erfolgreiche fotografische Verfahren die Bühne betritt, ist Rejlander immerhin schon 26 Jahre alt und ausgebildeter Maler.

Nicht zuletzt, weil die Daguerreotypie in Großbritannien Lizenzgebühren kostet, geht hier die Entwicklung einen völlig anderen Weg. Hier wird dann auch das Kollodium-Nassplatten-Verfahren entwickelt, das erste Verfahren, das wirklich frei verfügbar war und bei dem man auf Glasplatten Negative erzeugt, die dann beliebig oft in Drucke umgewandelt werden können.

Rejlander ist fasziniert von der Technik und lässt sie sich von einem damals schon etablierten Fotografen zeigen. Was andere sich in mehreren Wochen Praxis zeigen lassen, lässt er sich in ungefähr 3 Stunden erklären. Er wird später aufschreiben, dass er wünschte, er hätte etwas mehr Energie und Zeit verwendet, das Verfahren wirklich von Grund auf zu lernen. So ist er später gezwungen, seine eigenen Verfahren, Tricks und Kniffe zu lernen, das ist natürlich vielleicht auch der Grund, warum er dann so erfolgreich sein wird, andererseits hat das ihm auch den Ruf eingebracht, nicht immer die Beste der möglichen Qualitätsstufen zu erreichen.

Anfangs sieht Rejlander die Malerei nach wie vor als die überlegene Kunstform. Er ist Portraitmaler, er macht Portraitminiaturen. Und er nutzt die Fotografie, um Skizzen zu fertigen oder Posen und Faltenwurf und Gesichter zu studieren. Besagter Freund bekommt also eine seiner ersten Fotografien zu Gesicht, eine Fotografie, die zwei Personen zeigt. Und als die beiden Männer sich so über das Bild beugen und sich darüber unterhalten, meint er abfällig, dass hier ganz offensichtlich deutlich wird, was der große Unterschied zwischen Malerei und Fotografie wäre. Denn das Bild wäre unperfekt. Zwar zeigt es zwei Personen und die in jedem nur erdenklich möglichem Detailgrad, aber als Maler hätte man für eine ausgewogene Bildkomposition eigentlich noch eine Person in die Mitte gepackt. Und die Fotografie wäre ja jetzt schon fertig. Man könne also nur eine völlig neue Fotografie erzeugen, aber nicht nachträglich eine Person einbauen.

Rejlander ist elektrisiert. Er hat eine Idee. Wenige Tage später verabredet er sich mit demselben Freund und bringt ein Bild mit. Der wirft einen Blick darauf und traut seinen Augen nicht. Rejlander hatte ihm bewiesen, was er für unmöglich gehalten hatte: Es war unzweifelhaft dasselbe Bild, das er wenige Tage vorher gesehen hatte, aber jetzt mit einer dritten Person zwischen den zwei anderen. „Es geht eben doch“, sagt Oscar triumphierend. „Auch Fotografen können Bilder im Kopf entstehen lassen.“ Und auch Fotografen steht völlig frei, wie sie die Technik benutzen, um das fertige Bild zu erzeugen.

Das Medium der Fotografie ist noch ganz jung. Viele Fotografierende versuchen, herauszufinden, in welche Richtung sich alles entwickeln könnte. Und allerorten wird festgelegt, wie denn Dinge zu geschehen haben. Was ist denn gute Fotografie, was ist schlechte? Welche Techniken funktionieren? Es formt sich, aber damals wie heute klingt das natürlich dann von den Leuten, die ihre Ideen verbreiten, so, als wäre es Gesetz. Und Oscar Rejlander war diesen Einflüssen noch nicht ausreichend lange ausgesetzt, sodass ihm das wahrscheinlich im Wesentlichen egal war. Er blickt völlig frei auf das Medium und fragt sich, was er damit anfangen kann.

Und da lohnt es sich auch, ganz kurz darüber nachzudenken, wie Kollodium-Nassplatten-Verfahren funktionieren. Man braucht dazu natürlich zunächst mal eine Kamera, und zwar eine Kamera, die mindestens so groß ist, dass sie das Bild in der gewünschten Zielgröße aufnehmen kann. Stellen wir uns also eine Kiste vor, die hinten ein A4-großes Blatt Papier enthalten kann. Vorne ist ein Objektiv und den ganzen Kasten kann man wie eine Ziehharmonika auseinander- und wieder zusammenschieben. Das ist notwendig, um die Schärfeebene zu kontrollieren, also auf die richtige Stelle im Bild scharfschalten zu können.

Beim Kollodium-Nassplatten-Verfahren legt man allerdings hinten kein Papier ein, sondern man legt eine Glasscheibe ein. Die wird in einer Dunkelkammer zuerst mit Kollodium beschichtet und dann mit einer Silbernitratlösung lichtempfindlich gemacht. Die dann noch feuchte Glasscheibe muss dann in eine Kamera eingelegt werden und wird dann nach erfolgter Belichtung noch feucht fertigentwickelt.

Was man bekommt, ist ein Negativ, auf der Glasplatte ist also ein Bild, in dem alle hellen Teile der Szene schwarz dargestellt werden und alle dunklen Teile der Szene weiß. Weiß auf Glas heißt: An den dunklen Stellen der Szene ist das Negativ durchsichtig. Und das war die erste Idee, die Rejlander dazu brachte, Bildbestandteile miteinander zu kombinieren. Ihm ging nämlich auf, dass an diesen durchsichtigen Stellen natürlich Nahtstellen sind, die man später beim Druck nicht mehr sehen würde.

Der Druck ist nämlich der nächste Arbeitsschritt. Um aus dem Negativ ein Positiv, also ein fertiges Bild zu machen, nimmt man jetzt die Glasplatte, spannt sie mit einem lichtempfindlichen Papier zusammen und setzt beides der Sonne aus. Danach wird das Bild gewaschen und fixiert und fertig ist das Positivbild. Denn alle die Stellen, die im Negativ die Sonne blockieren, sind auf dem fertigen Bild ja dann weiß und alle die Stellen, die die Sonne durchlassen, werden schwarz. Je länger man das Bild in der Sonne lässt, desto dunkler eben.

Im ersten Schritt kommt also Rejlander auf die Idee, die verschiedenen Bildbestandteile einzeln voneinander aufzunehmen, dafür zu sorgen, dass sie von möglichst dunklen Szenenelementen umgeben sind und die dann für den Druck gezielt zusammenzumontieren.

Aber das war nur der Anfang. Er beginnt, mit Vergrößerungen zu experimentieren, also, salopp formuliert, positive nochmal abfotografieren, nur mit entsprechender Vergrößerung. Er deckt Teile der Negative gezielt ab, malt andere rein, spielt mit den verschiedensten Dunkelkammertechniken und montiert die Bilder zusammen, zum Teil mit sehr verblüffenden Ergebnissen.

Immer mit dabei und als Technikerin wahrscheinlich seine wichtigste Mitarbeiterin ist seine Frau Mary. Schon als er noch Maler war, nahm sie ihm eine Menge administrative Aufgaben ab. Jetzt als Fotograf ist sie seine Assistentin in der Dunkelkammer, sein häufigstes Fotomodell, Kundenbetreuerin und Geschäftsführerin im Hintergrund.

Längst nicht alle seine Fotografien sind Montagen, tatsächlich ist der hauptsächliche Kundenstamm ganz klassisch an Portraits interessiert. Rejlander hat außerdem ein persönliches Interesse an inszenierten Kinderportraits. Das ist ein Genre, das besonders im viktorianischen Zeitalter blüht und gedeiht. Kinder werden in allen möglichen Posen dargestellt und abfotografiert, oft in Gegenwart der Eltern. Und das ist auch der Grund, warum gerade aus der Zeit sehr viele Kinderportraits gerade auch von den großen Fotografinnen und Fotografen erhalten sind. Namen wie Julia Margaret Cameron sind untrennbar mit mal mehr, mal weniger inszenierten Kinder- und Säuglingsportraits verbunden.

Der Mathematiker, Schriftsteller und Fotograf Lewis Carroll (ja, der Lewis Carroll, der Alice im Wunderland geschrieben hat) freundet sich mit Rejlander an und fängt an, seine Kinderportraits zu sammeln. Später wird Lewis Carroll selber Kinderportraits machen und der Stil Rejlanders kommt so stark durch, dass es später manchmal nicht ganz klar sein wird, ob ein noch erhaltenes Bild eigentlich von Lewis Carroll oder von Oscar gemacht worden war. Und auch Julia Margaret Cameron wird mit ganz eindeutig von Oscar Rejlander inspirierten Gemälden berühmt. Sie verkehren in denselben Kreisen, sie kennen dieselben Leute, sie haben zum Teil dieselben Freunde und fotografieren dieselben Berühmtheiten ihrer Zeit.

Aber auch, wenn Oscar Rejlander hauptsächlich Portraits macht, haben manche Portraits Eigenschaften, die es zu der Zeit eigentlich gar nicht geben dürfte. So erregt zum Beispiel das Bild „The Juggler“; der Jongleur, Aufsehen, weil dort ein Jongleur zu sehen ist mit Bällen in der Luft. Und das könnte natürlich nur eine optische Illusion sein, denn mit mehreren Sekunden Belichtungszeit lassen sich Bälle in Bewegung nun mal nicht einfangen, aber das Bild sieht täuschend echt aus.

Zu der Zeit traut man Rejlander allerdings inzwischen schon fast alles zu. Heute nennt man Rejlander den Vater der künstlerischen und inszenierten Fotografie. Und der Grund dafür ist ein Bild, das er 1857 macht, das den Titel „The Two Ways of Life“ trägt. Wenn man dieses Bild zum ersten Mal sieht, kommt es einem wie ein barockes Gemälde vor. Es ist inspiriert, im Aufbau zumindest, von einigen berühmten Malereien, die der junge Rejlander, als er in Rom Malerei studiert hat, wahrscheinlich im Original gesehen hat.

Und bevor ich jetzt erkläre, warum dieses Bild eine kontroverse und einen Skandal ausgelöst hat und was da weiter passiert ist, möchte ich es ganz kurz beschreiben. An der Stelle lohnt sich auch kurz der Blick auf das Handydisplay, mit etwas Glück kannst du das Bild jetzt dort sehen. Das muss von deinem verwendeten Podcatcher unterstützt werden, ansonsten besuche einfach die Website, da werde ich es auch mit einbetten.

Das Bild ist im Panoramaformat – das war für die damalige Zeit ungewöhnlich groß. Mit über 80 cm Breite wussten Sachkundige sofort, dass dieses Bild aus mehreren Bestandteilen bestehen musste, aber man konnte nicht sehen, aus welchen Bestandteilen.

Es zeigt eine Szene, in der eine Menge los ist. In der Mitte steht ein alter Mann. Er scheint einen Jüngling in die Szene hineinzubegleiten. Den Jüngling sieht man zweimal: einmal zu seiner Linken, einmal zu seiner rechten Seite. Und damit ist die Bildaufteilung auch schon klar. Links im Bild geht der Pogo ab. Diverse Todsünden werden hier bildlich dargestellt und es gibt viel nacktes Fleisch. Rechts geht es wesentlich gesitteter zu; da geht es um die Pflege von Kranken und Gebrechlichen, um die Wissenschaften und damit ist es auch klar, was das Bild darstellt, nämlich die Wahl, die der Jüngling hat, nämlich ein Leben in Tugend oder eines in Laster zu führen. Von oben hängen Theatervorhänge ins Bild. Der Mann mit dem Jüngling hat hinter sich eine Art undurchdringliches Waldstück und die zwei Optionen, das Leben zu führen, scheinen in der Stadt innerhalb von Architektur stattzufinden.

Das Bild strotzt nur so vor Symbolik. Allegorie war ein Riesending bei den Malern der damaligen Zeit und natürlich durfte das in einem Foto, das versuchen wollte, mit Kunst zu konkurrieren, auch nicht fehlen.

Oscar Gustave Rejlander stellt dieses Bild aus und begeistert und entsetzt seine Zeitgenossen. Begeistert deswegen, weil er etwas geschafft hatte, was für unmöglich gehalten worden war. Er hatte Monate an diesem Bild gearbeitet. Über 32 Negative wurden für dieses Bild zusammenmontiert und trotzdem sah es wie eine einzige Aufnahme aus. Dass es das nicht sein konnte, war sehr offensichtlich, wenn man den Jüngling sah, denn der tauchte ja zweimal auf dem Bild auf.

Allein den Druck zu fertigen, kostete mehrere Tage Arbeit, denn die einzelnen Bestandteile mussten zunächst vergrößert, dann zusammenmontiert und dann als ein großes Bild ausbelichtet werden. Rejlander fertigte jeden Druck neu an, das heißt, jedes Exemplar sah ein bisschen anders aus. In manchen war er selbst der alte Mann in der Mitte des Gemäldes, in anderen war es ein Schauspieler. Die Figuren variieren, es sind unterschiedliche Models, die Szenen, die Positionen.. Im Netz fand ich mindestens drei verschiedene Varianten und es macht schon Spaß, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Diese Montage zu sehen war also beeindruckend. Es gibt ja den Satz „Kunst kommt von Können“ und Können war einer der Aspekte, den man Fotografinnen und Fotografen damals abgesprochen hat. Schließlich hielten sie fest, was die Natur ihnen bot und danach war es doch „nur“ Technik. Rejlander nun schaffte etwas, was nicht nur für unmöglich gehalten worden war, sondern von dem die Zeitgenossen erstmal nicht wussten, wie sie es nachmachen können. Dann war das Bild zum Bersten gefüllt mit Symbolik, das griff das zweite Argument an. Kunst entstünde nämlich zunächst im Kopf des Künstlers oder der Künstlerin. Sie muss Aussage haben. Ideen vermitteln. Gelesen werden können. Etwas vorher nicht dagewesenes, neu geschaffenes zeigen. All diese Aspekte waren in diesem Bild sehr offensichtlich vorhanden und trotzdem sah es wie eine Fotografie aus.

Dieser vorhin schon erwähnte schockierende Detailreichtum kam natürlich besonders auf der Hälfte des Bildes zum Tragen, wo es um die Sünden und Laster ging. Und da sind wir beim Skandal. Zwar hatte man in der viktorianischen Zeit kein Problem mit Nacktheit, Gemälde konnten gerne Frauen barbusig in allen möglichen Posen auch mal lüstern darstellen, aber die dann, sozusagen, „in the flash“ zu sehen und zu wissen, dass der Fotograf die im Studio gehabt hatte, produzierte einen unerhörten Skandal. Dazu kam noch, dass alle, die dieses Bild sahen, bewusst war, dass keine Frau von Tugend sich freiwillig vor einer Kamera nackt ausziehen würde. Die Frauen im Gemälde waren also ganz offensichtlich prostituierte.

Es ging also hoch her. In den Fotoclubs, in den Kunstzirkeln der damaligen Zeit wurde heiß diskutiert und viele waren sich einig, dass Oscar Rejlander eigentlich fast schon zur Persona non grata erklärt werden müsste. Nur eine Person sah das damals spontan anders, eine Person, die von Anfang an begeisterte Fotografin war und deren Urteil nicht ignoriert werden konnte: Queen Victoria.

Sie hatte schon ab der Einführung der Daguerreotypie Interesse an der Fotografie gehabt und galt als eine erfahrene Hobbyfotografin. Sie und ihr Ehemann hatten beide eine ausgebaute Dunkelkammer, beschäftigten mehrere Fotografen als Hoffotografen und gingen dem Hobby in ihrer Freizeit auch selbst mit Begeisterung nach. Außerdem traten sie als Mäzene auf und kauften Werke, die sie bemerkenswert fanden und genau das passierte mit Rejlanders schockierenden „Two Ways of Life“. Queen Victoria erfuhr davon, sah es, war begeistert und beschloss, einen Druck dieses Werkes für ihren Mann zu kaufen, als Geburtstagsgeschenk. Der war so begeistert davon, dass er es in seine private study aufhing, wo es bis zu seinem Tod blieb. Und ja, was gut genug für Queen Victoria ist, kann natürlich für alle anderen Fotografierenden nicht schlecht sein. Sie hatte sich freilich nicht dazu geäußert, ob das Werk denn jetzt Kunst wäre oder nicht, aber „Schund“ konnte es natürlich jetzt auch nicht mehr sein.

Spannend finde ich, dass die Fragen, die damals mit so viel Hitze diskutiert und debattiert wurden, dieselben Fragen sind, die wir heute immer noch finden. Ich meine, Rejlander brauchte immerhin mehrere Tage, oder im Falle von „The Two Ways of Life“ mehrere Wochen und trotzdem fragten sich Leute, ob etwas Kunst sein konnte, was eigentlich nur einen Moment festhält. Damals wie heute gibt es diese Liebe zum Vergangenen.

Rejlander markiert den Anfang einer Periode, die in der Fotografiegeschichte Pictorialism genannt wird, einen Trend, in dem versucht wurde, Bilder zu schaffen, die möglichst wie gemaltes aussehen oder wenigstens die Themen von Gemälden nachahmen sollten. Im einfachsten Fall waren das inszenierte Fotografien wie „The Two Ways of Life“, aber später dann wurden ausgefeilte Techniken angewandt, um die Drucke wirklich aussehen zu lassen, als wären sie Kohlezeichnungen. Da wurde auf dem Material herumgekratzt, es wurde Sepia eingefärbt, es wurden Stellen gezielt scharf oder unscharf gemacht, um den Eindruck von Pinselstrichen zu vermitteln und das Medium versuchte, nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft zu schauen. Und sei es, indem man einfach so abstrakt wurde, dass man nicht mehr genau wusste, was das Bild zeigt.

Und was machen wir heute? Im einfachsten Fall versuchen wir, nostalgisch so auszusehen wie die Fotografien der letzten 30 Jahre, indem wir Korn reindrehen und Filmsimulation einschalten. Andere wiederum nehmen die Mittel der Software zu Hilfe und lassen komplette Gemäldesimulationen fertigen. Da wird die Fotografie zum Ölgemälde, das Fotoobjekt zum stilisierten Pinselstrich. Oder wir nehmen Photoshop und montieren wie die Wilden.

Und zeitgleich entdecken in jeder Generation Fotografinnen und Fotografen die Leute wieder aufs Neue, dass es einen Streit darum gibt, ob das, was sie da machen nun Kunst oder Handwerk ist. Wurde die Linie damals zwischen Malerei und Fotografie gezogen, zieht man sie heute zwischen Digital Artist und Content Creator. Ich glaube, Oscar Rejlander wäre stolz auf uns.

„The Two Ways of Life“ war sein beeindruckendstes und in Rückschau sicherlich berühmtestes Bild, aber das kommerziell erfolgreichste war es nicht. Dafür war es einfach zu aufwendig und irgendwann stellte er auch die Produktion von Drucken für dieses Bild ein. Immer mehrere Tage in der Dunkelkammer herumzumontieren war dann einfach nicht mehr wirklich praktikabel.

Außerdem war er zu neuen Ufern aufgebrochen. Der berühmte Forscher Charles Darwin hatte sich bei ihm gemeldet. Charles Darwin untersuchte zu der Zeit die Emotionen von Tieren und Menschen. Es kam ihm darauf an zu dokumentieren, wie wir uns ausdrücken. Welche Gesten und Grimassen ziehen wir je nach Befindlichkeit, das wollte er festhalten. Und dafür brauchte er einen Fotografen, der in der Lage war, die verschiedensten Mimiken einzufangen. Er gab Rejlander praktisch eine Shotlist vor: wütend, traurig, fröhlich, und so weiter.

Emotionen hatten auch andere berühmte Zeitgenossen damals schon einzufangen versucht, aber mit dem Kollodiumnassplattenverfahren mit mehreren Sekunden Belichtungszeit war das natürlich schwer, besonders, wenn man das einigermaßen spontan aussehen lassen wollte. Und Rejlander galt als jemand, der unvergleichlich gut darin war, genau diese spontanen Eindrücke festzuhalten. Nicht, weil die Bilder so spontan gewesen waren, sondern, weil er anscheinend wirklich gut darin war, mit seinen Models zu arbeiten. Er war bekannt als jemand, der lustig und charmant sein konnte und viele seiner Aufnahmen drücken einen für die Aufnahmen damaliger Zeit ungewöhnlichen Humor aus. Es gibt Bilder, wo er mit seiner Frau Mary ganz offensichtlich herumalbert und er war bekannt dafür, dass er Kinder natürlich posieren und fotografieren konnte, gut gelaunt. Das ist ja gerade bei kleinen Kindern nicht unbedingt leicht, insbesondere dann nicht, wenn man ihnen beibringen muss, dass sie dann auch noch mehrere Sekunden in einer bestimmten Position verharren müssen. Die Fotografien von Julia Margaret Cameron zeigen ja auch oft Kinder und die meisten Bilder, die ich bisher so gesehen habe, zeigen ziemlich genervte Kinder. Ich versuche, mir dann immer auszumalen, wie wohl diese Fotosessions abliefen.

Jedenfalls galt Rejlander als jemand, der das wie kein anderer beherrschte. Und trotzdem muss er geschluckt habe, als er in der Shotlist, die ihm Darwin überreichte, unter anderem ein weinendes Kleinkind fand. Er sollte ein Kleinkind fotografieren, das die Welt gerade geschmeidig zum Kotzen findet. Und die haben jetzt nicht unbedingt gerade Verständnis dafür, wenn sie sich ruhig halten sollen. Überhaupt vielleicht noch bei schmerzverzerrt aufgerissenem Mund.

Und das ist dann auch tatsächlich das berühmteste Bild, das Rejlander in seiner Karriere produziert hat. Es zeigt ein sitzendes, inbrünstig heulendes Kleinkind. Und nach einem zu der Zeit populären satirischen Roman heißt es „Ginx’s Baby“. Und es kombiniert alles, was Rejlander zu der Zeit an Fähigkeiten angesammelt hatte. Wie er das Baby zum Weinen gebracht hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass er zu einer ganzen Reihe Tricks griff, um diese Aufnahme überhaupt möglich zu machen. Und dass er dann in der Dunkelkammer seine malerischen Fähigkeiten herauskramte, um die doch sehr unzureichende Vergrößerung dieses weinenden Babys zu einer glaubwürdigen, großen Aufnahme zu machen. Wieder hatte er ein Bild gemacht, von dem die damaligen Kollegen dachten, es wäre so eigentlich nicht möglich und Charles Darwin hatte seine vollständige Palette an Mimikfotos, die für sich übrigens auch schon sehenswert sind, zeigen sie doch Rejlander und seine Frau Mary in den unterschiedlichsten Grimassen, von Lachen über ärgerlich bis verzweifelt bis wütend, alles dabei.

Während seiner 24 Jahre dauernden Karriere als Fotograf schreibt Rejlander diverse Texte, unter anderem verteidigt er eben die Fotografie und ihren Anspruch als „fine art“. Er gilt als der Vater der künstlerischen Fotografie, nicht nur, weil er als einer der ersten Aufnahmen inszenierte, die opulent waren, die originell waren, die allegorisch waren, die Gedanken transportierten, die er zunächst in seinem Kopf und seinen Skizzenbüchern formierte, bevor er sie als Fotograf festhielt, sondern auch, weil er weiterdachte und die verschiedenen Medien, die er kannte auf bis dahin ungewöhnliche Art und Weise kombinierte.

Er ist einer der ganz frühen Piktorialisten und berühmte Namen wie Julia Margaret Cameron oder Lewis Carroll sind so unzweifelhaft von ihm beeinflusst, dass bis heute Aufnahmen mit seinen verwechselt werden. Und trotz all des Wirbels war es auch damals schon schwierig, als Fotograf kommerziell erfolgreich zu sein. Einerseits verkauft Rejlander ja einen Druck an Queen Victoria und produziert mehrere Aufnahmen, die zu seinen Lebzeiten berühmt wurden, aber reich wird er damit nicht.

Als er 1875 im Alter von 62 Jahren stirbt, übernimmt seine Witwe Schulden und einen Laden, der nicht läuft. Der Fotoclub, in dem Rejlander hauptsächlich Mitglied war, die Royal Photographic Society of London fühlt sich seiner Witwe und seinem Nachlass verpflichtet und kauft einige seiner Negative. Damit gehen viele seiner Werke auch verloren oder in verschiedenen Sammlungen auf und obwohl kaum ein Fotograf so einflussreich in dieser Zeit gewesen sein dürfte wie er, verschwindet er zunächst in der Bedeutungslosigkeit. Und bis heute ist es so, dass bei seinem Namen die Leute zunächst auf Julia Margaret Cameron oder Lewis Carroll stoßen. Und das, obwohl Julia Margaret Cameron wahrscheinlich ihre Dunkelkammerfähigkeiten zum Teil mit Negativen von Rejlander geübt und gelernt hat und Lewis Carroll seinen Bildstil von seinen Bildern abgeleitet hat.

Was ist Kunst, was nicht, ab wann ist es Kunst, wann nicht, kommt Kunst von Können, kommt Kunst von Absicht, kommt Kunst vom Zufall, ist man Künstler, weil man sich so nennt, oder weil andere die Werke bereit sind, zu kaufen, welche Rolle spielt das Nachahmen von vorangegangenen? Bei der Produktion von diesem Podcast entdecke ich immer wieder aufs neue, dass wir seit Anbeginn der Fotografie dieselben Fragen diskutieren und eigentlich immer wieder bei denselben Positionen ankommen.

Rejlander jedenfalls war ein ungewöhnlich kreativer Kopf. Er war ein sehr humorvoller Mensch und er hat Dinge geschaffen, die bis heute nachwirken, ohne, dass sein Name den Ruhm erreicht hätte, den er eigentlich verdient hätte. Wir werden ihm noch öfter begegnen. Wir werden noch über Julia Margaret Cameron und über Lewis Carroll, über Clementina Hawarden oder über Queen Victoria sprechen, oder über John Herschel. Und bei keinem dieser Namen können wir es lassen, auch mal kurz über Oscar Gustave Rejlander zu sprechen.

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